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Andreas Wojak
Sternstunden
Geschichten,
die das Herz berühren
Verlag am Eschbach
Liebe Leserin, lieber Leser,
innehalten, berühren, berührt werden – darum geht es in weitestem Sinne in den „Sternstunden-Geschichten“. Wobei die „Stunde“ manchmal nur eine Minute oder einen Augenblick dauert, sich bisweilen aber auch auf einen ganzen Lebensabschnitt bezieht, verdichtet auf wesentliche Momente.
„Sternstunden der Menschheit“ heißt ein Buch des großen Literaten Stefan Zweig, das historische „Augenblicke“ kunstvoll einfängt. Anders der vorliegende Band: Unterschiedlichste Menschen erzählen hier von kleinen und großen Begebenheiten ihres Lebens, eben ihren persönlichen „Sternstunden“. Es sind kurze Texte, manchmal nur wenige Sätze, die beim Lesen und Hören eigenes Erleben in Erinnerung rufen. „Das kenne ich, das habe ich auch schon ganz ähnlich erlebt!“, lauten immer wieder die Reaktionen. Die Geschichten spiegeln oft auch allgemeine Erfahrungen wider.
Nachdem mein Büchlein „Herzwärts – Geschichten, die die Seele wärmen“ (Verlag am Eschbach 2019) so viel Resonanz fand, entstand bald die Idee einer Fortsetzung. Also sammelte ich neue Geschichten. Gelegentlich stieß ich in meinem Umfeld auf sie oder sie wurden mir zugetragen. Es dauerte nicht lange, und schon bald hatte ich mehr, als sich in einem Band unterbringen ließen. Nach welchen Kriterien durfte und sollte ich auswählen? Das war – wieder einmal – keine leichte Aufgabe. Letztlich habe ich mich auf mein eigenes Gefühl verlassen: Jede Geschichte musste zuerst einmal mich berühren und mein Innerstes erreichen, bevor sie Eingang in die vorliegende Auswahl fand.
Ich wünsche Ihnen viel Freude mit den Sternstunden-Geschichten – ob Sie sie nun lesen, vorgelesen bekommen oder ob Sie die Geschichten anderen Menschen vorlesen.
Andreas Wojak
Haben auch Sie eine „Sternstunden-Geschichte“ erlebt?
Dann schreiben Sie sie einfach auf und schicken Sie den Text an: sternstundengeschichten@t-online.de
Glück
Anna, meine zweieinhalbjährige Enkelin, ist ein ungewöhnlich zufriedenes und auch genügsames Kind. Sie kann lange versunken mit ihrer Puppenstube spielen, und wenn sie isst, dann wirkt das fast wie eine Meditationsübung: Löffelchen um Löffelchen schiebt sie sich gemächlich in den Mund. Als ich sie dabei beobachtete, hielt sie auf einmal inne, sagte – mehr zu sich selbst als zu mir –: „Hab ich ein Glück!“, und aß ruhig weiter.
Dagmar Dreyer
Das Wenigste gerade, das Leiseste,
das Leichteste, einer Eidechse Rascheln,
ein Hauch, ein Husch, ein Augenblick – wenig
macht die Art des besten Glücks.
Friedrich Nietzsche
Überraschung
Fünf bange Tage dauerte es nach der Lateinarbeit, bis unsere Lehrerin, Frau Herbold, mit den zensierten Arbeiten unterm Arm den Klassenraum betrat. Latein war mein Problemfach und meine Versetzung in diesem Jahr akut gefährdet.
Ich hatte auch Englisch bei der jungen Lehrerin, schon seit der 5. Klasse. Meine Begeisterung für diese Sprache spiegelte sich – auch als Ergebnis ihrer Art zu unterrichten – positiv in den schriftlichen Noten wider.
Ich muss dazu erklären, dass ich als Kind und Jugendlicher ein starker Stotterer war und mich nur dann meldete, wenn ich mir hundertprozentig sicher war. Frau Herbold hatte dafür Verständnis, denn sie nahm mich nur dran, wenn ich mich mit strahlendem Gesicht gemeldet hatte. Oder sie stellte ihre Fragen so, dass eine knappe Antwort möglich war. Andere Lehrer waren nicht so einfühlsam. Mit Schrecken denke ich noch heute daran, wie ich mathematische Formeln an der Tafel vor der Klasse erklären musste.
Jedenfalls liebte ich Frau Herbold. Und sie mochte mich wohl auch.
In der letzten Stunde vor der Klassenarbeit hatte Frau Herbold uns den eher vagen Hinweis gegeben, dass es um eine Übersetzung ginge. Als wir den Klassenraum verließen – ich war der letzte Schüler – sprach sie mich an und zeigte mir kurz die betreffende Textstelle im Lateinbuch.
Mit diesem „Geheimwissen“ ging ich am Nachmittag zu Herrn Kosta. Dieser lebte in unserm Dorf und es wurde so einiges über ihn gemunkelt – etwa dass er fälschlicherweise einen Doktortitel geführt hätte. Dennoch war er bei den Bauern im Dorf gern gesehen, weil er ihre Buchführung professionell erledigte. Auch die Damen mochten ihn. Herr Kosta – stets mit Anzug und Krawatte unterwegs – war von ausgesuchter Höflichkeit und redete sie mit „Gnädige Frau“ an, wobei er einen Handkuss andeutete, was nicht nur meine Mutter zu entzücken schien.
Überdies gab der Mann, der über hervorragende Sprach- und Mathematikkenntnisse verfügte, Dorfkindern wie mir, die zum Gymnasium gingen, Nachhilfe-unterricht. Ich bat nun Herrn Kosta, mir den lateinischen Text zu übersetzen, was er prompt erledigte. Danach lernte ich alles Satz für Satz auswendig und machte mir zur Sicherheit noch einen Spickzettel. Aber das erwies sich als überflüssig, der Text ging mir, als es ernst wurde, auch so gut von der Hand.
Nun kam also Frau Herbold mit den durchgesehenen Arbeiten und begann sie an die einzelnen Schüler zu verteilen. Es dauerte und dauerte, ich wurde zusehends nervöser. „Bernd, sehr gut!“, hörte ich sie zu meinem Nachbarn sagen. Danach sah sie mich an:
„Überraschung, Fritz, eine Eins! Weiter so!“
Die Eins hatte zur Folge, dass die Versetzung doch noch klappte.
Fritz Rinne
Was wäre das Leben,
hätten wir nicht den Mut,
etwas zu riskieren.
Vincent van Gogh
Die Geschichte vom Kalifen
Es ging um eine Operation in der Klinik, genauer: Ich war als Dolmetscher eingeschaltet worden, um die für die OP notwendige ärztliche Aufklärung für die Patientin ins Arabische zu übersetzen. Die Frau stammte aus Syrien und hatte gerade ein Kind geboren. Die Geburt war problemlos verlaufen, aber bei der Mutter hatte sich danach eine Komplikation eingestellt.
Als ich das Krankenzimmer betrat, saß die Frau auf der Bettkante, ihr Neugeborenes auf dem Schoß. Auf dem Stuhl daneben ihr Ehemann mit einem vielleicht zwei Jahre alten Mädchen. Der Arzt war noch nicht eingetroffen. Mir stieg sofort der strenge Geruch in die Nase. Offensichtlich musste das ältere Geschwisterkind gewickelt werden. Es litt sichtlich unter der vollen Windel.
Ich sprach das an, aber beide Erwachsenen machten keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Es war klar: Entweder musste der Vater das Kind wickeln, oder die Mutter musste es tun und in der Zeit das Neugeborene dem Vater anvertrauen. Der Vater sagte, er könne das Kind nicht wickeln – und das Neugeborene auf den Arm zu nehmen, das komme nicht infrage, das würde kein Mann tun.
Mir war die Situation unangenehm, und ich hätte am liebsten selbst gehandelt. Bei meinen beiden, inzwischen erwachsenen Söhnen die Windeln zu wechseln, war für mich immer eine Selbstverständlichkeit gewesen. Aber mir war auch bewusst, dass hier jetzt Behutsamkeit und Zurückhaltung gefordert war. Ich sagte deshalb den beiden, ich würde ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Sie ging folgendermaßen:
„Der Kalif Omar war ein barmherziger und gottesfürchtiger Mann. Gelegentlich mischte er sich unerkannt unter sein Volk, um zu erfahren, was man dachte und sprach. Mit seinem Begleiter traf er auf einen Mann, der völlig aufgelöst vor seinem Zelt saß. Er fragte den Mann, was ihm fehle. Der erzählte: ‚Meine Frau bekommt gerade ein Kind, und ich weiß nicht, was zu tun ist.‘ Daraufhin bat der Kalif seinen Begleiter, zum Palast zu gehen und die Ehefrau des Kalifen zu holen. Der Kalif machte unterdessen Feuer, kochte Wasser und bereitete das Essen zu. Bald kam die Frau des Kalifen und half der Gebärenden, ihr Kind auf die Welt zu bringen. Aus dem Zelt heraus sprach sie zu ihrem Ehemann: ‚Kalif Omar, richte dem Mann aus, dass seine Frau ein gesundes Kind zur Welt gebracht hat.‘
Als der Mann begriff, dass der Kalif zugegen war, wollte er sich hinknien und sich ehrerbietig bedanken. Doch der Kalif sagte ihm: ‚Du brauchst dich nicht zu bedanken. Was du allerdings sollst: dich in Zukunft selbst um deine Familie kümmern.‘“---
Noch bevor ich die Geschichte ganz zu Ende erzählt hatte, bemerkte ich, dass der Mann aufgestanden war, seine Frau anblickte und das Neugeborene in die Arme nahm. Jetzt konnte sie sich um die ältere Schwester kümmern, und sogleich waren alle entspannt.
Isam El-Korhaly
Nichts ist so erfrischend
wie ein beherzter Schritt
über die Grenzen.
Keith Haring
Osterbotschaft aus Shanghai
Als ich – gemeinsam mit meinem Mann – 2019/2020 für ungefähr ein Jahr in Shanghai lebte, habe ich ein Whatsapp-Tagebuch für meine Familie und meine Freunde zu Hause in Deutschland geschrieben. Eintrag vom Abend des Ostersonntags 2020:
„Er ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!“ lautet die Osterbotschaft und sie erreicht mich heute als Grußnachricht aller deutschen Christengemeinden in Asien, die wegen Corona keinen persönlichen Gottesdienst halten können und dies deshalb via Internet tun. Wir hier in der Anshun Road 389, im 25. Stock von Building 1, richten das Osterfest für unsere chinesischen Freunde aus, die dies zum allerersten Mal erleben.
Und wir machen es so, als täten wir es für unsere liebsten Menschen. Schon Tage vorher habe ich Osterkörbchen und Süßigkeiten zum Verstecken für die Kinder gekauft, Eierfarben im Internet bestellt, 30 handverlesene, fast weiße Eier hartgekocht und eingekauft wie ein Weltmeister. Lamm mit Ratatouille und Rosmarinkartoffeln als Hauptgericht, Salat mit Baguette vorweg und zum Nachtisch selbstgemachten Joghurt mit Erdbeeren in Vanillezucker – das ist mein Plan, weil ich weiß, das hätte ich auch für die Meinen in Deutschland gemacht. Wenn ich dort wäre, bei meiner Familie.
Hätte, könnte, wäre – der Flug nach Deutschland ist ins Wasser gefallen, und ich fange gleich nach dem Frühstück mit den Vorbereitungen für unseren Ostersonntag an. Wie sonst auch.
Ich erlaube es meinem Herzen nicht, schwer zu werden, denn allen, die mir wichtig sind, geht es gut, auch wenn sie nicht bei uns sind und wir ein Osterfest vorbereiten für Menschen, die unsere Sprache nicht sprechen und unseren Glauben nicht teilen.
Diese lieben Menschen, die wir heute an unseren Tisch geladen haben, malen mit viel Freude die Ostereier an und suchen vergnügt die versteckte Schokolade. Dann essen sie tapfer ein bisschen Salat – schmeckt sehr sauer, finden sie. Und das Ratatouille? Na ja … Das Lammfleisch ist okay und die Ofenkartoffeln auch. Erdbeerquark, hmmmm, good!, davon isst jeder zwei bis drei Portionen, und sie lachen, als ich ihnen erzähle, dass meine Söhne jetzt bestimmt neidisch auf sie wären, weil das ihr liebster Nachtisch ist: „Erdbeerjoghurt, so wie du ihn machst, Mama, ist einfach das Beste überhaupt!“
Auf einmal verstehe ich, was anders werden muss auf dieser unserer einen Welt. Hier in Shanghai sitzen jetzt die „Meinen“ an diesem Tisch, auch wenn ich die „anderen Meinen“ zu Hause in Europa sehr vermisse. ‚Wir müssen einander lieben oder untergehen!‘ geht es mir durch den Kopf und ich klatsche mit der kleinen Kerry vor Freude in die Hände.
Ich winke unseren Freunden nach, als sie mit ihren Oster-Schätzen in den Fahrstuhl steigen, und schicke einen Gruß nach Hause: „Ich wünsche Euch frohe Ostern, wo immer Ihr gerade seid. Ich habe heute sehr gut für Euch gekocht! Bleibt gesund, bleibt behütet!“
Steffi Kujadt
Das Glück ist das einzige,
das sich verdoppelt,
wenn man es teilt.
Albert Schweitzer
Die Suche nach dem Pirol
Es war in den fünfziger Jahren, als einmal mein Bruder Jan verloren ging. Unsere Mutter hatte ihn in den Bus gesetzt, und in dem Dörfchen Ulbargen sollte er aussteigen und zu den Großeltern laufen. Jedoch traf er dort nicht ein, und so wurde schließlich eine große Suchaktion gestartet. Alle hatten Angst, der Sechsjährige könne in den großen Kanal gefallen sein, der dort entlang führte. Schließlich wurde Jan aber doch heil und unversehrt gefunden, und zwar in einem etwas abgelegenen kleinen Wald. Er habe dort einen Pirol beobachten wollen, erklärte er den Erwachsenen. Großvater habe ihm davon erzählt.
„Aber konntest du dir denn gar nicht vorstellen, dass wir dich vermisst haben?“, fragte ihn unsere Großmutter. Jan schüttelte nur den Kopf und sagte:
„Ich war doch da!“
Rainer Schönberger
Das Wunderbarste an den Wundern ist, dass sie manchmal wirklich geschehen.
Gilbert Keith Chesterton
Leben und Tod
Der Oberarzt der Universitätsklinik nahm mich zur Seite. Meine Frau lag dort mit einer schweren Krebserkrankung, es stand nicht gut um sie. Der Arzt fragte mich, ob ich mir schon Gedanken über eine dauerhafte Betreuung unserer beiden kleinen Kinder gemacht hätte. Er wusste um unsere Lage – und auch davon, dass ich an meine Grenzen kam: die Dauerbesuche in dieser weit entfernten Klinik, die Sorge um meine Frau, die Kinder …
Ich antwortete ihm, dass ich sehen müsse, wie sich die Situation entwickle. Etwas unvermittelt sagte er daraufhin:
„Ihre Frau hat schätzungsweise noch drei Monate zu leben.“
Der Satz ging tief in mich hinein, und doch spürte ich gleichzeitig, wie sich eine große Gelassenheit in mir ausbreitete, verbunden mit einer Kraft, die ich direkt wahrnehmen konnte. Ich antwortete dem Arzt:
„Sie machen Ihre Arbeit, und Sie machen sie sehr gut. Wir glauben an Gott. Und daran, dass er über Leben und Tod entscheidet.“
Meine Frau wurde bald wieder gesund. Aus den drei Monaten sind inzwischen mehr als zwanzig Jahre geworden.
Ibrahim Al-Rashid
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