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„Die Tests von gestern sind hervorragend. Genau genommen hast du etwas in deinem Blut, was mich sehr interessiert. Deshalb würde ich jetzt gerne noch einmal Blut abnehmen, allerdings an der Stelle, an der ich dir deinen Erkennungschip eingesetzt habe. Wenn sich diese Probe als positiv herausstellt, ist so gut wie sicher, dass du M-1 in dir trägst“, erklärte sie schnell und schien aufgeregt wie ein kleines Kind an Weihnachten, das kurz davor war, das größte Geschenk auszupacken.
„Und was genau ist M-1?“, fragte ich unsicher und blickte von Amber Notker zu Luan und wieder zurück.
Sie lächelte mich breit an. „M-1 ist schlicht und einfach die Abkürzung für Muster-1. Das ist eine Blutgruppe, die nur äußerst selten auftritt.“
„Und was heißt das?“ Ich fühlte mich ziemlich vor den Kopf gestoßen, als Amber Notker eine Spritze oberhalb meiner rechten Schulter unter die Haut schob und weißes Blut zum Vorschein kam.
Meine Unterlippe begann zu zittern.
„Keine Sorge. Alle Mutanten haben weißes Blut. Lou hat es dir bestimmt noch nicht erzählt, das liegt daran, dass sie es heute erst selbst erfahren hat. Aber eine weitere Auswirkung des Mute Curse ist auch, dass das Blut rot bleibt und nicht seine tatsächliche Farbe annimmt“, sagte Amber Notker, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Wahrscheinlich konnten das alle hier.
Nachdem sie mir das Blut abgenommen hatte und es in ein kleines Gläschen umgefüllt hatte, nahm sie ein Klemmbrett und einen Stift von ihrem Schreibtisch und begann, mit der Spitze leicht gegen ihr Kinn zu tippen.
„Zu deiner Frage von gerade eben“, meinte sie. „Wie schon gesagt bin ich ziemlich sicher, dass du M-1 hast. Wenn ich es nachweisen kann, und das werde ich, kannst du sofort in Abteil 2 gebracht werden. Dexter wird dich begleiten und dort wirst du in die erste Vorbereitungsphase eingeteilt.“
Ich zog die Brauen zusammen und verstand weniger als die Hälfte von dem, was sie mittlerweile von sich gegeben hatte- und das war eine Menge.
„Dexter wird dich jetzt in den Gemeinschaftsraum bringen. Ich muss leider wieder zurück zu Lou und noch einmal ein paar Testes durchführen“, sagte sie mit leicht gekränkter Stimme und kritzelte etwas auf das Klemmbrett.
„Wie geht es Lou?“, fragte ich und sah sie eindringlich an.
Amber Notker verzog das Gesicht. „Sie wird leider nicht mit dir umziehen können. Die Spritze, die ich ihr gestern Abend gegeben habe, hat sie nicht gut aufgenommen. Durch die vielen Strahlen auf ihrer Haut fließt das Blut langsamer und ihr Herz ist bereits ins Stocken gekommen. Ich musste sie in die obere Etage verlegen und dort wird sie gerade behandelt.“
Ich riss die Augen auf. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Ich kannte Lou nicht lange, aber trotzdem hatte sich ab dem ersten Moment etwas zwischen uns geregt, eine leise Freundschaft.
Ich musste wieder an das Foto ihrer Mom denken und meine Kehle schnürte sich zu. Ich würde ihr das Foto bringen. Jetzt. Sofort.
Entschlossen sprang ich auf und rannte zur Tür, kam aber nicht weit, da Dexter seine kräftigen Arme um meine Taille schlang und mich festhielt.
„Du kannst sie später besuchen“, raunte er in seiner tiefen Stimme, die mir inzwischen fast vertraut war. „Erst gehen wir in den Gemeinschaftsraum.“
Ich biss mir auf die Lippe und nickte. Etwas anderes hätte er sowieso nicht zugelassen. Dexter ließ mich los und öffnete mir die Tür.
„Wenn ich die Ergebnisse deines Tests habe, komme ich vorbei“, rief uns Amber Notker hinterher, während wir den Raum verließen.
Dexter lief an meiner Rechten und zu meiner Linken fand sich Luan ein. Ich hob das Kinn, damit ich neben ihm nicht wie eine Zwölfjährige wirkte und blickte stur geradeaus. Luan begann zu grinsen und ich fuhr herum.
„Was ist?“ Er hob unschuldig die Arme.
Wütend funkelte ich ihn an. „Warum kommst du überhaupt mit?“
Sein rechter Mundwinkel hob sich und das arroganteste Lächeln erschien, das ich je gesehen hatte. „Weil du dich in meiner Anwesenheit wohl fühlst.“
Ich schnaubte verzweifelt und wandte mich an Dexter. „Kannst du es ihm sagen?“
Dexter wischte sich über den Mund, um ein Grinsen zu verbergen, scheiterte aber kläglich. In mir brodelte es und ich war kurz davor, zu explodieren.
„Ich denke, es wäre besser, wenn ich euch beide für ein paar Stunden allein lasse“, sagte er mit erhobenen Brauen.
„Für ein paar Stunden?“, fragte ich perplex.
Er zuckte mit den Schultern. „Wir können das Ganze auch etwas abkürzen, aber ich muss noch eine Trainingseinheit vorbereiten und hole dich dann in einer halben Stunde wieder ab.“
Ohne noch einmal in mein empörtes Gesicht zu blicken, drehte er ab und verschwand hinter der nächsten Ecke.
„Der Gemeinschaftsraum ist eine Minute von hier“, meldete sich Luan zu Wort. Ich holte tief Luft und folgte ihm mit steifen Schritten. Selbst eine Minute war schon zu viel.
Als wir durch eine halb offene Glastür in einen riesigen Raum traten, fiel mir sofort der weiße Haarschopf auf, der mir ziemlich bekannt vorkam. Mein Rücken wurde von unregelmäßigen Schaudern heimgesucht und ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Doch plötzlich ahnte ich es, als hätten sich zwei Magnete gefunden und angezogen. Immer, wenn andere Mutanten in der Nähe waren, bekam ich diese Schauder auf dem Rücken … Es musste also eine Art Verbindung zwischen uns allen geben und da hier haufenweise Mutanten rumsaßen, waren die Schauder so stark und unregelmäßig.
Luan führte mich zu einem runden Tisch, der ganz in der Nähe von Davids stand. Vorsichtig warf ich einen Blick in seine Richtung und sah, dass er nicht allein war. Ein Mädchen saß bei ihm. Sie hatte dunkelbraune Haare, die ihr leicht wellig über die schmalen Schultern fielen. Als sie den Kopf drehte und mich ansah, erkannte ich ihre Augen. Sie waren schwarz und braun. Sie trug also die Kräfte der Black und Brown Eyes in sich.
Erst, als ich mich leicht vorbeugte, merkte ich, dass sie gar nicht mich ansah, sondern Luan. Mein Magen zog sich zusammen, als ihre Augen zu schimmern begannen und sie anfing zu lächeln. Langsam sah ich Luan von der Seite an und mein Herz setzte einen Schlag aus. Er lächelte zurück Und obwohl ich diesen Typen eigentlich abgrundtief hasste, ärgerte es mich, dass er sie anlächelte, und zwar nicht arrogant, sondern offen und … sexy? Ohne zu überlegen rammte ich ihm meinen Ellenbogen in die Seite. Er zuckte kaum zusammen, wandte den Blick aber ab und als er mich ansah, verschwand sein Lächeln. Ich schluckte schwer. „Kennst du sie?“, fragte ich mit geblähten Nasenflügeln und machte eine schnelle Kopfbewegung in die Richtung des Mädchens.
„Felicity? Ja, ich kenne sie ziemlich gut“, sagte er und lehnte sich zurück. Sein Blick ruhte auf meinen Lippen, während er sprach. „Sie ist so alt wie ich, also ein Jahr älter als du. Wir sind zusammen mit meinem Bruder eingeliefert worden, als wir zehn oder elf waren.“
„Moment mal“, ich schob mir eine Strähne hinters Ohr und war froh, dass er endlich den Blick von meinen Lippen hob und mir in die Augen sah. „Du hast einen Bruder?“
Luan zuckte mit den Schultern. „Klar.“
„Klar?“, wiederholte ich. „Warum hast du mir nichts von ihm erzählt?“
„Warum hätte ich das tun sollen, du hasst mich doch.“
Darauf konnte ich nichts erwidern, denn zwei dünne Arme schoben sich in mein Sichtfeld und vor Luan. Gleich darauf wurde ich vom starken Duft eines Parfums eingehüllt und bekam kaum noch Luft, weil es so intensiv war.
„Hey“, erklang eine helle Stimme. „Ich habe dich gesucht.“
Ich beugte mich zur Seite, um etwas sehen zu können, und bereute es gleich darauf. Die bildhübsche Felicity schaute Luan tief in die Augen und ihre Lippen waren nur wenige Zentimeter von seinem Mund entfernt, der sich zu einem warmen Lächeln verzogen hatte.
„Hat sich ja gelohnt“, erwiderte er.
Einige Strähnen glitten von ihren Schultern und berührten Luans Kinn. Sein Lächeln wurde breiter, als er sie zwischen zwei Finger nahm und begann, sie einzudrehen. Mir wurde übel und bevor ich mitansehen musste, wie dieses Model ihre vollen Lippen auf seinen Mund presste, erhob ich mich und stieß den Stuhl schwungvoll nach hinten. Felicity schnellte herum und musterte mich aus ihren schimmernden Augen.
„Wer ist sie?“, wollte sie mit erhobenen Brauen wissen.
Luan seufzte und erhob sich ebenfalls. „Ein stacheliger Kaktus, der nach Aufmerksamkeit lechzt, und um es genauer zu beschreiben, die Mutante, die aus unserem hübschen Duett ein langweiliges Trio macht.“
Mir fiel die Kinnlade herunter und ich konnte ihn nur anstarren. Felicity verzog den Mund, als hätte sie auf etwas Saures gebissen.
Und Luan – Luan grinste.
8
Nell
„Sie hat M-1?“, schlussfolgerte Felicity ungläubig und musterte mich dabei, als sei ich ein stinkendes Insekt. Luan nickte und verschränkte die Arme vor der Brust, sodass sein schwarzes T-Shirt über seinen Oberarmen spannte. Meine Gedanken drifteten kurz ab und ich stellte fest, dass alle männlichen Mutanten nur schwarz trugen und alle weiblichen nur weiß. Irgendwie langweilig …
Doch ich wurde schnell und hart zurück in die Realität katapultiert.
„Es ist noch nicht bewiesen, aber Amber Notker ist hin und weg von ihr“, murmelte Luan und setzte eine gelangweilte Miene auf.
Felicity stöhnte und fing an, ihre Schläfe zu massieren. „Na super. Ein Krüppel am Bein hat uns gerade noch gefehlt.“
Ungläubig stieß ich die Luft aus. „Ich stehe gerade neben dir, falls du es noch nicht mitbekommen hast“, fuhr ich sie an.
Sie verzog die vollen Lippen zu einem herablassenden Grinsen. „Nicht doch so aufregen, Kleine. Du bekommst schon rote Ohren.“
Meine Hände begannen so stark zu zittern, dass ich sie zusammenballte. „Ich bin keine Kleine“, knurrte ich finster und hielt ihrem Blick stan. Felicity warf sich mit so viel Schwung die Haare über die Schultern, dass ihre Spitzen gegen meine Wange schlugen. Es brannte höllisch, doch ich ließ mir nichts anmerken.
„Komm nachher auf mein Zimmer. Ich wurde in die 11 einquartiert“, sagte sie zu Luan. „Dann kann ich dir sagen, warum ich hier bin.“ Mit einem letzten, herablassenden Blick auf mich drehte sie sich endlich weg und stakste mit schwingenden Hüften aus dem Gemeinschaftsraum. Ich blieb vor Wut kochend zurück und starrte auf die Stelle, an der sie verschwunden war, als könne ich sie dadurch stolpern lassen. Luan machte neben mir ein tiefes Geräusch und ich löste meinen Blick von der Tür.
„Was war das denn?“, fragte er und musterte mich finster.
Ich schnaubte. „Sie hat angefangen, mich grundlos zu beleidigen.“
„Ach bitte, sei nicht kindisch, Nell.“ Er winkte ab und schüttelte den Kopf. Da dieses Gespräch immer sinnloser wurde, und ich sowieso keine Chance gegen ihn hatte, wechselte ich das Thema.
„Wo ist meine Mom?“
„Nell –.“
„Wo ist sie?“
Luan seufzte. „Deine Stimmungsschwankungen sind echt nicht auszuhalten. Und da könntest du sowieso nicht einfach reinspazieren.“
Zum ersten Mal, seit ich hier war, konzentrierte ich mich auf meinen Mittelpunkt. Ich spürte Energie, die mein Blut durchströmte. Ich spürte meine gewohnten Kräfte, aber auch eine neue, unbekannte Kraft. Sie ließ mich schneller atmen, machte mich stärker und mutiger.
„Das ist eine ganz, ganz schlechte Idee“, warnte Luan und spannte die Schultern an. Ruckartig drehte ich ihm den Kopf zu. Ich spürte den Mittelpunkt, der in mir tobte wie ein Tornado und endlich freigelassen werden wollte. Meine gesamte Energie ballte sich in meinen Händen und ich fixierte mein Ziel.
Ich würde mich nicht aufhalten lassen, auch nicht von ihm. Ich wollte zu meiner Mom, es war mein gutes Recht. Ich musste sie sehen.
Ich hob die Arme und die Energie schoss aus meinen Handballen ins Freie. Von der unglaublichen Wucht wurde ich nach hinten geschleudert, fing mich aber wieder, bevor ich zu Boden ging. Die Mutanten im Raum hoben die Köpfe und musterten mich feindselig, doch das war mir egal. Erneut rief ich den Mittelpunkt auf und ließ meine Kräfte zum zweiten Mal frei. Eine Wasserfontäne schoss aus meinen Händen auf Luan zu, doch bevor sie ihn erreicht hatte, hob er beide Arme und erhellte den Raum mit einem Lichtblitz. Geblendet ging ich zu Boden und verlor die Kontrolle über meine Energie, die nun in unregelmäßigen Abständen aus mir herausschoss. Mein ganzer Körper bebte und zitterte. Ich hörte aufgeregte Schreie und um mich herum brach Chaos aus. Stühle wurden umgestoßen und die Leute verließen hektisch den Raum. Ich hob den Kopf und sah Luan über mir. Er hielt beide Arme erhoben und Energie knisterte über seinen Handballen.
„Bring deinen Mittelpunkt unter Kontrolle“, befahl er.
Ich schüttelte schwer atmend den Kopf. „Nein.“
„Bring deinen Mittelpunkt unter Kontrolle oder ich werde es tun!“ Jetzt fauchte Luan und seine Brust bebte.
„Nein!“ Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre es mir nicht gelungen, wieder zur Ruhe zu kommen. Die Energie in meinem Körper machte es mir unmöglich, aufzuhören.
Er presste die Lippen aufeinander. „Nell, ich will dir nicht wehtun, aber wenn du nicht tust, was ich dir sage, wird es so kommen.“
Ich schüttelte erneut den Kopf. Tränen hatten sich in meinen Augenwinkeln gebildet, während ich vor ihm auf dem Boden kauerte. „Ich glaube nicht, dass du ein Problem damit hättest, mir wehzutun.“
Ich sprang auf und ließ die gestaute Kraft frei. Wasserfontänen fluteten den Raum und zwei Efeuranken fraßen sich um Luans Beine.
Doch er schleuderte sie einfach weg und baute sich vor mir auf. „Ich habe versucht, es zu verhindern, aber du willst anscheinend wirklich nicht auf mich hören.“
Plötzlich schossen Lichtblitze an seinen Armen hinab und blendeten mich. Kurz darauf spürte ich einen stechenden Schmerz in der linken Schulter. Ich taumelte rückwärts, bis ich mit der Hüfte gegen einen Tisch stieß. Verzweifelt nahm ich wahr, wie sich Luans Energie durch mich hindurchbiss und meine Gedanken verschleierte. Ich begann zu glühen, aber nicht von außen, sondern von innen. Es fühlte sich an, als würden meine Adern durchtrennt und Eingeweide von innen ausgekocht werden. Nach Atem ringend taumelte ich und fiel wieder zu Boden. Den Schmerz des Aufpralls nahm ich kaum wahr und als sich die Energie einen Weg zu meinem wild schlagenden Herzen durchgebahnt hatte, wurde alles schwarz um mich herum.
***
Mit einem fernen Tosen im Kopf erwachte ich aus meiner Ohnmacht.
Blinzelnd öffnete ich die verschleierten Augen und krümmte mich, als ein eiserner Schmerz von meiner linken Schulter ausstrahlte. Eine kräftige Hand legte sich auf die gesunde Schulter und drückte mich sanft zurück ins Kissen. Dexters Gesicht erschien. Seine Stirn war gekräuselt und die roten Augen hatten einen merkwürdigen Glanz.
Dann spürte ich einen wohligen Schauder auf dem Rücken und war wenig überrascht, als kurz darauf auch Luans Gesicht erschien. Seine sonst gebräunte Haut war blass und unter seinen besorgten Augen lagen dunkle Ringe.
„Was ist passiert?“ Meine Stimme klang rau und war fast eine Konkurrenz für Dexters.
Er lächelte und ließ sich auf einen Stuhl neben dem Bett fallen. „Du hast gegen Luan gekämpft und dann musste er dich ruhigstellen, bevor du dir oder anderen ernsthaften Schaden zugefügt hättest“, erklärte er stumpf.
Ich lachte matt und schloss die Augen. Ja sicher. Luan musste mich ruhigstellen, weil ich sonst eine Gefahr für mich und andere gewesen wäre. In Wirklichkeit hatte mich Felicity zur Weißglut getrieben und Luan hatte seinen Teil dazu beigetragen.
„Wie fühlst du dich?“, fragte Luan und sobald ich seine tiefe Stimme hörte, fühlte ich mich wohler.
Ich öffnete die Augen und sah ihn an. „So, wie ich wahrscheinlich aussehe“, erwiderte ich.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und die vollen Lippen öffneten sich leicht. „Du hast ganz schön viel Power.“
Ich hob eine Braue und ließ sie dann wieder sinken, weil mir keine Antwort darauf einfiel. Ihm schien es zu genügen, denn er setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.
„Ich lass euch dann mal allein“, mit einem Schnaufen stand Dexter auf und klopfte sich den nicht vorhandenen Staub von der Hose.
Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, biss ich mir auf die Unterlippe und wich Luans Blicke aus. Nach einer Weile des peinlichen Schweigens brach er die Stille. „Es tut mir leid.“ Jetzt schaute ich ihn an und erschauderte, als ich ihn so verzweifelt sah. „Ich habe echt Mist gebaut. Mal wieder. Und ich habe deine Gefühle verletzt, deinen Stolz – ich habe dich verletzt und deshalb dürfte ich gar nicht hier sein. Du hast jemand bessern verdient als mich, der hier jetzt sitzt und …“ Er hob den Kopf und sah mir tief in die Augen. Sofort war ich wieder von den grell-gelben Streifen gebannt und konnte den Blick nicht abwenden.
„Liam sollte jetzt hier sein. Er sollte deine Hand halten, dir die Augen öffnen damit du endlich verstehst, wie dumm ich bin.“
Der Gedanke an meinen besten Freund versetzte mir einen tiefen Stich. Ich senkte den Kopf und war hin- und hergerissen, was ich dazu sagen sollte. Ich konnte Luans Handeln nachvollziehen, jeder hätte das Gleiche getan und eigentlich war ich diejenige, die sich entschuldigen musste, denn ich war durchgedreht ohne Rücksicht auf Luan. Ich musste endlich anfangen, mich nicht mehr wie ein kleines Mädchen zu verhalten.
„Und was ist, wenn ich das nicht will?“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Luan zog die Brauen zusammen und sah mich verwirrt an.
Ich schluckte. „Wenn ich es okay finde, dass du jetzt hier bist und nicht er?“
Sein Blick flackerte. Einen Moment lang sah er mir einfach nur tief in die Augen, aber dann schüttelte er den Kopf. „Ich bin ein Idiot“, knurrte er.
„Ein Vollidiot“, verbesserte ich und versuchte ein Lächeln. „Aber ich bin nicht besser.“
„Du solltest mich hassen, Nell. Das ist das einzig Richtige im Moment. Das wird dir einige unangenehme Situationen ersparen.“
Mit aufkommender Verzweiflung sah ich ihn an. „Ich hasse dich aber nicht. Ich weiß, dass ich es sollte. Du bist gemein und doof und ich kenne dich überhaupt nicht. Ich sollte dich hassen und ich weiß, dass ich das gestern zu dir gesagt habe, aber es stimmt nicht. Ich kann nichts dagegen tun.“
Vorsichtig richtete ich mich auf und suchte seinen Blick. Als er mir wieder und wieder auswich, streckte ich eine Hand aus und umfasste sein Kinn. Die schüchterne Berührung ließ ihn erschaudern und endlich sah er mich an.
„Ich hasse dich nicht“, wiederholte ich und ließ die Hand sinken. „Ich weiß, was du getan hast. Ich weiß, dass du meine Familie und mich verraten hast und ich weiß, dass du mit Felicity … eine gewisse Verbindung hast. Und ja, ich weiß auch, dass du sie sicher liebst und sie dich auf jeden Fall liebt und dass ich das nicht schön finde, aber es ist dein Leben und ich habe darin nichts verloren.“
Luan beugte sich vor und legte eine Hand an meine Wange, die sofort zu glühen begann. Unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, als er sprach. „Ich liebe Felicity nicht.“
Diese vier Worte genügten mir. Ich glaubte ihm, ich glaubte ihm voll und ganz, obwohl ich mein Leben gerade überhaupt nicht verstand. Alles passierte so schnell. Einem Ereignis folgte das nächste und wenn ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, musste ich mich schon wieder mit neuen beschäftigten. Ich fühlte mich vollkommen fehl am Platz, verstand so gut wie gar nichts. Ich vermisste meine Familie und meine Freunde, gleichzeitig hatte ich keine Ahnung, was ich von Luan halten sollte. Von meinen unkontrollierbaren Gefühlen für ihn.
Er öffnete leicht den Mund und sein Atem kitzelte meine angespannten Lippen. „Weißt du, was ich jetzt gerne tun würde?“, fragte er, während sein Daumen in kreisförmigen Bewegungen über meine Wange strich.
„Was denn?“, meine Stimme überschlug sich fast.
Er legte den freien Arm um meine Taille, um mich noch ein Stück näher an sich heranzuziehen. „Ich würde dich sehr gerne … berühren.“
Ich schluckte. „Das machst du doch schon.“
„Stimmt.“
Mein Herz begann zu rasen, als er den Kopf leicht schräg legte und dann stockte es, als er mich losließ. „Wir sollten die Zeit sinnvoller nutzen.“
Verwirrt sah ich ihn an, dann wurde ich wieder rot und nickte.
„Was du noch nicht weißt, ist, dass Felicity und ich bisher die einzigen Mutanten im Lager waren, die M-1 haben“, begann Luan und setzte sich auf den Stuhl, auf dem zuvor Dexter gesessen hatte. „Jetzt hat Amber Notker eine ziemlich sichere Spur, dass du es auch hast, und das ist wie zehn Geburtstage auf einmal.“
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das Bettgestell und begann, an meinen Haarspitzen zu fummeln. „Das geht Felicity natürlich gewaltig gegen den Strich.“
„So kann man es auch sagen.“
„Und warum ist sie hier?“, wollte ich wissen.
Er hob eine Braue. „Das weiß ich selbst nicht. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sie mich sehen wollte. Immerhin kennen wir uns seit knapp sechs Jahren und haben in der Zeit einiges durchgemacht. Sie ist zurzeit noch in Abteil 10, aber wird wahrscheinlich bald, genau wie ich, in den Außendienst gehen.“
Mein Gehirn war immer noch komplett überfordert. „Und dein Bruder? Wo ist er?“, fragte ich und ließ meine Haare in Ruhe.
Luan holte tief Luft. „Zurzeit in Abteil 9. Er hat kein M-1 und wird deshalb Tag für Tag von den Red Eyes erniedrigt. Er … er war der Grund, warum ich der Sache zugestimmt habe, dich hierher zu bringen. Hätte ich mich geweigert, für die Red Eyes zu arbeiten oder wäre ich nicht mit dir zurückgekommen, hätten sie ihm schlimme Sachen angetan“, sagte er verbissen und voller Abscheu.
Ich riss die Augen auf. Verstand ich das gerade richtig?
„Aber dann ist ja alles gar nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür, dass ich jetzt hier bin. Du wolltest nur deinen Bruder beschützen. Warum hast du das nicht gleich gesagt?“
Er schnaubte. „Weil es nichts geändert hätte. Eigentlich sollte ich froh sein, dass du mich gehasst hast. Das machte alles einfacher.“
„Ach ja?“, schnappte ich und sah ihn wütend an. Nur er war in der Lage, meine Gefühle von jetzt auf gleich explodieren zu lassen.
Zaghaft klopfte jemand an die Tür und ich hob den Kopf. „Ja?“
Die Tür wurde geöffnet und Lou kam herein. Logan blieb vor dem Zimmer stehen und verschwand aus meinem Sichtfeld, als die Tür zufiel, doch ich wusste, dass er immer noch direkt davorstand.
Besorgt schob ich die Decke zurück und erschauderte, als meine nackten Füße den kalten Boden berührten. Dann stand ich entschlossen auf und eilte auf Lou zu. Sie sah vollkommen erschöpft aus. Ihre Haare waren wieder fettig und hingen strähnig vor ihrem blassen Gesicht. Über den braun-grünen Augen lag ein matter Schimmer, ihre Lippen waren trocken und aufgeplatzt.
„Was ist passiert?“, fragte ich und führte sie zu ihrem Bett.
Lou fasste sich an die Kehle, als würde es ihr Schmerzen bereiten, zu sprechen. „Wir können nicht zusammen in Abteil 2 untergebracht werden. Ich muss hier bleiben.“
„Ich weiß“, murmelte ich und drückte ihre Hand. Mit gläsernem Blick sah sie zu mir auf. „Ich soll nur ein paar Sachen holen, aber dann muss ich wieder in die obere Etage.“
Ich bat sie, sich auszuruhen, und verschwand im Bad, um die Tasche mit dem Foto ihrer Mom zu holen. Als ich kurz in den Spiegel sah, erblickte ich hinter mir Luan. „Ich gehe dann mal …“
„In Raum 11“, beendete ich vielsagend seinen Satz. Er seufzte nur und verließ das Zimmer. Ich trat wieder zu Lou und reichte ihr die Tasche. „Ich habe das Foto gesehen“, sage ich leise. „Die Frau darauf ist deine Mom?“
Sie nickte müde und kramte, bis sie das Papier gefunden hatte und sich an die Brust presste. „Sie hieß Amy.“
„Hieß?“, wiederholte ich, während mir eisige Schauder über den Rücken jagten.
„Mom ist an einer Lungenentzündung gestorben. Ist schon etwas länger her.“
„Lou, das … das tut mir so leid.“
Sie verzog den Mund. „Das ist lieb, ändert aber nichts.“
Ich nickte stumm und umarmte sie lange und fest.
Als sie von Logan wieder in die obere Etage begleitet wurde, kam Dexter zurück. Wir gingen zusammen essen, unterhielten uns aber kaum. Danach musste ich wieder in den Behandlungsraum und Amber Notkers Miene nach zu urteilen, gab es etwas Tolles zu erzählen.