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»Dreh dich um«, flüsterte der Wirt rau an seinem Ohr. Er bleckte die Zähne zu einem raubtierhaften Grinsen. »Sag nicht, dass du das für deinen früheren Herrn nicht gemacht hast.«
Said presste die Kiefer aufeinander, drehte sich aber gehorsam um. Seine linke Hand suchte Halt am Rand des Fasses, während er mit der anderen damit begann, seinen Gürtel zu lösen.
Der Wirt lachte leise. »Ich sehe, du bist gut abgerichtet. Dann habe ich mich also nicht getäuscht. Leg dich über das Fass!« Ehe Said reagieren konnte, packte der Wirt ihn am Nacken und drückte ihn grob nach unten. Mit der anderen Hand zerrte er die Hose ein Stück herunter und drängte Saids Beine auseinander. Dann machte er sich an seiner eigenen Kleidung zu schaffen. »Halt still, dann wird es dir vielleicht auch gefallen«, keuchte er.
Said schloss die Augen, während seine Hand zum Stiefel wanderte, wo die Nadel im Schaft verborgen war. Sein Herzschlag beruhigte sich in dem Moment, als er den kalten Griff des Dolchs an seinen Fingern spürte.
Eins. Der verschwitzte Körper des Wirts drängte gegen ihn, gierige Lippen küssten seinen Rücken, seinen Nacken.
Zwei. Schwielige Finger griffen zwischen seine Beine, hart und fordernd, dann richtete sich der Wirt noch einmal auf, um sich in Position zu bringen.
Drei.
Die Augen des Wirts weiteten sich, als Said unter ihm herumfuhr und die Nadel vorzuckte. Doch im nächsten Moment wusste Said, dass er seinen Gegner unterschätzt hatte. Der Wirt warf sich zur Seite, sodass die Vierkantklinge nicht wie geplant die Kehle durchbohrte, sondern nur die Schulter streifte. Mit einem wütenden Aufschrei prallte der Mann zurück, machte einen Satz nach hinten, ohne dabei über seine heruntergelassene Hose zu fallen, und zerrte etwas unter seinem Hemd hervor.
Said stieß einen stummen Fluch aus und schlug die Öllampe zur Seite. Mit einem hässlichen Geräusch krachte sie auf den Basaltboden und erlosch. Schwärze umfing sie.
Hastig rollte er sich zur Seite und zog noch in der Bewegung die Hose hoch. Keinen Moment zu früh, denn im selben Moment schlug etwas hart auf das Fass ein, genau an der Stelle, wo er gerade noch gehockt hatte.
Mit einer schnellen Bewegung brachte sich Said außer Reichweite und zog den Gürtel wieder zu. Atemlos lauschte er in die Dunkelheit. Nun war das Überraschungsmoment vorbei, und sie waren beide Jäger und Gejagte. Der Gedanke ließ seinen Nacken kribbeln.
»So ist das also.« Die Stimme des Wirts klang erheitert, fast als freue er sich über einen gelungenen Scherz. »Du kleine, miese Made. Du hast wohl gedacht, leichtes Spiel mit mir zu haben, wie? Dann komm und bring es zu Ende.«
Said verharrte regungslos, hielt den Atem an, während er auszumachen versuchte, wo sich sein Gegner befand. Doch die Dunkelheit und der Widerhall in den engen Räumen machte die Orientierung nahezu unmöglich.
Schritte klangen auf dem harten Steinboden, hielten inne.
»Du meinst, du könntest dich vor mir verstecken?« Ein abfälliger Laut. »Glaubst du wirklich, du könntest mich in meinem eigenen Bau besiegen?« Langsam setzten sich die Schritte wieder in Bewegung, hallten von den Basaltwänden wider, schienen von überall zu kommen. »Ich weiß nicht, wer dich geschickt hat, aber es wäre gut, wenn du es mir sagst, bevor ich dich töte. Damit ich ihm deinen Kopf schicken kann.«
Saids Finger schlossen sich fester um den Griff seines Dolchs. Sein Herz raste, dass er meinte, der Meuchler müsste es in der Stille des finsteren Kellers sicher hören. Er wusste, schon der zweite Versuch würde viel schwieriger werden als der erste. Und einen dritten würde ihm ein Agent der Hand Borons mit Sicherheit nicht gewähren.
Er spürte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. Im letzten Augenblick fuhr er zur Seite, spürte einen scharfen Schmerz an der Schulter. Ein erstickter Fluch ertönte, als die Klinge abglitt und an die Wand schlug. Funken sprühten, und für die Dauer eines Herzschlags hatte Said eine Ahnung, wo sich sein Gegner befand.
Doch er saß wie gelähmt, und der Moment ging vorüber, und Said erwachte erst aus seiner Starre, als er vor sich den Dolch durch die Luft zischen hörte. Mit einem erschrockenen Satz tauchte er zur Seite, rollte sich ab und spürte mit einem Mal die warme Basaltwand in seinem Rücken. Seine Kehle war wie zugeschnürt, während er sich innerlich verfluchte, dass er die Gelegenheit hatte verstreichen lassen. Seine Hand tastete nach der Verletzung an der Schulter. Ein kleiner Schnitt, nicht viel mehr, aber er sandte ein Stoßgebet zu Boron, dass der Wirt keine Gelegenheit gefunden hätte, die Klinge zu vergiften. Sonst wäre die Jagd schneller beendet als ihm lieb war.
Er fuhr zusammen, als er vor sich ein Geräusch hörte, und sprang zur Seite. Mit dem Knie stieß er gegen etwas Hartes, Holz und dazwischen ein Tau, eine Kiste und etwas Längliches. Er musste in den Nebenraum gelangt sein, ohne dass er es bemerkt hatte. Hier könnte er sich vielleicht verstecken und auf eine Gelegenheit warten, dass dem Wirt ein Fehler unterlief.
Lautlos kam er auf die Füße und lauschte in die Dunkelheit. Um ihn herum herrschte bleierne Stille. Wie in einem Grab, ging ihm durch den Kopf, aber er schüttelte den Gedanken gleich wieder ab. Er hatte noch zu viel vor, um hier zu sterben. Und vor allem hatte er ein Ziel.
Vorsichtig bewegte er sich in die Richtung, in der er den Haufen mit den beschädigten Kisten vermutete, langsam und nach jeder Bewegung innehaltend. So fiel er auch nicht über den umgekippten Stuhl, der mitten im Raum lag und an den er nicht mehr gedacht hatte. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass das Holz über den Basaltboden schabte. Ein winziges Stück nur, aber das Geräusch zerriss die Stille wie Trommeln in der Arena.
Said fuhr herum, als hinter ihm ein Licht aufflammte. Für einen Moment starrte er auf die Lichtkugel, die auf ihn zuflog. Dann hechtete er zur Seite.
Noch ehe er aufkam, zischte etwas an seinem Ohr vorbei. Schwer prallte er gegen eine Kiste, die Nadel entglitt seinen Fingern und fiel mit leisem Klappern zur Seite zwischen die Trümmer. Said wusste, dass er sie verloren hatte, noch ehe sie zum Liegen kam. Hastig brachte er sich außerhalb der Reichweite des Lichts, das von einer kleinen Kugel ausging, dort, wo er gerade noch gestanden hatte. Ein magisches Licht, wie es schien, und auch, wenn es kaum mehr als zwei Schritt der Umgebung ausleuchtete, nahm es der Dunkelheit den schützenden Mantel.
»Wollen wir dieses Spiel nicht langsam beenden?« Die Stimme des Wirts klang spöttisch von einer Stelle außerhalb des Lichtkegels. »Ich werde dich sowieso finden. Und dann werde ich dich nehmen und anschließend töten.« Seine Schritte klangen dumpf auf dem Basaltboden. »Komm heraus, dann werde ich mir vielleicht überlegen, es schnell und schmerzlos tun.«
Said kauerte sich hinter einem Fass zusammen, wagte kaum zu atmen, während er spürte, wie Panik ihre tückischen Klauen um seinen Hals legte. Wie konnte er nur seine einzige Waffe verlieren? Wenn der Wirt ihn jetzt fand, hatte er nichts, was er ihm entgegensetzen konnte.
Er schloss die Augen und versuchte, sein rasendes Herz zur Ruhe zu zwingen. Er musste atmen, sein Gleichgewicht wiederfinden. Panik war der falsche Weg. Sie machte kopflos, ließ vergessen, was zu tun war. Er musste ruhig bleiben, nachdenken. Seinen Verstand gebrauchen und sich seiner Stärken besinnen.
Said spürte, wie die Luft durch seine Lungen zog, seine Gedanken langsam klärte. Es war seine letzte Prüfung, also musste er sich darauf besinnen, was er gelernt hatte. Eine Klinge war dann am gefährlichsten, wenn sie mit kalter Ruhe geführt wurde. Doch der Zweite Finger Tsas brauchte keine Klinge, um zu töten. In kundigen Händen war jeder Gegenstand ein geeignetes Werkzeug, und nur der Narr setzte sein Gedeih und Verderben auf eine Karte.
Said öffnete die Augen, starrte in die vom Licht der Kugel aufgewühlte Dunkelheit, während er sich daran zu erinnern versuchte, was er sich vorhin erst eingeprägt hatte. Jeden Winkel des Raumes rief er sich ins Gedächtnis zurück, bis er wusste, was er zu tun hatte.
Sein Körper spannte sich, während er nach dem Meuchler lauschte. Das Licht war weit genug entfernt, dass es seinen Winkel nicht erreichte, aber es half ihm, die Richtung abzuschätzen. Er hatte einen Versuch. Seine letzte Prüfung.
Mit einem Hechtsprung setzte er über das Fass hinweg, rollte sich auf der anderen Seite ab und kam zwischen zwei Kisten wieder auf die Beine. Noch in der Bewegung warf er sich zur Seite. Keinen Augenblick zu früh, denn im gleichen Moment krachte die Faust mit dem Dolch dorthin, wo eben noch sein Brustkorb gewesen war. Said ließ sich fallen und versuchte, seinem Gegner mit einem gezielten Tritt die Beine wegzufegen. Er trat ins Leere, aber der Fluch und das Poltern verrieten ihm, dass der Wirt beim Zurückweichen gestolpert sein musste.
Das war die Zeit, die Said brauchte. Mit einigen wenigen Sätzen war er an dem Hauklotz mit den Schweinegedärmen. Zielsicher griff er den Eimer mit den stinkenden Innereien und schleuderte herum, gerade rechtzeitig, um vor dem Licht der magischen Kugel die Gestalt auszumachen, die auf ihn zustürmte. Der Bottich traf den Meuchler am Kopf, Gedärm platzte auf und spritzte umher. Erschrocken prallte der Wirt zurück, fuhr sich mit einem Arm über das Gesicht, um die glibberigen Innereien wegzuwischen.
Es waren nur ein, vielleicht zwei Herzschläge, aber Said wusste, was er tun musste. Noch während der Eimer ganz in der Luft war, riss er das Schlachtmesser aus dem Block. »Begegne der Schwester«, zischte er und schlug zu.
Die Klinge glitt überraschend geschmeidig in die Kehle des Wirts, und erst, als Said sie mit einem Ruck zur Seite zog, spritzte das warme Blut hervor. Selbst im Halbdunkel konnte er den Unglauben erkennen, der sich auf dem Gesicht des Meuchlers ausbreitete. Ein röchelnder Laut versuchte, sich einen Weg durch die Kehle zu bahnen, doch es war nur Blut, das über seine Lippen trat. Dann sackte er auf die Knie, kippte langsam zur Seite und blieb schließlich regungslos liegen.
Said schloss die Augen, während er im Stillen Boron dankte. Bis zuletzt hatte der Agent der Hand ihn unterschätzt, und das war sein Todesurteil gewesen.
Er schlug ein Boronsrad über der Leiche und ging dann zu dem Licht hinüber, um es aufzunehmen. Neugierig betrachtete er die silberne Kugel, die aus zahllosen Poren heraus leuchtete. Er verstand leider viel zu wenig von Magie, um zu verstehen, wie sie wirkte, aber so etwas war praktisch. Vielleicht würde es ihm eines Tages auch möglich sein, sich ein solches Artefakt anfertigen zu lassen.
Er trug es wie eine Lampe vor sich her, während er zwischen dem Gerümpel nach der Nadel suchte. Als er schließlich das Auge des Wirts aus dem Schädel löste, flackerte das Licht bereits und erlosch kurz darauf.
Vorsichtig tastete Said sich zurück zur Treppe, die zum Schankraum führte, aber er stieg nicht hinauf, sondern klaubte das Zunderkästchen aus der Nische im Fels, um eine zweite Öllampe zu entzünden. Dann suchte er einige Flaschen Reisbrand aus den Regalen und leerte sie über der Leiche und im hinteren Raum aus. Die Zecher oben im Schankraum hatten oft geprahlt, der Brand aus dem Durstigen Hai stelle jedes Drachenfeuer in den Schatten. Als die Öllampe fiel, zeigte sich, dass sie recht hatten.
***
Die Brabaker Baracken waren eng, und sie stanken. Marode Mietskasernen boten hier all jenen ein Zuhause, die es sich nicht leisten konnten, in die höher gelegenen Viertel zu ziehen. Leinen mit zerschlissener Wäsche überspannten die Straßen, manchmal so tief, dass man sich bücken musste, um darunter hinweg zu tauchen. Selemferkel und halbnackte Kinder wühlten im Schlamm, Bettler hockten im Schatten und reckten ihre Schalen den Vorbeieilenden entgegen. Der Gestank von Unrat und billigem Rauschkraut hing in der Luft, deren schwüle Hitze das Atmen schwermachte. Hier hatte sich all das Treibgut gesammelt, das im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten in Al’Anfas Hafen angeschwemmt worden war. Ein Teil davon waren die Maraskaner, die von ihrer Insel geflohen waren und seitdem im Exil ausharrten. Sie gehörten zum Bild der Brabaker Baracken wie der Rabenfelsen zum Silberberg – bunt gekleidete Gestalten, die selbst im ärgsten Schmutz die Schönheit der Welt priesen und beiläufig den Besen zückten, um Rurs Schöpfung vom Dung eines Selemferkels zu befreien. Hier lag auch der Tempel der Zwillingsgötter Rur und Gror, und hier befand sich jenes Haus, in dem Said bald die Hälfte seines Lebens verbracht hatte, seit sein Vater ihn in Meister Darjins Obhut übergeben hatte.
Ein sternenklarer Nachthimmel stand über der Stadt, als Said den Hai verließ und sich auf den Rückweg machte. Er hatte die Spelunke unbemerkt durch ein Hinterfenster verlassen, während sich das Feuer hinter ihm langsam durch die Dielen des Schankraums fraß. Wenn er Glück hatte, reichte der Brand aus, um zu verschleiern, was geschehen war. Wenn nicht, würde die Hand Rache nehmen, doch darüber mochte er jetzt nicht nachdenken. Niemand wusste, wer er war, und er hatte nichts zurückgelassen, was ihn oder Meister Darjin verraten konnte. Dafür hatte er das Auge in der Tasche, das ihn endlich frei machen würde.
Öllampen brannten hinter den Fenstern der Mietskasernen und warfen ihr schummriges Licht hinaus auf die Gassen, als er schließlich in die Baracken eintauchte. Aus einer Taverne tönte lautes Lachen und Johlen, vom Hafen her klangen die Peitschenhiebe der Vorarbeiter, die die Lastsklaven zur nächtlichen Arbeit antrieben. Said zog den Mantel tiefer ins Gesicht, während er den stinkenden Pfützen auswich, die der nächste Regen ins Meer spülen würde. In den Baracken fragte niemand nach dem Woher und Wohin, und dennoch hatte er es sich angewöhnt, Betrunkenen und anderen Nachtschwärmern aus dem Weg zu gehen. Unauffälligkeit war seine wichtigste Waffe, und wenn er schon kein Allerweltsgesicht hatte wie der unglückliche Agent der Hand, so musste er umso mehr achtgeben, nicht unnötig aufzufallen.
Billige Huren und eine Handvoll betrunkener Gaukler hatten sich auf dem Platz vor dem Tempel eingefunden und krakeelten trunken in die Nacht, als Said sich an ihnen vorbeischob und in einer der dunklen Seitengassen verschwand. Meister Darjin lebte im Hinterhaus einer alten Mietskaserne, die fast ausschließlich von Maraskanern bewohnt war. Die meisten waren miteinander auf irgendeine Weise verwandt, auch wenn Said bald aufgegeben hatte, die Beziehungen nachvollziehen zu wollen. Die Verbundenheit unter den Exilanten sorgte jedoch dafür, dass nichts von dem, was im Hinterhaus geschah, nach außen drang. Das war auch gut so, denn Meister Darjin gehörte einst zur Bruderschaft vom Zweiten Finger Tsas, jener maraskanischen Meuchlergilde, die die Hand Borons in ihrer Stadt mit Stumpf und Stiel ausgerottet zu haben glaubte. Said wusste nicht, was damals genau geschehen war, aber er war sich sicher, dass die Hand nicht zögern würde, auch die letzte Saat zu vernichten, sollte sie von ihr erfahren.
Said durchquerte den düsteren Innenhof und stieg die hölzernen Stufen empor, die an der Außenwand des Gebäudes angebracht waren. Vereinzelt drang Licht aus den Fensteröffnungen, die wegen der mittäglichen Hitze kaum breiter waren als ein Spann. Oben angekommen verharrte er kurz und lauschte hinab in den Hof, ehe er zwei Mal klopfte und die Tür einen Spalt weit aufschob, um hineinzuschlüpfen.
Drinnen empfing ihn das Licht einer einzelnen Öllampe, die den Raum nur spärlich ausleuchtete. Entlang der Wände hatte man eine schmale Bank angebracht und davor einige Sitzkissen. Zerschlissene Vorhänge versperrten den Blick auf die angrenzenden Räume, aus denen das Gemurmel mehrerer Stimmen drang. Der Geruch nach gewürztem Reis, Konchsoße und Ingrim hing in der Luft wie ein schweres Parfüm, ein vertrauter Geruch über die Jahre, die er in diesem Haus verbracht hatte.
»Saidjian.« Rureschas dunkle Stimme erklang hinter einem der Vorhänge, der im nächsten Moment zur Seite geschoben wurde. Ein Lächeln lag auf ihren herben Zügen, als sie hindurchtrat und ihn einen Moment lang musterte. »Nuradjian hatte Zweifel, dass du es schaffen würdest. Aber ich sehe, du hast die Beute mitgebracht.«
Said warf einen Blick auf den Beutel an seinem Gürtel. »Du hast doch hoffentlich nicht daran gezweifelt?«, fragte er und hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Ich habe dir etwas versprochen. Du weißt, dass ich Wort halte.«
»Ich weiß. Und Meister Darjin weiß es auch. Nur Nuradjian, dieser dumme Schazak, nicht.« Rureschas Lächeln vertiefte sich, als sie auf ihn zutrat, und zauberte kleine Grübchen in ihre Wangen. »Ich könnte nie an dir zweifeln«, raunte sie an seinem Ohr und legte die Hand an seine Wange, um ihn im nächsten Moment innig zu küssen.
Said zog sie an sich heran, während er den Kuss ebenso stürmisch erwiderte. Die junge Maraskanerin teilte seit einem guten Jahr sein Lager, und auch, wenn sie nie darüber gesprochen hatten, spürte Said, dass es ihr mehr bedeutete als flüchtiges Vergnügen oder der Wunsch, nicht allein zu sein.
»Ich freue mich, dass ich dich überzeugen konnte«, flüsterte er atemlos an ihren Lippen, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. »Ist Meister Darjin da? Ich sollte ihn nicht warten lassen.«
Rurescha nickte. Ihre Hand ruhte noch einen Moment auf seiner Wange, ehe sie sie sinken ließ. Sie wies mit einer Kopfbewegung auf den Durchlass gegenüber der Eingangstür. »Die hohen Geschwister waren vorhin bei ihm, aber nun ist er alleine.« Ein wissendes Lächeln strich über ihr Gesicht. »Er wird erfreut sein.«
Das hoffte Said. Es war schließlich Meister Darjins Rache, die er verübt hatte. Der Agent der Hand hatte vor vielen Jahren Darjins rechtes Auge genommen, und dafür musste er bezahlen. Ein Auge für ein Auge, um die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Schönheit der Welt zu wahren. Nur der Tod des Wirts passte nicht ins Bild, aber Said hatte diese Disharmonie bereitwillig in Kauf genommen. Er war kein Maraskaner, und auch, wenn er im Laufe der Jahre viel über die Philosophie und das Wesen seiner Umgebung gelernt hatte, drehte sich die Welt für ihn auch dann weiter, wenn sie einmal nicht im Gleichgewicht war.
Der angrenzende Raum war eine niedrige Halle mit Dachgebälk und einigen aranischen Wänden aus Holz oder Flechtwerk, die einzelne Bereiche abtrennten. Das Haus war früher einmal in viele, kleine Verschläge unterteilt gewesen, die für wenige Oreal an jene Verzweifelte vermietet wurden, die froh waren, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Maraskaner hatten es ihren Bedürfnissen angepasst und die Räume erweitert, um sie je nach Bedarf zu unterteilen. Bis zu dreißig Menschen lebten hier, aber im Gegensatz zu der drückenden Enge der Mietskasernen gelang es ihnen, das Zusammenleben harmonisch zu gestalten. Während tagsüber unentwegt Leute kamen und gingen und ein stetes Surren und Brummen der Stimmen so allgegenwärtig war, dass man es kaum noch wahrnahm, war es jetzt am späten Abend ruhig geworden. Auf einer Palmmatte saß eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern auf dem Schoß. Sie schaute auf, als Said eintrat, und lächelte kurz, fuhr dann aber fort, in einem hölzernen Mörser Gewürze zu zerreiben. Ihr gegenüber hockte ein hagerer Mann, der an einem Stück Treibholz schnitzte. Sein Blick heftete sich einen Moment lang an Saids Gesicht, ehe er kaum merklich nickte.
Said erwiderte den Gruß des Wächters mit einer angedeuteten Kopfbewegung und trat an ihm vorbei zu der Wand, die den hinteren Bereich abtrennte.
Meister Darjins Reich war das Herz des Hinterhauses, jener Ort, wo man zusammenkam und wo man Hilfe und Rat fand, wenn man danach suchte. Es gab kaum Möbel, nur zwei niedrige Tische und eine Unzahl an Sitzkissen. Der alte Maraskaner saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem der zerschlissenen Kissen, dessen Farben im Laufe der Jahre ihre Leuchtkraft eingebüßt hatten. Sein Gesicht war eingefallen, sodass Wangenknochen und Kinn spitz hervorstanden. Die Haare waren an den Schläfen bereits ergraut und am Hinterkopf hochgebunden, den schütteren Bart hatte er in dürre Zöpfe geflochten. Eine Stoffbinde verbarg die leere Augenhöhle, während das andere Auge Said wach und aufmerksam entgegenblickte. Er war nicht allein, zu seinen Füßen kauerte das blutjunge Mädchen, das er erst kürzlich zur Frau genommen hatte, und neben ihm hockte Nuradjian, der Said neugierig entgegensah.
Meister Darjin wartete, bis Said sich ehrerbietig verbeugt hatte. Erst dann wies er auf eins der Kissen. »Du lebst, also warst du erfolgreich.« Es war keine Frage, lediglich eine Feststellung. »Du hast mir gebracht, worum ich dich gebeten habe?«
Said nickte und löste den Beutel vom Gürtel, um ihn vor dem alten Meister abzulegen. Dann ließ er sich nieder, die Beine untergeschlagen. »Er ist der Schwester entgegengetreten.«
»In aller Stille, hoffe ich?« Darjin hob fragend die schütteren Brauen, zog dann aber den Beutel zu sich heran und öffnete ihn. Ein zufriedener Zug glitt über sein Gesicht, ehe er ihn wieder sorgsam verschloss und zur Seite legte. »Preiset die Schönheit der Welt, der du das Gleichgewicht zurückgegeben hast. Ich bin zufrieden mit dir, Said. Sehr zufrieden.«
Said nickte erneut. Seine Mundwinkel zuckten, als er vergeblich versuchte, das stolze Grinsen zu unterdrücken. »Ich freue mich, dass ich Eure Erwartungen erfüllen konnte, Meister Darjin.«
»Mehr als das.« Der alte Maraskaner legte die Handflächen auf die untergeschlagenen Knie, als er den Blick seines wachen Auges wieder auf Saids Gesicht richtete. »Als dein Herr und Vater dich zu mir brachte, war es ein Gefallen, den ich ihm schuldete. Er kam zu mir, weil einige meinten, dass Bande zum Silberberg wertvoll für uns seien. Er wusste, was ich war, ehe die Hand uns jagte und vernichtete, und dennoch verriet er uns nicht. Deshalb habe ich ihm vertraut und dich zu mir aufgenommen. Zwölf Jahre bist du nun bei uns, zwei Mal vier und zwei Mal zwei Jahre. Du hast dich in allen Prüfungen bewiesen, die ich dir aufgetragen habe. Nun hast du den Kreis geschlossen, den die Hand vor vielen Jahren aufgerissen hat.« Sein Blick wanderte zu dem Beutel, ehe er zu Said zurückkehrte. »Es war die letzte aller Prüfungen. Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß. Daher entlasse ich dich nun als ehrbares Mitglied der Bruderschaft und verneige mich vor dir, Said mein Schüler.« Er bewegte den Oberkörper feierlich vor und verharrte einen Moment lang in der Verbeugung. »Deine Reise ist damit vollendet, aber jedes Ende ist nur der Beginn von etwas Neuem. Ruhe nun. Morgen werden wir über deine Abreise sprechen.«
Das Lächeln, das sich gerade noch mit jedem Wort mehr auf Saids Gesicht ausgebreitet hatte, erstarrte. Er blinzelte irritiert. »Abreise? Aber ...«
»Du wirst die Stadt verlassen.« Meister Darjin blickte freundlich, als habe er Saids Erschrecken nicht bemerkt. »In zwei Tagen fährt ein Schiff nach Khunchom. Ich werde dir eine Nachricht an den dortigen Ast des Zweiten Fingers mitgeben. Du wirst von unseren Mühen berichten und davon, dass es mir gelungen ist, Schüler zu unterweisen und einen neuen Ast zu begründen, der grünen wird und stark ist und nicht noch einmal abgeschnitten wird wie ein Blatt vom Stamme eines Axorda-Baumes.«
»Aber ...«, begann Said wieder, räusperte sich dann, um sich zu sammeln. Das durfte nicht sein. Er hatte in den letzten Jahren auf diesen Tag hingearbeitet, um endlich frei zu sein und sein Erbe anzutreten. Es war kein leichtes Erbe als Bastard eines Verräters, aber er war trotz allem der Sohn eines Granden. Der einzige, den sein Vater jemals anerkannt hatte. »Ich kann nicht gehen«, sagte er bestimmt. Erleichtert stellte er fest, dass seine Stimme ihm gehorchte. »Ihr habt selbst gesagt, meine Reise sei vollendet. Ihr habt mich entlassen. Damit kann ich selbst entscheiden, wohin mein Weg mich führt. Ich habe eine Aufgabe, die hier auf mich wartet.«
Meister Darjin lächelte mild. »Das Einzige, was in Al’Anfa auf dich wartet, sind die Dolche der Hand Borons, die dich jagen wird.«
»Und wenn schon.« Said machte eine abwehrende Geste. »Es gab kurz vorher einen Streit in der Taverne. Wahrscheinlich machen sie irgendwelche Seeleute für den Brand verantwortlich. Niemand wird glauben, dass ein verschreckter Schankbursche so etwas tun könnte.«
»Hochmut.« Meister Darjin hob tadelnd den Finger. »Begehe nicht den Fehler, die Hand zu unterschätzen. Das haben wir bereits einmal getan, und wenn auch kein Ding allein dastehen sollte, ist der Irrtum eine Ausnahme. Du wirst nach Khunchom gehen und meine Nachricht überbringen. Vielleicht wirst du eine Weile unter ihnen leben. Du bist zwar ein Fremdijin, aber du bist auch mein Schüler, und das macht dich zu einem von uns.«