DSA: Rabenerbe

- -
- 100%
- +
»Kümmere dich bitte darum, Reto«, wandte er sich an seinen Beschützer. Ein mattes Lächeln kroch über seine Lippen. »Und komm danach zu mir.«
Der Mittelreicher runzelte die Stirn, aber er sagte nichts, sondern nickte nur. Dankbar sah ihm Amato nach, und wieder einmal spürte er dieses tiefe Bedauern, Reto nicht alles anvertrauen zu können. Sich einfach in seinen Armen zu verlieren, nicht denken zu müssen.
Amato straffte die Schultern und atmete durch, um das beengende Gefühl abzuschütteln, das sich um seinen Hals gelegt hatte. Er durfte darüber nicht nachdenken. In dieser Welt gab es keinen Platz für starke Arme, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, Reto zu verlieren. Al’Anfa war eine großzügige Herrin, aber sie war auch grausam. Und die Erinnerung an Vittorios Tod brannte zu tief, als dass Amato sie vergessen konnte.
Sein Arbeitszimmer war schlicht und mit Blick auf den Ludus angelegt, sodass Amato vom Schreibtisch aus dem Geschehen auf dem Sandplatz folgen konnte. Zwei Gladiatorenpaare übten gerade eine Schlagabfolge. Die Stimmen der Kämpfer und die Geräusche der Stadt drangen zu ihm hinauf und mischten sich mit dem grellen Keckern eines Affen, der irgendwo über ihm auf dem Dach hocken musste. Die Schwüle war inzwischen fast unerträglich, die Luft hing drückend über den Hängen des Visra, über denen sich bereits die Wolken ballten und das Licht der Praiosscheibe verdunkelten. Kein halbes Stundenglas, dann würde der mittägliche Regen über die Stadt niedergehen und die Hitze, den Gestank und die Schwüle für einen Moment mit sich reißen. Und vielleicht konnte er dann wieder klarer denken.
Amato starrte auf das Blatt Papier, auf dem er versucht hatte, die Ausführungen der Offizierin in eine Ordnung zu bringen. Er hätte seinen Sekretär mitnehmen sollen, um Notizen zu machen, dachte er seufzend, während er eine Zahl änderte, kurz nachdachte und sie dann erneut umschrieb. Er hatte darüber nachgedacht, war aber wieder davon abgekommen, weil er es nicht mochte, wenn jemand neben ihm stand und jedes Wort notierte. Inzwischen wäre er froh gewesen, hätte er es getan.
Schwere Schritte lenkten seine Aufmerksamkeit zur Tür, und im nächsten Moment klopfte es. »Don Amato?«
»Reto!« Erleichtert ließ Amato die Feder sinken und sprang auf, zwang sich dann aber doch dazu, neben dem Schreibtisch stehen zu bleiben. »Komm herein. Gibt es etwas Neues?«
»Wegen des Neuzugangs? Ja.« Der Beschützer schloss die Tür hinter sich und wandte sich zu Amato um. Sein kantiges Gesicht blickte grimmig. »Ihr solltet über Eure Vorliebe für Nordländer nachdenken. Dieser hier weigert sich, zur Ergötzung der Massen zu kämpfen. Er verweigert nahezu alles. Die Lanista hat ihn festketten lassen, weil er sie angegriffen hat.« Reto zuckte mit den Schultern. »Er hat ihr eine Ohrfeige gegeben und sie eine elende Sklavenschinderin genannt. Ich habe ihr untersagt, ihn zu bestrafen, ehe Ihr mit ihm gesprochen habt.«
»Und du meinst, das würde etwas nutzen?« Amato schmunzelte flüchtig. »Er erinnert mich sehr an dich damals. Meinst du, ich sollte ihn freilassen? Ist es das, was er will?«
»Das wollen sie alle, Amato.« Reto sah ihn ernst an. »Das wollen alle, die für Euch in die Arena gehen.«
»Du hast trotzdem für mich gekämpft. Obwohl ich dich freigelassen habe.«
»Weil Euer Onkel Euch keine Wahl gelassen hat. Aber es geht hier nicht um mich.« Reto verengte die Lippen und blickte hinüber zum Fenster, von wo aus nun die harsche Stimme der Lanista zu ihnen hochdrang. »Seht ihn Euch an und sprecht mit ihm, ehe Ihr eine Entscheidung trefft. Und wenn Ihr meine Meinung hören wollt, dann lasst ihn in der Zwischenzeit angekettet. Irgendetwas an diesem Mann gefällt mir nicht.«
»Gut, dann werde ich es so machen.« Amato nickte und trat wieder hinter den Schreibtisch. »Aber wenn du schon einmal hier bist, bleib bitte einen Moment. Ich denke gerade über das nach, was mir die Offizierin gezeigt hat. Was hältst du davon? Von der Flotte«, fügte er schnell hinzu, als Reto die Stirn runzelte.
Der Mittelreicher zuckte mit den Schultern, aber er trat näher und warf einen Blick auf die wirren Aufzeichnungen, die Amato angefertigt hatte. »Es sind erstaunlich viele Schiffe. Der General hat irgendetwas vor. Aber das ist vermutlich nicht das, was Ihr von mir hören wollt, oder?«
Amato biss sich auf die Lippen. »Nein«, gab er zu. »Ich sehe selbst, dass es viele Schiffe sind. Und ich weiß, was der General plant. Aber darum geht es nicht.«
»Das dachte ich mir.« Retos Mundwinkel zuckten flüchtig. »Vielleicht sagt Ihr einfach frei heraus, was Euch beschäftigt? Anstatt nach einem Vorwand zu suchen, ein Gespräch zu beginnen?«
»Du hast recht.« Amato seufzte leise und trat an Reto vorbei ans Fenster. Der Himmel hatte sich inzwischen weiter verdüstert, und die Schwüle schien fast unerträglich. »Es ist schwer, in Worte zu fassen. Ich habe ... seit Wochen das Gefühl, als müsse bald etwas geschehen. Etwas Wichtiges. Ich kann es nicht benennen, es ist einfach da, wie ein Bauchschmerz, der nicht vergehen will.« Er wandte den Kopf zu Reto. »Verstehst du, was ich meine?«
»Nein.« Reto sah ihn ruhig an. »Doch ich stehe den Göttern auch nicht so nahe, wie Ihr es tut. Manchmal wünschte ich mir, es wäre so, doch vielleicht ist es besser, unwissend zu sein. Habt Ihr mit dem General gesprochen?«
Amato schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn nicht wegen eines Bauchgrimmens behelligen, für das ich selbst keinen Namen habe. Alena Karinor würde wahrscheinlich unterstellen, ich habe etwas Falsches gegessen.«
»Ihr tut es nicht, weil Ihr den Spott fürchtet?«
Amato hatte unwillkürlich die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, entließ sie aber sofort wieder, als es ihm bewusst wurde. »Nein«, widersprach er eine Spur zu heftig. »Wenn ich sicher wüsste, dass es eine Warnung ist, würde ich es tun. Aber die göttliche Marbo schweigt. Ich träume nicht, seit Wochen schon.«
Reto hob spöttisch einen Mundwinkel. »Vielleicht habt Ihr doch etwas Falsches gegessen.« Er schüttelte den Kopf, wieder ernst. »Nein, Amato. Wenn Ihr von mir einen Rat haben wollt, dann gebe ich Euch einen. Hört auf, Euch nach dem zu richten, was andere von Euch erwarten. Die wissen ohnehin, dass Ihr von all dem Säbelrasseln nichts versteht. Warum versucht Ihr es überhaupt?« Reto griff nach dem Blatt mit den Aufzeichnungen, betrachtete es einen Moment lang, ehe er es kopfschüttelnd wieder beiseitelegte. »Der Schwarze General hat genug Soldaten um sich herum, dass er Eure Stimme nicht braucht, wenn er tatsächlich einen Feldzug plant. Spielt Euer eigenes Spiel und nutzt Eure Stärken. Seit Jahren tut Ihr, was sie Euch sagen, ob es nun Euer Onkel ist oder der General. Und Ihr denkt nicht einmal darüber nach, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Es ist kein Wunder, dass Euch nicht einmal diese selbstgefällige Offizierin Respekt entgegenbringt.«
»Ich bin schwach, nicht wahr? Das ist es doch, was du glaubst.«
»Ich halte mich nicht damit auf, Dinge zu glauben. Ich sehe, was ich sehe.«
»Ach, und was siehst du?«
Die Lippen des Beschützers formten ein schiefes Schmunzeln, während er Amatos Blick ungerührt erwiderte. »Ich sehe einen Granden, der mehr ist, als er sein will. Der sich versteckt, anstatt sich zu nehmen, was ihm die Götter vor die Füße geworfen haben. Ihr seid die Stimme des Generals. Vergesst das nicht.«
»Ich weiß, was ich bin«, antwortete Amato ungehalten. »Deshalb bemühe ich mich um den Frieden mit den großen Häusern, auch wenn es mich anekelt, wie sie mich betrachten und darüber nachdenken, wie ich mich in ihre nächste Orgie einfüge, anstatt sich anzuhören, was ich ihnen zu sagen habe.«
»Und dennoch tut Ihr es.«
»Es ist meine Pflicht.«
»Die wem nützt? Euch? Eurem General?« Reto stieß leise schnaubend Luft durch die Nase aus. »Ihr gehorcht ihm, weil er Euch vor Eurem Onkel schützt.«
»Ich stehe an der Seite des Generals, weil ich es für das Richtige halte. Ich habe keine Angst vor meinem Onkel«, fuhr Amato auf, aber er wusste selbst, wie leer seine Worte klangen. Er hatte Angst, aber nicht um sich selbst, sondern um Reto. Um Ismelde, um Cortez, um alle, an die er sein Herz gehängt hatte, obwohl er es nicht wollte. Und damit machte er sich zum Niemand in diesem Spiel. Goldo hatte ihn als Kind zweier Vipern bezeichnet, aber er war ein Schoßhund geblieben. Beliebt, aber harmlos, weil er es nicht wagte, das Spiel nach seinen Regeln zu spielen.
»Vielleicht muss ich selbst zur Viper werden«, sagte er leise und hob die Hand, zögerte aber, sie auf Retos Brust zu legen. Langsam ließ er sie wieder sinken. Er wich dem Blick des Nordländers aus, als er sich abwandte und wieder ans Fenster trat.
»Geh bitte.« Er atmete tief ein, um die Frische des Regens aufzunehmen, der sich inzwischen wie ein grauer Vorhang über die Stadt gelegt hatte. Hinter sich hörte er, wie Reto sich bewegte, unentschlossen, doch dann klang das dumpfe Geräusch der Faust auf dem ledernen Brustpanzer, und die Schritte entfernten sich.
Amato starrte hinaus in den Regen, während die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
II
Said
Der Durstige Hai war eine Taverne von vielen, die sich zwischen den Brabaker Baracken und dem Hafen drängten und in denen der Wein gepanscht und die Huren billig waren. Hier traf sich der Bodensatz der Schwarzen Perle, lichtscheue Gestalten, die ihre Dienste für ein paar Kupferstücke feilboten. Gestrandete Existenzen, die ihr jämmerliches Dasein im Reisbrand zu ertränken suchten, ehemalige Sklaven und Tagelöhner, die oft nicht wussten, wovon sie die hungrigen Mäuler zu Hause stopfen sollten, und das wenige Geld lieber versoffen, als schimmligen Reis davon zu kaufen. Dazwischen fand man auch fremde Gesichter, Seeleute aus dem Norden, die die Neugier auf das verruchte Al’Anfa hierhertrieb, oder Questadores mit großen Träumen, aber kaum einem Dirham in den Taschen. Al’Anfa war eine Stadt, die Träume verschlang, und das galt mehr als irgendwo anders für die heruntergekommenen Kaschemmen zwischen Baracken und Hafen, wo dem Rausch viel zu schnell die Ernüchterung folgte.
Gewöhnlich mied Said Spelunken wie den Hai. Nicht, weil er sich vor dem fürchtete, was ihn dort erwartete. Diese Art Furcht hatte ihm Meister Darjin schon vor Jahren ausgetrieben. Die Gestalten, die im Durstigen Hai ein- und ausgingen, witterten, wenn man Angst vor ihnen hatte. Angst verriet Schwäche, und wer schwach war, wurde in dieser Stadt gefressen.
Said war nicht schwach, und wahrscheinlich zählten Meister Darjins Schüler zu den gefährlichsten Raubtieren der Stadt. Doch auch sie mussten sich vor dem Jäger in Acht nehmen, wenn man sie entdeckte, ehe sie zum tödlichen Sprung ansetzen konnten. In einer Kaschemme wie dem Hai lief man ständig Gefahr, sich seiner Haut erwehren zu müssen und dabei unbeabsichtigt mehr von sich preiszugeben, als gut war. Dass Said trotzdem Krüge mit billigem Reisschnaps und Wein durch den rauchverhangenen Schankraum schleppte, war Teil der letzten Prüfung, die ihn frei machen würde. Er arbeitete erst seit einigen Tagen im Durstigen Hai, aber er hatte genug Zeit und Gelegenheit gefunden, sich umzusehen und herauszufinden, dass ihn die Gäste mochten, auf eine Art, wie man hier eben einen jungen Burschen mochte, der ein hübsches Gesicht und ein wenig Mohablut in den Adern hatte.
»He, Süßer!« Eine Seefahrerin, der eine Fieberfäule das halbe Gesicht zerfressen hatte, hob ihren Krug und schwenkte ihn auffordernd. »Schenk uns ein! Geht auf mich, die Runde!«
Johlen begleitete ihre Worte, als die anderen zustimmend ihre Becher auf die zerfurchte Tischplatte donnerten. Es waren raue Gesellen, Schmuggler oder heruntergekommene Freibeuter, die unter der Flagge der Rabenstadt segelten. Der Durstige Hai lag nah genug am Hafen, um den Abschaum der Meere anzuziehen, Männer und Frauen, die nicht viel zu verlieren hatten und ihre Heuer lieber mit schmutzigen Huren und schlechtem Fusel durchbrachten, als sie mit in Efferds Arme zu nehmen. Vermutlich war das der Grund, warum der Wirt ausgerechnet hier eine Taverne unterhielt. Seeleute brachten Neuigkeiten, und es gab kaum einen anderen Ort, wo so viele Nachrichten aus aller Welt zusammenliefen wie in den Kaschemmen am Hafen.
Said nickte, um anzuzeigen, dass er verstanden hatte, und schob sich zwischen den Tischen hindurch zur Theke.
»Wein«, sagte er mit gesenktem Blick, während er die leeren Krüge abstellte. Er vermied es, den Wirt anzusehen, wenn er sprach. Als er im Hai angefangen hatte, hatte er vorgegeben, ein Freigelassener zu sein, der nach dem Tod seines Herrn auf der Straße saß und verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, ein paar Dirham zu verdienen. Der Wirt hatte nicht nachgefragt, aber Said war der Blick nicht entgangen, mit dem ihn der Mann gemessen hatte. Said kannte diese Art Blick. Es war der gleiche, mit dem Nuradjian ihn gelegentlich ansah, wenn er meinte, Meister Darjin bemerke es nicht. Said war es nur recht, wenn der Wirt sich mehr als den Schankdienst erhoffte. Es machte seinen Auftrag leichter.
Der Wirt nickte kaum merklich, und sah an Said vorbei zu dem Tisch mit den Seeleuten. »Halte dich von der Rothaarigen fern«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Sie hat ein Auge auf dich geworfen. Denk nicht einmal daran, verstanden? Ich bezahle dich, und du tust, was ich dir sage.«
Said hob den Kopf, um den Blick des Wirts zu erwidern, eine Winzigkeit zu lang. »Natürlich«, sagte er leise. »Ihr bezahlt mich.«
»Vergiss das nicht.« Der Wirt packte die Krüge, um sie aufzufüllen. Wein schwappte über den Rand und lief über seine schwieligen Pranken, als er sie zu Said hinüberschob. »Beeil dich und kümmere dich dann um den Tisch an der Tür. Die brauchen nicht mehr viel.«
Said nickte. Er kannte die Geschäfte des Wirts inzwischen, der daraufsetzte, seine Gäste so betrunken zu machen, dass sie sich nicht einmal an ihren eigenen Namen erinnern konnten und sich nicht beschwerten, wenn er die Zeche kurzerhand selbst aus ihren Geldbeuteln nahm. Immer ein paar Münzen zu viel. Es war ein einträgliches Geschäft, zumal die Stadtwache sich nicht groß darum scherte, was hier unten am Hafen geschah.
Said brachte den Wein zu dem Tisch mit den Seeleuten und schenkte ein, während er sich innerlich sammelte. Das war die Gelegenheit. Wenn er nicht noch weitere Abende im Hai verbringen wollte, musste er die Dinge in die Hand nehmen und den Wirt endlich dazu bringen, etwas zu unternehmen.
»Der Wein«, sagte er überflüssigerweise und streifte dabei wie zufällig den Arm der Matrosin. Ein scheues Lächeln huschte über seine Züge. »Ruft, wenn Ihr noch etwas braucht.«
»Nicht so hastig, Süßer.« Wie erwartet packte die Frau sein Handgelenk. Sie grinste und offenbarte dabei eine Reihe schlechter Vorderzähne. »Du leistest uns doch sicher etwas Gesellschaft, hm? Na los, trink einen mit uns.«
Mit einem Ruck zog sie ihn auf ihren Schoß und legte den Arm um ihn. Die Ausdünstungen ihres ungewaschenen Körpers stiegen Said in die Nase, und für einen winzigen Moment verspürte er das Verlangen, sich loszureißen und der Matrosin mit ihrem eigenen Krug die Kehle aufzuschneiden. Noch vor ein paar Jahren wäre es ihm schwer gefallen, gelassen zu bleiben, und auch jetzt spürte er die Wut, die wie ein wildes Tier in seinem Innern kratzte. Aber er hatte gelernt, das zornige Biest im Zaum zu halten. Er musste diese Rolle spielen, bis er seinen Auftrag zu Ende gebracht hatte. Danach würde alles anders sein.
»Ich muss arbeiten«, wandte er halbherzig ein, aber die Matrosin setzte ihm bereits ihren Becher an die Lippen und zwang ihn, einen Schluck von dem süßen Fusel zu nehmen.
Sie lachte. »Du musst gar nichts, mein Hübscher. Außer uns Gesellschaft leisten. Weißt du, ich hatte noch nie einen Waldmenschen. Das werde ich heute Nacht ändern, hm?« Ihre Hand griff lüstern in seinen Schritt.
Said presste die Kiefer aufeinander, um den Widerwillen hinab zu zwingen, der seine Finger kribbeln ließ. »Ich weiß nicht«, murmelte er, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet, damit die anderen nicht sahen, wie es in seinem Gesicht arbeitete. »Ich darf eigentlich nicht ...«
»Wieso darfst du nicht? Gehörst du etwa dem Wirt?«, fragte ein Nordländer mit roten Wangen und sonnenverbrannter Glatze. »Bist ein Sklave, hö?«
Said schüttelte rasch den Kopf. »Nein, aber ...«
»Natürlich gehört er mir«, grollte die tiefe Stimme des Wirts hinter ihnen. Gewichtig baute er sich vor dem Tisch auf. »Lass ihn los. Er hat zu tun.«
Die Gespräche an den Nachbartischen verebbten, sodass das Lachen der Rothaarigen eigentümlich in die plötzlich einsetzende Stille klang. Ohne jede Eile wandte sie sich dem Wirt zu, der sich vor ihr aufgebaut hatte.
»Hab dich nicht so.« Sie grinste frech, die Hand immer noch in Saids Schritt. »Er sagt, dass er dir nicht gehört, also kann ich ihn haben. Ich mach ihn schon nicht kaputt.«
Die Augen des Wirts verengten sich. Er war nicht groß, vielleicht einen halben Kopf kleiner als die Matrosin, und eher sehnig als muskelbepackt, aber Said wusste, wie sehr der äußere Schein trog. Die Rothaarige ahnte vermutlich nicht einmal, mit wem sie es hier zu tun hatte.
»Du nimmst jetzt die Finger von ihm.« Die Stimme des Wirts klang ruhig, aber es lag eine Kälte darin, die deutlich machte, wie ernst es dem Mann war. »Anschließend trinkt ihr aus und verlasst meinen Laden. Ich will euch hier nicht wiedersehen.«
Die Matrosin wechselte einen kurzen Blick mit ihren Zechkumpanen, offenbar verblüfft, dass der Wirt es wagte, ihnen zu drohen. Ein herausforderndes Grinsen umspielte ihre Lippen, als sie sich ihm wieder zuwandte. »Und wenn nicht?«
Der Mundwinkel des Wirts zuckte kurz. Dann schlug er zu.
Seine Faust traf die Nase der Frau mit einer Wucht, dass sie aufschrie und zurückgeschleudert wurde. Mit lautem Getöse ging sie samt Stuhl zu Boden. Die anderen Zecher sprangen erschrocken auf, und für einen Moment schien die Taverne den Atem anzuhalten.
Der Wirt packte Said und zerrte ihn auf die Füße. »In den Keller«, zischte er und versetzte ihm einen Stoß, der ihn zwischen den Tischen davonstolpern ließ. Aus den Augenwinkeln bemerkte Said, wie sich einige der Gäste langsam erhoben. Einen Herzschlag lang erwog er, sich der Aufforderung zu widersetzen, um im Handgemenge eine Gelegenheit zu finden, seinen Auftrag zu vollenden. Doch er verwarf den Gedanken gleich wieder. Die Gefahr, dass jemand etwas bemerkte, war zu groß. Aber wenn ihn der Wirt in den Keller schickte, würde er früher oder später nachkommen. Und dann wären sie allein.
Flink huschte Said hinter die Theke, von wo aus eine Treppe hinab in die Kellergewölbe führte. Hinter ihm wurden Stimmen laut. Stühle wurden geschoben, aber er zwang sich, nicht zurück zu schauen, während er eilig die dunklen Stufen hinabstieg.
Der Keller war in den Basalt gehauen und deutlich älter als der Rest des Hauses. Vielleicht so alt wie Al’Anfa selbst, denn während Tropenstürme und Brände das Gesicht der Stadt immer wieder veränderten, blieb die Unterwelt über Jahrhunderte davon unberührt. Es hätte Said nicht gewundert, wenn es hier auch irgendwo einen Zugang zum Labyrinth gab, das angeblich die ganze Stadt durchzog. Doch seine Suche war bislang erfolglos geblieben.
In einer Wandnische brannte eine Öllampe, die Said an sich nahm. Gewöhnlich entzündete er eine zweite Lampe an der Flamme, wenn er hier unten zu tun hatte, aber für das, was er vorhatte, war es besser, wenn es so wenig Licht wie möglich gab. Das Flackern des Dochts fing sich an den Fässern, die sich an der Wand reihten und mit schlichten Basaltbrocken am Fortrollen gehindert wurden. Auf der anderen Seite erhob sich ein klappriges Regal, in dem Flaschen mit Reisbrand gestapelt lagen. Die Luft roch abgestanden und muffig, nach altem Holz und saurem Wein. Am Rand des Lichtscheins huschte eine aufgeschreckte Ratte davon und suchte zwischen den Fässern Zuflucht.
Said strich mit der Hand über die Regalbretter, zerrieb den trockenen Staub zwischen den Fingerspitzen, ehe er durch den niedrigen Durchgang in den zweiten Kellerraum ging. Hier lagerten vor allem Gerümpel, kaputte Fässer, die der Wirt irgendwann reparieren wollte, Bretter, leere Säcke und allerlei Vorräte. Reissäcke stapelten sich an einer Wand, daneben großen Amphoren, in denen Oliven und andere Dinge in Öl aufbewahrt wurden. Der Geruch nach geronnenem Blut hing in der Luft, und als Said die Lampe hob, fiel der Lichtschein auf zwei frisch geschlachtete Selemferkel, die an Haken von der Decke baumelten. Auf einem Block daneben steckte ein schweres Schlachtmesser, an dessen Klinge noch Knochenreste und Blut klebten. Eine dicke Schicht Fliegen hatte sich auf dem Fleisch und dem Eimer mit den Eingeweiden niedergelassen, der neben dem Hauklotz stand.
Saids Blick wanderte umher, während er versuchte, sich alles so gut wie möglich einzuprägen. Jede Einzelheit war überlebenswichtig, vor allem im Kampf mit einem überlegenen Feind. Der Wirt war wahrscheinlich der gefährlichste Gegner, mit dem es Said jemals zu tun gehabt hatte. Meister Darjin hatte ihn alles gelehrt, was er über die Hand Borons wissen musste, die berüchtigte Meuchlergilde Al’Anfas. Dennoch spürte Said die Anspannung, die die Hand mit der Lampe zittern ließ. Die Worte des Meisters waren eindeutig gewesen: Said durfte der Hand Borons auf keinen Fall lebendig in die Hände fallen. Wenn er den Keller verließ, war er entweder erfolgreich, oder er starb bei dem Versuch.
Er schloss die Augen und ermahnte sich stumm zur Ruhe. Ein ruhiges Herz und ein beherrschter Geist waren zwei der wichtigsten Aspekte des schnellen Todes. Ein dritter war die Überraschung, der unvorhergesehene Moment, und der musste gelingen. Der Wirt ahnte nicht, was Said in Wirklichkeit war, und das war sein größter Vorteil.
Er kehrte in den Weinkeller zurück und stellte die Öllampe auf einem aufrecht stehenden Fass ab. Noch einmal sah er sich um, während er nach oben lauschte. Es schien alles ruhig, keine Schreie, kein Brüllen oder Krachen von Stühlen und Tischen. Nur das übliche Brummen zahlreicher Stimmen und Schritte auf dem morschen Dielenboden.
Said holte tief Luft, entließ den Atem langsam und bewusst durch die Zähne. Wenn er sich in dem Wirt nicht getäuscht hatte, war es soweit. Die Aufregung, die eben noch seine Brust eng werden ließ, war verschwunden und hatte einer abgeklärten Anspannung Platz gemacht. Der Wirt war nicht der Erste, den er tötete. In den Jahren, die er bei Meister Darjin verbracht hatte, hatte der Maraskaner ihn immer wieder auf die Probe gestellt. Anfangs hatte sich alles in ihm dagegen gesträubt, und als er erstmals ein Leben genommen hatte, hatten ihn wochenlang Alpträume verfolgt. Doch Al’Anfa war eine grausame Herrin, und wer nicht zerbrechen wollte, musste brechen. Also hatte Said gelernt zu töten.
Die Tür zum Schankraum scharrte auf den Holzdielen, schloss sich wieder, und ein leises Klappern zeigte Said an, dass der Riegel vorgeschoben wurde. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als die Schritte langsam die Treppe hinabstiegen.
»Du hast heute für einige Unruhe gesorgt.« Die Stimme des Wirts klang ruhig, beinahe erheitert. Er kam die letzten beiden Stufen hinab und trat in den Schein der Öllampe. »Das könnte mich einiges gekostet haben.«
»Haben sie denn nicht bezahlt?« Said machte einen halben Schritt zurück, bis er gegen das Fass stieß. Seine Hand grub sich in den ausgebleichten Stoff seines Hemds, während er dem Blick des Wirts auswich.
»Oh doch.« Der Wirt lachte leise. »Das haben sie. Aber sie haben zwei Stühle und ein Dutzend Becher zerschlagen. Hast du eine Idee, wie du das bezahlen willst?«
Said schüttelte den Kopf, sodass ihm die Haare ins Gesicht fielen. Seine Hand tastete nach dem Rand des Fasses in seinem Rücken. »Nein«, sagte er leise. »Ich habe kein Geld.«
»Das ist wohl das Problem. Und jetzt?« Der Wirt war stehengeblieben, vielleicht noch einen Schritt von ihm entfernt. Said spürte den Blick, der auf ihm ruhte. »Sieh mich an!«
Saids Kopf ruckte hoch, er starrte den Mann an, der ihn eingehend musterte. Der Wirt war nicht schön, aber auch nicht hässlich. Ein gewöhnliches Gesicht, das man rasch wieder vergaß, durchschnittlich und unauffällig. Wenn man es nicht wusste, würde man hinter diesem unscheinbaren Mann niemals einen gefährlichen Meuchelmörder vermuten.
Ein süffisantes Grinsen umschlich die Züge des Wirts. »Ich wüsste, wie du den Schaden wiedergutmachen kannst«, sagte er und senkte die Stimme. »Du bist ein hübscher Bursche, weißt du? Eigentlich viel zu hübsch, um Weinkrüge zu schleppen.« Er überbrückte den verbliebenen Raum zwischen ihnen mit einem Schritt. Said hielt die Luft an, als er den sehnigen Körper des Wirts so dicht an sich spürte, die Hand, die sich nachdrücklich an seinen Hintern schob.










