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„Wo warst du?“, rief Liz und stürmte auf mich zu.
Überrascht stolperte ich ein paar Schritte rückwärts. „Im Wald, mir geht es gut.“
Sie löste sich von mir und musterte mich skeptisch. „Sag das nächste Mal bitte Bescheid, okay?“
Liam stellte sich neben sie. „Wir haben uns echt Sorgen gemacht.“
Ich seufzte und hob beide Hände. „Ja, ich melde mich das nächste Mal schriftlich ab.“
Seine Augen verdüsterten sich. „Die Lage ist ernst, Nell.“
Ich fuhr zu ihm herum. „Das weiß ich, Liam. Es sind übrigens immer noch meine Eltern, die verschwunden sind. Aber trotzdem brauche ich keinen Babysitter, und schon gar nicht zwei.“ Einen Moment lang schien er eine bissige Antwort geben zu wollen, dann schnaubte er nur und wandte sich ab.
Liz kaute misstrauisch auf ihrer Unterlippe herum. „Zwischen euch, da ist doch was“, fing sie an.
Ich senkte den Blick. „Alles wie immer.“
„Nell, ich kenne dich besser als du dich selbst. Was ist passiert, als ihr beide allein in deinem Zimmer wart?“ Sie sah mich eindringlich an.
Ich fluchte innerlich und hätte am liebsten einen Baum ausgerissen, so viel überschüssige Energie hatte ich. „Das ist doch egal, Liz. Hör bitte auf, danach zu fragen. Und bitte … bitte fühl dich nicht immer so verantwortlich für mich. Ich komme auch allein klar.“
Liz zuckte leicht zusammen und sah mich ungläubig an. „Nell …“
„Nein, nicht Nell“, ich schloss einen Moment die Augen. Wie sehr ich diese Situationen hasste, in denen man kurz davor war, etwas zu verraten, und man wusste, dass die Welt danach nicht besser aussehen würde.
„Ich habe Liam geküsst. Aber es war nicht mit Absicht. Es ist einfach so passiert. Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass zwischen ihm und mir mehr ist, als zwischen dir und mir. Wir sind und bleiben beste Freundinnen und –“
Liz sog scharf die Luft ein. Jetzt war ich es, die zusammenzuckte. Das war eigentlich nur die halbe Wahrheit, denn Liam hatte mich geküsst, nicht andersrum. Aber ich wollte ihn schützen und um jeden Preis verhindern, dass Liz auf ihn sauer war.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Warum? Warum küsst du meinen Bruder?“ Jedes einzelne ihrer Worte ließ mich schaudern.
„Du hast mir versprochen – an dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben –, da hast du mir versprochen, dass du ihn niemals mehr lieben wirst als mich.“ Ihre Stimme klang heiser und brüchig.
Ich streckte eine Hand nach ihrer aus, doch sie zog den Arm zurück.
„Aber das tue ich doch immer noch nicht. Ich liebe deinen Bruder nicht mehr als dich. Ihr seid beide immer wie Geschwister für mich gewesen. Es war ein Ausrutscher. Ich war so von Gefühlen überrumpelt … und Liam war in dem Moment zufällig da“, versuchte ich sie zu überzeugen.
Liz schnaubte, was für mich wie ein Messerstich in den Bauch war. Und dann ging sie, ohne ein weiteres Wort, mit langen Schritten über den Vorplatz davon. Ich sah ihr nach und fühlte mich auf einmal so hilflos und allein gelassen wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Mom war fort. Dad war fort. Ozea war fort. Peroll war fort.
Und jetzt auch noch Liam und Liz.
Mit unsicheren Schritten ging ich zurück in mein Zimmer und ignorierte die Wächter, die mich zu beruhigen versuchten. Irgendwann kam Taylor in mein Zimmer. Ich wusste nicht mehr, wie spät es war, auf jeden Fall war längst die Sonne untergegangen. Sie stellte mir eine Tasse Tee auf den Nachttisch und verschwand wieder.
Die Nacht war kalt und der Mond hinter einem schwarzen Vorhang verborgen. Nichts regte sich im Unterholz. Leiser Wind strich mir die Haare aus dem Gesicht und fuhr unter meinen dünnen Schlafanzug. Ich fröstelte. Doch innerlich – innerlich glühte mein ganzer Körper. Die Hitze versengte zuerst meinen Magen, fuhr durch meine Adern und entflammte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Als sie bei meinen Lungen angelangt war, schnürte sie mir die Luft ab und ich hörte mich röcheln. Mein gesamter Körper wurde von einem Beben erfasst. Ich wusste, wo das Feuer hinwollte. Wo es mich am besten vernichten konnte. In meinem Herzen. Mit züngelnden Flammen griff es nach ihm, streckte sich und tobte, als es sein Ziel nicht zu fassen bekam. Einzelne Schweißperlen lösten sich von meiner Stirn und rollten mir übers Gesicht. Hinunter zu den Wangen, verklebten meine müden Wimpern und liefen mir in den Mund. Mein Körper würde verbrennen, doch nicht von außen, sondern qualvoll von innen. Und dann legten sich plötzlich zwei starke Arme um meine Taille und hoben mich hoch. Im nächsten Moment wurde ich an eine breite Brust gedrückt. Ich nahm einen vertrauten, warmen Geruch wahr, konnte ihn jedoch nicht einordnen. Meine Mundwinkel hoben sich leicht, als eine beruhigende Stimme in mein Ohr säuselte, eine Hand über mein Haar fuhr und es mir aus dem verschwitzten Gesicht schob. Ich murmelte etwas, was ich selbst nicht verstehen konnte, und dann begannen die schäbigen Umrisse der Bäume näher zu kommen. Sie rückten vor, wie von unsichtbarer Hand getrieben, und versperrten mir und wem auch immer den Weg nach draußen. Die Luft wurde erneut aus mir herausgepresst und ich keuchte. Die Hand fuhr meinen Rücken hinab und wieder hinauf, doch ich bekam immer noch keine Luft, nach der meine wunden Organe schrien. Äste und Zweige bogen sich zu mir hinab, griffen nach mir, schlugen mir ins Gesicht und kratzten mir die heißen Wangen auf. Und dann wurde alles schwarz und leer und still.
5
Nell
Ich spürte etwas Kaltes, Scharfes, das sich unter meine Haut schob, und erwachte. Grelles Licht stach mir in die Augen und nahm mir die Sicht, bis ich mich etwas daran gewöhnt hatte. Ein Kopf erschien und ich richtete mich blinzelnd auf. Ich erkannte Luan sofort. Doch ihm fielen die dunkelblonden Haare wirr in die Stirn, seine Wangen waren blasser als sonst und seine Augen hinter dichten Wimpern verborgen.
„Wo sind wir?“, murmelte ich und erschauderte, als ich hörte, wie rau meine Stimme klang. Plötzlich wurde mir der Gegenstand wieder aus der Haut gezogen und ich zuckte zusammen.
Eine Frau erschien. Sie hatte lockiges, rotes Haar und funkelnd rote Augen.
Rote Augen.
Ein seltsames Lächeln erschien auf ihren schmalen Lippen, als sie sich vorstellte. „Ich bin Amber Notker. Das, was du gerade gespürt hast, war ein kleiner Chip, den ich dir oberhalb deiner rechten Schulter eingepflanzt habe. Damit wirst du überall registriert.“
Ich zog die Brauen zusammen. „Warum registriert?“
Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. „Das wird dir alles erklärt, wenn du erst einmal da bist.“
„Wo bin?“, hakte ich nach und sah Luan hilfesuchend an, doch er wich meinem Blick aus und drückte die Schultern durch.
Erst jetzt nahm ich meine Umgebung wirklich wahr. Ich lag auf einem wackeligen Stellbett, das an den Beinen befestigt war. Die Wände waren auch keine Wände, sondern ein mittelgroßer Kleinbus, in dem haufenweise medizinische Utensilien rumstanden. Luan saß auf einem Klappstuhl neben meinem Bett und erhob sich, als Amber Notker uns verließ und durch eine winzige Tür in den Fahrerraum glitt. Der Bus wackelte bedächtig und ich musste mich an der dünnen Matratze festkrallen, um nicht gegen Luan zu rutschen.
Mit finsterer Miene starrte er auf mich hinab und ich fühlte mich entblößt. Unwohl zog ich mir die Decke bis unters Kinn und starrte zurück, bis er leise fluchte und sich wieder hinsetzte.
„Wo sind wir?“, fragte ich abermals und jetzt klang meine Stimme schrill vor Angst. Luan stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab und musterte mich aus schmalen Augen. „Auf dem Weg zum Lager.“
Nackte Verzweiflung kroch mir den Rücken hinauf, bis sich meine Nackenhaare aufstellten. „Lager?“, wiederholte ich.
„Ein Ort, an dem du dich zum ersten Mal in deinem Leben wahrhaftig sehen kannst“, sagte er mit rauer Stimme.
Meine Brust wurde eng. „Was soll das denn heißen?“
„Bitte, Nell“, meinte Luan und wirkte auf einmal erschöpft. „Tu einfach, was man dir sagt, und stell keine Fragen. Je weniger du weißt, desto besser stehen die Chancen, dass du überlebst.“ Seine Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, der die gesamte Fahrt über immer dicker wurde. Als der Wagen endlich langsamer wurde und schließlich anhielt, packte mich das Grauen erneut.
Amber Notker erschien wieder und reichte mir eine Cremedose.
„Schmiere dich damit ein, so gut es geht. Die Creme schützt deine Haut vor den feinen Lasern, die dich registrieren, sobald du das erste Abteil betrittst“, wies sie an und verschwand wieder.
Unsicher folgte ich ihrer Anweisung und bedeckte meine Haut mit der kalten Masse. Dann wurde ruckartig die Schiebetür des Busses aufgeschoben und ein breitschultriger Mann erschien.
Ich ging davon aus, dass er der Fahrer war. Der Mann reichte mir eine Hand und sah mich auffordernd an. Ich warf Luan einen kurzen Blick über die Schulter zu, er nickte stumm. Zögernd nahm ich die Hand des Fremden und stieg aus dem Bus. Luan folgte dicht hinter mir.
Vor mir tat sich eine riesige Anlage auf. Hohe Stahlbalken umschlossen ein quadratisches Gebäude. Die Wände waren schlicht weiß mit einem Stich ins Grau, weshalb es in der kargen Landschaft kaum auffiel. Der Block hatte keine Fenster, nur eine breite Tür, ebenfalls aus massivem Stahl, ermöglichte einen Zugang. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen.
„Willkommen im ersten Abteil!“, flötete Amber Notker und machte eine einfache Handbewegung, woraufhin sich der Fahrer zurückzog. Der Kloß in meinem Hals war inzwischen so sehr angeschwollen, dass ich kaum noch Luft bekam.
Die Rothaarige setzte sich in Bewegung und Luan legte mir eine Hand auf die Schulter, um mir zu signalisieren, dass ich ihr folgen sollte. Sobald wir vor dem ersten Stahlbalken zum Stehen kamen, beugte sich Amber Notker über eine Sprechanlage und kommunizierte leise mit einer Männerstimme. Dann tippte sie eine Zahlenabfolge in ein Tastenfeld ein und ein leises Klicken war zu hören. Der Balken schob sich zur Seite und wir betraten eine weitere, offene Fläche. Der weiße Klotz wurde immer größer, je näher wir kamen, und als wir die Stahltür erreicht hatten, vollzog sich der gleiche Ablauf wie vor dem Balken. Die Tore wurden automatisch geöffnet und gaben den Blick auf einen riesigen Innenhof frei. Bevor ich die neue Umgebung überhaupt wahrgenommen hatte, eilten zwei Männer herbei und griffen nach meinen Oberarmen.
Luan stellte sich schützend vor mich. „Das ist nicht nötig“, knurrte er bestimmt. Doch keiner der Männer machte irgendwelche Anzeichen, mich loszulassen. Luan richtete sich zu seiner vollen Größe auf und seine Züge verhärteten sich.
„Jungs, Jungs“, mischte sich Amber Notker kopfschüttelnd ein. „Hört auf mit dem Unsinn und lasst sie los.“ Mit einem künstlichen Lächeln in meine Richtung fügte sie hinzu: „Mademoiselle kann sowieso keinen Schaden anrichten.“
Ich verkniff mir ein empörtes Schnauben, weil ich viel zu viel Angst vor allem hier hatte. Und das lag nicht nur an dieser Notker, sondern auch an Luan.
Ihn schien das alles hier größtenteils kalt zu lassen, was hieß, dass er wahrscheinlich wusste, wo wir waren, wusste, was sie hier mit mir vorhatten.
Es traf mich wie ein Schuss in die Brust. Seit ich den Wagen meiner Eltern gesehen hatte, war ich misstrauisch gewesen, hatte aber versucht, mir nichts Schlimmes einzureden. Ich wollte nicht glauben, dass Luan uns verraten hatte. Doch das hatte er. Und verdammt noch mal, ich kannte ihn nicht mal achtundvierzig Stunden. Oder doch?
„Welchen Tag haben wir?“, fragte ich mit belegter Stimme.
Amber Notkers Lächeln wurde breiter – und künstlicher. „Es ist der zweite Morgen nach deinem fünfzehnten Geburtstag.“
Ich konnte sie einen Moment lang nur anstarren, dann wurde mir so kalt, dass mein Körper zu vibrieren begann. „Woher wissen Sie, wann ich Geburtstag habe?“ Meine Stimme klang schrill.
Sie seufzte. „Ach Schätzchen, wir wissen so gut wie alles über dich.“ Sie beugte sich zu mir hinab und ihre roten Augen fixierten mich. „Und das, was wir noch nicht wissen, werden wir in den nächsten Tagen herausfinden.“
Mein letzter Funke Hoffnung verschwand nun endgültig und ich sackte innerlich zusammen. Die beiden Männer ließen mich los, blieben aber dicht neben mir und trieben mich voran.
Ein breiter Tunnel tat sich vor uns auf, der sich mehrfach teilte und in unterschiedliche Richtungen führte. Der rote Lockenkopf vor mir schien ein bestimmtes Ziel zu haben, denn er bewegte sich schnell und gekonnt durch die Flure. Schließlich hielt Amber Notker vor einer breiten Flügeltür an und drehte sich zu uns um. „Hier beginnt offiziell Abteil 1“, erklärte sie in Plauderstimme. „Aber hinter diese Tür wirst du leider erst morgen einen Blick werfen können.“
Wie schade.
Sie hob den Zeigefinger. „Jetzt wird dir erst einmal dein Zimmer gezeigt. Wir haben es extra schön eingerichtet, hoffentlich gefällt es dir.“ Sie nickte Luan auffordernd zu und öffnete eine der Flügeltüren so weit, dass sie gerade so hindurchpasste. Auf einem breiten Schild an der Wand stand in einfachen Buchstaben Abteil 1 – Säuberung.
Säuberung? Was zum Teufel sollte das heißen? Ich spürte einen leichten Schauder auf dem Rücken, als sich Luan an mir vorbeischob und hinter Amber Notker verschwand, ohne mir einen weiteren Blick zuzuwerfen.
Sobald die beiden verschwunden waren, ergriff der rechte Mann erneut meine Schulter und zog mich mit sich. Der andere verschwand in einer der vielen Türen. Unruhig sah ich zu meinem Begleiter auf. „Können Sie mir wenigstens sagen, was ihr von mir wollt?“
Stur blickte er geradeaus und ich gab auf. Die Leute hier – Amber Notker ausgeschlossen – waren wohl nicht sehr gesprächig.
Der Mann führte mich eine ganze Weile durch das Labyrinth aus Fluren und Treppen, Türen und Kreuzungen und schon bald gab ich den Versuch auf, mir den Weg zu merken. Schließlich gingen wir durch eine breite Glastür und erreichten einen Gang, auf dem deutlich mehr Trubel herrschte als in den übrigen. Wortlos öffnete Mr. Stumm eine kleine Tür, die kaum auffiel, und wir betraten ein schlichtes, weißes Zimmer. An einer Wand stand ein langer Schrank, ebenfalls weiß, und daneben befand sich eine Tür, die vermutlich in ein Badezimmer führte. Auf der anderen Seite befanden sich zwei Betten; weißes Laken, weiße Matratze. Ich merkte schnell, dass Amber Notker und ich etwas vollkommen anderes verstanden unter schön eingerichtet.
Das linke Bett war leer, doch in dem rechten lag eine Person.
„Deine Mitbewohnerin“, knurrte Mr. Stumm und ich hörte zum ersten Mal seine zutiefst beunruhigende, raue Stimme. Er nickte mir zu, verschwand ohne ein weiteres Wort und schloss die Tür hinter sich. Überdeutlich nahm ich das dumpfe Klicken war, als er einen Riegel von außen vorschob. Wir waren eingesperrt.
Meine schwitzigen Hände öffneten und schlossen sich unkontrolliert, als ich mich dem Bett näherte. Die Person war ein Mädchen, wie ich schnell bemerkte. Sie hatte langes, braunes Haar, das ihr über die Schultern fiel. Ihre geschwungenen Wimpern verbargen die Farbe ihrer Augen. Sie war schmal und etwas kleiner als ich. Behutsam setzte ich mich auf die Bettkante und zuckte zusammen, als sie ruckartig den Kopf hob.
Funkelnde, braun-grüne Augen kamen zum Vorschein.
Eine Mutante!
Als sie mich sah, erröteten ihre Wangen und sie schob sich eine Strähne hinters Ohr. „Hi.“ Ihre Stimme war leise und schüchtern.
„Hi“, erwiderte ich und versuchte ein vorsichtiges Lächeln.
„Ich bin Louana Cole. Aber alle nennen mich einfach Lou, das hört sich deutlich besser an“, stellte sie sich vor und erwiderte mein Lächeln.
„Ich bin Nellanyh Ivy. Aber ich hasse meinen Vornamen und alle nennen mich einfach Nell, das hört sich auch deutlich besser an“, erklärte ich.
Lou riss überrascht die Augen auf. „Du bist die Tochter des Anführers der Green Eyes?“
Jetzt war ich es, die rot wurde. „Ja, sozusagen.“
Sie rutschte vom Bett und fiel vor mir auf die Knie. Ihre langen Haare verbargen das blasse Gesicht, als sie den Kopf senkte und die Hände faltete.
„Nein, nein, bitte mach das nicht. Ich hasse das“, sagte ich flehend und berührte ihre Schulter.
Lou zuckte leicht zusammen, dann erhob sie sich wieder und setzte sich neben mich. „Tut mir leid.“
Ich schüttelte den Kopf. „Alles gut.“ Gedankenverloren sah ich mich um.
„Hast du eine Ahnung, wo wir sind?“, fragte ich nach einer Weile des Schweigens. Lous Züge wurden düster. „Wir sind im Lager für Mutanten. In Abteil 1, um genau zu sein.“
Ich sah sie irritiert an. „Aber ich bin kein Mutant.“
Sie hob den Kopf und ihr Mund verzog sich. „Natürlich bist du das. Wie alle, die sie hier gefangen halten.“
Einen Moment lang starrte ich sie an, dann sprang ich auf, raste zur Tür und stolperte in ein kleines Badezimmer. Ich eilte zum Spiegel und krallte mich am Waschbeckenrand fest, als ich mein Gesicht darin sah. Meine hellblonden, schulterlangen Haare waren zerzaust und fettig. Meine Wangen waren noch immer leicht gerötet und hoben sich merkwürdig von meiner Haut ab – sie war noch blasser als die von Lou. Doch meine Augen, oh Gott, meine Augen waren nicht blassgrün, wie ich sie kannte. Sie waren aus einem intensiven Grün, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte, und ein hellblauer Ring ließ meine schwarze Pupille deutlich zur Geltung kommen. Mein Herz setzte für einen Schlag aus und überschlug sich dann mehrfach. Abermals spürte ich einen Schauder, als Lou neben mich trat.
„So war es bei mir auch“, sagte sie mit leiser Stimme. Heiße Tränen brannten in meinen Augenwinkeln und mein Kopf war vollkommen leergefegt.
Wie konnte das sein? Warum hatte ich plötzlich eine andere Augenfarbe – falsch, zwei Augenfarben? Ich war ein Mutant! Ein Kind, das nie hätte geboren werden dürfen.
„Aber wie …?“, schluchzte ich. „Warum jetzt? Wie so plötzlich?“
Lou trat vorsichtig näher zu mir heran. „Ich habe es vor zwei Tagen erfahren. Ich bin bei meiner Tante bei den Brown Eyes aufgewachsen. Mein gesamtes Leben bin ich davon ausgegangen, dass meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, weil es mir so immer erzählt wurde. Doch dann waren sie auf einmal da. Amber Notker und vier weitere Typen standen vor unserer Tür und haben mich einfach mitgenommen. Meine Tante war vollkommen machtlos gegen sie –“ Ihre Stimme brach. „Sie haben sie umgebracht, als sie mich beschützen wollte.“ Als ihr die ersten Tränen über die glühenden Wangen rollten, zog ich sie behutsam an mich und weinte mit ihr. „Ich weiß selbst kaum etwas“, schniefte sie in meine Schulter. „Aber das, was ich weiß, ist so grausam.“
Ich schob sie ein Stückchen von mir weg. „Ich muss es wissen – bitte“, sagte ich eindringlich.
Lou schluckte schwer. „Es gibt da diese Giftmischung. Sie nennt sich Mute Curse.“
„Stummer Fluch“, hauchte ich und wurde steif.
Sie nickte. „Mute Curse kann man ins Essen oder Trinken mischen. Sogar ins Wasser, denn es hat keine wirkliche Farbe. Und es bewirkt … nun ja, dass die Augenfarbe, je nach Mischung, eine gewollte, einfarbige Tönung behält und gleichzeitig schwächt es die Kraft der jeweiligen Augenfarbe.“
Die Luft blieb mir weg, bis sich ein Schalter in meinem Kopf umlegte.
„Meine Eltern oder Ozea haben es mir untergemischt?“, stockte ich.
Lou senkte schweigend den Kopf. „Nur die Wenigsten können sich dieses Gift leisten, es ist extrem teuer und es gibt auch nur wenige, die es herstellen.“
Sie schob sich eine Strähne hinters Ohr. „Ich habe keine Ahnung, woher es meine Tante hatte, aber …, aber bei dir … Ich kann mir vorstellen, dass diese Ozea es selbst gemischt hat. Immerhin ist sie doch die Seherin der Green Eyes.“
Ich stolperte zurück und stieß mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Heiße Tränen brannten in meiner Kehle. „ Aber das heißt, dass meine Mutter oder mein Vater gar nicht wirklich ein Green Eye, sondern ein Blue Eye ist …“
Mom? Nein! Das konnte nicht sein. Mom war durch und durch Green Eye, das merkte man an ihrer Art. Wie sie sich bewegte, wie gut sie mit Pfeil und Bogen umgehen konnte – sie war eindeutig eine Green Eye.
Dad? Ich hatte nie eine wirkliche Beziehung zu ihm gehabt, hatte sie nie gespürt. Aber auch er war kein Blue Eye, ausgeschlossen. „Aber … dann muss mein richtiger Vater bei den Blue Eyes leben“, stotterte ich und mein Hirn fühlte sich an wie eine einzige, klebrige Masse.
„Und Lenn Ivy ist gar nicht dein leiblicher Vater?“, fragte Lou verwirrt.
Ich konnte nicht auf ihre Frage antworten. Meine Umgebung begann sich zu drehen und hörte nicht mehr auf, auch als Lou mich zurück in das größere Zimmer führte und mir auf das schmale Bett half. Eine Weile lag ich dort, bewegungslos, und starrte an die weiße Decke. Irgendwann zog sich Lou leise zurück und ich verfiel einem düsteren Traum.
6
Nell
Ich erwachte ruckartig, als mich jemand an den Schultern packte und schüttelte. Vor Schreck fuhr ich hoch und schlug um mich, bis ich losgelassen wurde und mir die zerzausten Haare aus dem Gesicht schob. Vor mir stand der Typ, der mich hierher gebracht hatte. War es gestern gewesen, oder vorgestern? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte. Mit rasendem Puls zog ich mir die Decke über die nackten Beine und sah ihn misstrauisch an.
„Jetzt gesellt sich zu stumm auch noch brutal – keine gute Mischung.“
„Halt den Mund und zieh dich um!“, unterbrach er mich scharf.
Ohne ein weiteres Widerwort nahm ich die Sachen entgegen, die er mir hinhielt. Weiße Hose, weißes T-Shirt, weiße Schuhe, welch kreative Farbwahl. Hastig eilte ich an ihm vorbei und warf einen flüchtigen Blick auf Lous Bett. Decke und Kissen lagen ordentlich aufgeschüttelt da und von ihr fehlte jede Spur. Mit einem unguten Gefühl im Bauch zog ich mir die verschwitzten Sachen aus und die neuen über. Das grelle Weiß blendete mich förmlich, als ich meine Haare kämmte und mir eine Strähne hinters Ohr schob.
Als ich das Badezimmer wieder verließ, stand er an der Tür und musterte mich von oben bis unten. Dann brummte er in seiner unnatürlich rauen Stimme: „Nenn mich Dexter.“
Ich hob eine Augenbraue, verkniff mir aber einen dummen Kommentar und nickte. Dexter öffnete die Tür und platzierte seine schwere Hand auf meiner Schulter, als er mich den Gang hinabführte.
„Jetzt kannst du erst einmal etwas essen und danach darfst du einen Blick hinter die Flügeltür werfen.“ Er beugte sich zu mir hinab und ich spürte seinen Atem neben meinem Ohr. „Luan wird auch da sein.“
Ich konnte die Schmetterlinge in meinem Bauch nicht unterdrücken und ärgerte mich umso mehr darüber. Eigentlich sollte ich diesen Typen hassen. Immerhin hatte er mich verraten – meine Familie verraten.
Aber es war genau diese Familie, die dich dein ganzes bisheriges Leben lang angelogen hat. Sie wussten, was du warst, und haben es dir verheimlicht.
Mit versteinerter Miene lief ich den Gang entlang und versuchte, nicht auf die stechenden Blicke der Erwachsenen zu achten, die sich in meinen Rücken brannten. Schließlich hielt Dexter vor einer Flügeltür, die aussah wie jede andere in diesem verdammten Gebäude, und öffnete sie, um mich hindurchzuschieben. Ich zog meine Schulter vor und schaffte es, seinen Griff loszuwerden, aber nur, weil er es zuließ. Wir betraten einen großen Raum, der mit etlichen Stühlen und Tischen ausgestattet war. Die meisten waren leer, nur an drei von ihnen saßen jeweils zwei Leute, alle erwachsen, und unterhielten sich leise. Dexter wies mir einen Platz an der Wand zu und fragte mich, was ich essen wollte. Nachdem er einige Dinge aufgezählt hatte, entschied ich mich für einen Apfel und ein Glas Wasser. Beides holte er mir von einer Art Theke und schaute mir dann stumm beim Essen zu, was alles andere als schön war. Ich trank gerade den letzten Schluck aus, als ein Junge, grob mein Alter, den Raum betrat. Wie ich wurde er von einem erwachsenen Mann begleitet, der noch grimmiger wirkte als Dexter. Die Haare des Jungen waren weiß, er wirkte müde und war schmächtig. Doch mein Blick wanderte sofort weiter zu seinen Augen. Sie waren hellgrau mit violetten Punkten um die Pupille. Die beiden kamen direkt auf uns zu und setzten sich an unseren Tisch.