DSA: Rabenbund

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»Das weiß ich nicht. Aber vermutlich tut Ihr das.« Said atmete langsam aus, um den Schwindel niederzuringen. Dann schob er vorsichtig die Beine von dem Bett und suchte den Boden unter den Füßen.
»Was hast du vor?«, fragte Amato erschrocken.
»Ich gehe.«
»Es wäre unvernünftig, jetzt aufzubrechen.«
»Das spielt keine Rolle.« Said brauchte einen kleinen Moment, um sich zu sammeln. Langsam erhob er sich – und fiel mit einem unterdrückten Fluch wieder zurück, als die Knie unter ihm nachzugeben drohten.
»Es ist unvernünftig«, wiederholte Amato, der keine Anstalten gemacht hatte, ihn zu stützen. »Bleib hier. Es macht für dich keinen Unterschied, und morgen wirst du vielleicht schon wieder so weit bei Kräften sein, dass du Donna Shantallas Häschern entkommen kannst.«
»Ich dachte, die lauern alle vorm Anwesen des Zornbrecht«, gab Said giftig zurück, aber er sah ein, dass der Grande recht hatte. Es war ohnehin nur der Magie des Hausmagus zu verdanken, dass er überhaupt schon wieder soweit hergestellt war, und es wäre mehr als leichtsinnig, sich in diesem Zustand auf die Straßen zu begeben. Er musste seine Schwester retten, die von Emilia Bonareth gefangen gehalten wurde, und er nützte Inion gar nichts, wenn er sich von dem nächsten Gassenschläger niederprügeln ließ.
»Morgen früh«, murmelte er resignierend und ließ sich auf die Kissen zurückfallen. »Morgen früh muss ich aufbrechen. Ich muss meine Schwester finden.«
»Du hast eine Schwester?«
»Ja«, antwortete Said knapp. Er griff nach dem Wasserglas. »Wenn ich schon bleibe, habt Ihr auch etwas zu essen für mich?« Jetzt, da die Anspannung langsam abklang, erinnerte ihn sein Magen schmerzhaft daran, wie ausgehungert er war.
Amato lachte erleichtert. »Natürlich. Ismene wird dir etwas bringen. Brauchst du sonst noch etwas? Der Heiler kann vielleicht ...«
»Nein. Nur etwas zu essen und meine Ruhe.«
»Sicher.« Fast erschrocken machte der Grande einen Schritt zurück, zögerte jedoch und schien einen Moment lang mit sich zu ringen, ehe er sich noch einmal Said zuwandte. »Bitte sag Bescheid, ehe du gehst«, sagte er leiser. »Mein Heiler sollte vielleicht doch noch einmal nach dir sehen, und ich ...«
»Ich brauche Euren Heiler nicht mehr, Don Amato«, unterbrach ihn Said. Erschöpft blinzelte er zu ihm hoch. »Danke für Eure Hilfe. Und nun lasst mich alleine. Ihr habt sicher noch anderes zu tun, als neben meinem Bett zu sitzen.«
Der Widerspruch stand Amato ins Gesicht geschrieben, aber er nickte, die Lippen fest aufeinandergepresst. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und verließ den Raum.
Said schloss die Augen und atmete tief durch. Er war wahnsinnig, dem Paligan zu vertrauen, trotz aller schönen Worte. Aber irgendetwas sagte ihm, dass er ihn nicht anlog. Vielleicht war es diese Art, wie er ihn ansah, die sich nicht entscheiden konnte, ob er entschlossen oder unsicher wirken wollte. Doch letztendlich war es gleichgültig. Morgen früh würde er weg sein, ehe jemand in diesem Haus erwachte. Was immer sich Don Amato von ihm erhoffte, es war besser, wenn er ging.
Amato
Mit der Dunkelheit war der Sturm gekommen. Blitze zuckten durch die Nacht und tauchten Al’Anfa in ein grelles, unwirkliches Licht. Der Wind heulte und toste, riss an Bäumen und Häusern, trieb Unrat vor sich her und alles, was man nicht in aller Eile in Sicherheit gebracht hatte. Es war nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit, und gewöhnlich begrüßte Amato Rondras grimmiges Toben. Der nächtliche Sturm hatte etwas Urtümliches, Reinigendes, und wenn er verklungen war, hatte er all die Fäulnis und Schwüle aus der Stadt gewaschen.
Heute jedoch fand Amato keine Ruhe. Seit Stunden schon saß er am Fenster und sah dem Unwetter zu, wie es über der Stadt wütete. Längst war er durchnässt vom Regen, der in feinen Rinnsalen über seine Stirn und seine Wangen rann, aber er spürte es kaum. Seine Augen brannten, während er in die Dunkelheit starrte, die immer wieder von grellen Blitzen durchbrochen wurde, und versuchte, nicht an den jungen Mann zu denken, der in seinem Gastgemach ruhte. Es gab Drängenderes, Wichtigeres, und er musste seine Gedanken auf anderes verwahren.
Irgendwo dort draußen im Dunkel lauerte ein Monster, das sich seinem Blick entzog. Es gab diese Verschwörung, dessen war er sich sicher, doch er tappte hilflos durch die Dunkelheit, blind und taub und ohne ein Ziel.
Er war deshalb an jenem Morgen sehr früh zu Rezzan Zornbrecht aufgebrochen, als die Unruhe ihm keine Ruhe mehr gelassen hatte. Er hatte mit ihm über seine Befürchtungen sprechen wollen, über den ehemaligen Rebellenführer Lucio, den er ins Vertrauen ziehen wollte. Doch dann war Said dagewesen, und seitdem hatte die Sorge um ihn alles andere gleichgültig werden lassen.
Amato schloss gequält die Augen, während seine Gedanken erneut abglitten. Etwas an dem Bastard berührte ihn auf eine Art, die er nur schwer ertragen konnte, und gleichzeitig mit einer Heftigkeit herbeisehnte, die ihn selbst erschreckte. Es war töricht, was er tat, und gefährlich. Dennoch war es da, wie dieser Sturm, der alle Vernunft hinwegfegte und ihn durchnässt und verzagt am Fenster sitzen ließ, während das Monster irgendwo dort draußen seine Krallen wetzte.
Amato atmete tief in die Kühle des Regens, spürte die Nässe auf der Haut und in den Haaren. Er durfte sich nicht verwirren lassen, nicht jetzt, da er all seine Kraft brauchte. Er musste etwas tun, und dennoch saß er hier und fühlte sich wie gelähmt, zerrissen zwischen dem, was er wollte, und dem, was er tun musste. Und immer wieder lockte der Gedanke, das alles hinter sich zu lassen und seinem Vetter Esmeraldo Platz zu machen. Es schien so einfach gerade, so betörend nah. Ein friedliches Ende und Ruhe, die es ihm erlaubte zu tun, was sein Herz ihm gebot.
Ein Regentropfen rann zwischen Amatos Wimpern, sodass er blinzeln musste, als er die Augen wieder öffnete. Sein Vater hatte gelächelt, als er gestorben war. Weil er geglaubt hatte, in ihm den Sohn zu haben, der nicht in seinem Schatten verblasste, sondern aus ihm hervortrat und verwirklichte, wofür es für Irato nach den Jahren im Exil zu spät gewesen war. Das Raubtier, das sein Vater in ihm gesehen hatte. Und Goldos Erbe.
Amato atmete schwer ein. Ein Blitz zuckte über dem fernen Silberberg, tauchte den Rabenfelsen für den Bruchteil eines Herzschlags in ein gleißendes, kaltes Licht. Er war seines Vaters Sohn, er war ein Grande. Er hatte die Macht zu gestalten, die Welt zu formen. Stattdessen wartete er ab, was andere über ihn verfügten, ließ sich umherschieben, benutzen, weil er nützlich war. Goldo, dem Hohen Rat, dem General ... Er saß dort, wo er heute war, weil er niemandem wehtat und es nicht wagte, selbst Hand an die Welt zu legen, um sie nach seinem Willen zu formen. Nicht einmal in seinem eigenen Haus.
Amato biss sich auf die Lippen, als der Gedanke fast schmerzhaft gegen seine Kehle drückte. Er musste ein Raubtier sein, wenn er etwas erreichen wollte und nicht nur verflossenen Gelegenheiten hinterhertrauern, die viel zu schnell vergingen und nichts als wehmütige Erinnerungen zurückließen.
Amato sprang auf. Wasser rann aus seinen Haaren und hinterließ zusammen mit dem tropfnassen Hemd kleine Pfützen, als er das Gemach durchquerte und auf den Flur hinaustrat. Einen Moment zögerte er, dann straffte er die Schultern und drückte entschlossen die Klinke hinab.
Das andere Zimmer lag ruhig. Ismene hatte die hölzernen Läden geschlossen, wie sie es immer tat, wenn Sturm aufkam, sodass man nur das Heulen des Windes und das Donnern vernahm. Amatos Herz schlug schneller, als er einen Schritt in den Raum hineinmachte. Ein eisernes Band hatte sich um seine Brust gelegt, das ihm den Atem nahm. Alles in ihm schrie danach, wieder zu gehen, wie er es all die Jahre getan hatte, bei Reto und allen, die sein Herz zu berühren drohten. Dennoch trat er näher, Schritt für Schritt bis an das Bett, auf dem Said schlief.
Er lag halb auf die Seite gelehnt, den Kopf auf den Arm gebettet. Eine Strähne seines schwarzen Haars war ihm ins Gesicht gefallen und schmiegte sich an die Wangenlinie, die im Zwielicht der Sturmnacht weicher schien als sie es war. Amato wagte kaum zu atmen, während er ihn stumm betrachtete und das Band um seine Brust das Klopfen seines Herzens zu ersticken schien. Vorsichtig beugte er sich vor und hob die Hand, zögerte erneut, ehe er die Fingerspitzen sacht an Saids Wange legte, um die Strähne beiseitezuschieben.
Im nächsten Moment drückte sich die Spitze des Dolchs an seinen Hals. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Said ihn an. »Was wollt Ihr?«, zischte er.
»Ich ...« Amato verstummte und versuchte, den Dolch beiseitezuschieben, aber die Klinge folgte ihm unnachgiebig. »Ich wollte nach dir sehen. Ich meine, dich sehen.«
»Das hat Eure Sklavin bereits getan.«
»Ich weiß.«
Er sah die Antwort, zu der Said bereits ansetzte, sah das verwirrte Stirnrunzeln. Argwohn blitzte in den dunklen Augen auf, wandelte sich in Ärger und schließlich in Erstaunen, als er endlich zu verstehen schien.
Langsam nahm er die Waffe beiseite. »Macht das nicht wieder«, knurrte er. »Sonst bringe ich Euch um.«
Amato wich einen Schritt zurück, als Said sich aufsetzte und die Beine aus dem Bett schob. »Was hast du vor?«
»Ich gehe.« Er richtete sich auf, kniff die Augen zusammen, als brauche er einen Moment, um sich zu sammeln. »Habt Dank für alles.«
»Aber du kannst nicht gehen!«, rief Amato hilflos, während Said an ihm vorbeiwankte und den Beutel mit seinen Sachen griff. »Draußen herrscht Sturm. Du brauchst Ruhe, und hier ...«
»Bei Sturm werden sie mich nicht bemerken«, unterbrach ihn der Bastard. Er drehte sich um und sah ihn an. Das Aufflackern der Blitze spiegelte sich in seinen Augen wieder, aber die Härte war aus seinem Blick gewichen. »Boron mit Euch, Don Amato.«
Amato stand wie betäubt, unfähig, etwas zu sagen. Erst, als Said bereits an der Tür war, löste sich die Erstarrung. »Wenn du Hilfe brauchst ... komm hierher«, rief er und fühlte sich im gleichen Moment furchtbar albern. Warum sollte er ausgerechnet zu ihm kommen, wenn er jetzt vor ihm floh?
Said hielt noch einmal inne, die Hand an der Tür. Er drehte sich nicht um, doch Amato sah, wie er nickte.
Amato ließ sich auf das Bett sinken und schloss die Augen, um gegen die Enge anzukämpfen, die ihn zu ersticken drohte. Er hatte sich aus der Deckung gewagt, aber er hatte verloren, und es blieb nicht einmal ein tröstender Traum.
Er fühlte sich elend.
II
Esmeraldo
Esmeraldo Paligan hielt die Hand locker auf den Knauf des Säbels gestürzt, während er neben dem alten Geweihten durch den Tempelgarten schlenderte. Die Schritte seiner Stiefel knirschten auf dem dunklen Kies, von dem die Nässe in dampfenden Schwaden aufstieg, wo ihn die Sonne berührte. Der Morgen war ungewohnt frisch nach dem Sturm, der in der Nacht über die Stadt hereingebrochen war und die drückende Hitze für ein paar Stunden vertrieben hatte. Vom Tempeldach krächzten die Raben, und in einiger Entfernung hörte man das Ächzen und Poltern der Sklaven, die die Überreste zerstörter Statuen aus dem Einschlagkrater bargen. Eine Geweihte in schwarzem Ornat überwachte die Arbeiten, während ein bulliger Vorarbeiter zur Eile antrieb.
»Es scheint sich tatsächlich um einen Sternenfall zu handeln, sehr ähnlich den Vorkommnissen, deren Berichte wir bereits gesammelt haben.« Brotos Paligans Stimme erinnerte ein wenig an die einer Krähe, kratzig und alt. Die goldgesäumte Robe fiel eine Spur zu weit über die mageren Schultern, die er trotz des Alters aufrecht hielt. Scharf, wie der Schnabel eines Raubvogels, saß die Nase in dem hageren Gesicht, und seine Augen blickten stechend, als er den Kopf wandte, um Esmeraldo anzusehen.
Als Kind hatte Esmeraldo Angst vor dem Hochgeweihten gehabt. Der Alte, der das Lachen stielt, hatte seine Mutter Brotos genannt, weil jede Feier schlagartig an Fröhlichkeit verlor, wenn der düstere Priester den Raum betrat. Sie hatten alle Angst gehabt vor dem harten, unnachgiebigen Mann, der wahrscheinlich längst Oberhaupt der Boronkirche geworden wäre, hätten die Honaks den Patriarchenthron nicht an sich gerissen. Jetzt, fast dreißig Jahre später, hatte Brotos Paligan seinen Schrecken verloren. Esmeraldo war kein Kind mehr, das sich vor einem Greis mit Krähennase fürchtete. Er war Präfekt, Commandante im Rat des Schwarzen Generals und niemand, der sich noch maßregeln ließ. Brotos Paligan hatte ihn zu sich gebeten. Als Bittsteller, auch wenn dieses Wort dem alten Geweihten sicher nicht über die Lippen gekommen wäre.
»Hat man den Stern geborgen?«, fragte Esmeraldo, während er einen prüfenden Blick zu den Arbeiten hinüberwarf. Der Anblick eines Geweihten, der im Gespräch durch die Gärten schlenderte, schien jedoch nicht außergewöhnlich, sodass man ihnen keine Beachtung schenkte.
Brotos deutete ein Kopfschütteln an. »Angeblich ist er an der Absturzstelle verglüht. Wenn es sich jedoch tatsächlich um einen gefallenen Stern handelt, wie man sie im Norden erlebt hat, halte ich das für sehr unwahrscheinlich. Ich nehme an, Amir Honak hat ihn heimlich bergen lassen und hält ihn im Tempel zurück. Er hat angeordnet, Stillschweigen über die Geschehnisse zu wahren. So unmittelbar vor der Kriegserklärung will er wohl Aufruhr vermeiden. Fallende Sterne sind und bleiben ein böses Omen.«
»Daran tut er gut. Die Truppen würden unruhig, wenn sie davon erführen. Allerdings halte ich es für ebenso gefährlich, den Zwischenfall zu ignorieren. Wenn es tatsächlich ein Fingerzeig der Götter ist, sollten wir es ernst nehmen. Al’Anfa hat zu viele Kriege verloren, um Vorzeichen zu ignorieren.«
»Nicht jedes Vorzeichen ist eindeutig. Ein gefallener Stern kann vieles bedeuten. Eine Niederlage, ein schwerer Verlust, das Ende des Imperiums, der Boronkirche ... oder schlicht des Hauses Honak.« Ein durchdringender Blick streifte Esmeraldo, ehe der alte Geweihte wieder in den lockeren Plauderton verfiel. »Sicher werden wir versuchen, den Willen der Götter zu ergründen. Das müssen wir tun. Der Einschlag ist selbstverständlich nicht unbemerkt geblieben. Außerhalb des Tempels redet man bereits, und man fragt sich, was der Honak zurückhält. Es werden weitere Fragen gestellt. Fragen, die richtig angeleitet Zweifel nähren.« Seine schmalen Lippen formten ein wissendes Lächeln. »Diesen Dolch hat uns der Patriarch selbst in die Hand gedrückt. Nun gilt es, ihn geschickt zu nutzen.«
»Ihr wollt den Sternenfall so deuten, dass das Unheilsomen dem Patriarchen gilt?«, fragte Esmeraldo.
»Ich werde gar nichts deuten. Das wird ganz von selbst geschehen. Aber es ist sinnvoll, die richtigen Anstöße zu geben, um die Dinge in unserem Sinne in Bewegung zu setzen. Was mich zum eigentlichen Anlass unseres Gespräches führt.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Ort für diese Art Gespräche geeignet ist.« Esmeraldo sah erneut zu den Arbeitern, die gerade den zertrümmerten Arm einer Marmorstatue aus dem Krater zogen. Die Stille des Tempelgartens trug ihre Stimmen heran, aber sie waren zu weit entfernt, um Worte zu verstehen.
Brotos lachte leise. »Ihr seid misstrauisch, das ist gut! Gutgläubige Narren habe ich genug um mich herum. Doch lasst uns hier ein wenig gehen und plaudern, vom Onkel zum Neffen. Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, und ich bin erfreut, ein verlorenes Räblein in der Heimat willkommen zu heißen.«
Esmeraldo war sich nicht sicher, ob er Brotos’ Sorglosigkeit teilen wollte, aber es war vermutlich tatsächlich nichts Verdächtiges dabei, wenn er mit seinem Verwandten am helllichten Tag durch die Einsamkeit der Tempelgärten spazierte. Manchmal waren die offensichtlichen Orte die sichersten.
»Ich bin erfreut über Eure Fürsorge«, nahm er daher den Faden auf. »Allerdings kann ich Euch versichern, dass es um mein Seelenheil wohl bestellt ist. Es gibt in Sylla einen Tempel unseres Herrn Boron, sodass ich die letzten Jahre nicht gänzlich verlassen war.«
»Der Götterfürst wacht über seine Räblein, wo auch immer das Rabenbanner steht. Allerdings findet Ihr nur hier Männer und Frauen, die bereit sind, es zu ergreifen und zum Ruhm unseres Herrn Boron über die Grenzen des Imperiums hinauszutragen.« Wieder streifte ihn Brotos’ Blick, ohne dass der Geweihte innehielt. »Ihr habt sie kennengelernt, und Ihr kennt die Pläne unseres Generals. Ich will wissen, was Ihr darüber denkt.«
Esmeraldo nickte langsam. Seine Finger strichen über den Knauf seines Säbels, während er darüber nachdachte, wie viel er dem hageren Geweihten preisgeben wollte. »Lasst mich bei der militärischen Lage beginnen«, sagte er schließlich und senkte die Stimme. »Die Streitmacht ist gut ausgebildet, gerüstet und ohne Zweifel geeignet, das Königreich der Kemi zu unterwerfen. Oderin du Metuant weiß, was er tut. Er hat Erfahrung, Geschick und militärisches Verständnis. Allerdings kann er nicht mehr lange zögern. Mit jedem Tag, den die Truppen zur Untätigkeit verdammt sind, sinkt die Moral. Selbst wenn es ihm gelingt, sie noch eine Weile unter Kontrolle zu halten, werden die Soldaten am Ende ungeduldig und wenig diszipliniert in Kemi einfallen, was den Erfolg des Unternehmens gefährden würde. Es bleibt daher wenig Zeit.«
Der alte Geweihte nickte zustimmend. »Dann haltet Ihr es für sinnvoll, bald zuzuschlagen? Sprecht offen, ich bin gespannt auf Eure Einschätzung.«
»Bezüglich eures Kreises, den Ihr Rabenbund nennt?« Esmeraldo bleckte die Zähne zu einem flüchtigen Grinsen. »Ich halte es für gewagt, mit diesen Gestalten einen Umsturz zu versuchen.«
»Tatsächlich?« Brotos’ Braue ruckte nach oben. Er machte eine auffordernde Handbewegung. »Führt aus.«
»Ihr wollt einen Umsturz, aber Ihr habt niemanden, der in der Lage wäre, die Führung zu übernehmen oder die Heeresmacht hinter Euch zu bringen.« Esmeraldo schlug einen Weg ein, der sie ein Stück von den Aufräumarbeiten fortführte. »Solange die Truppen vor den Toren lagern und Ihr die Offiziere nicht hinter Euch wisst, wäre es Wahnsinn loszuschlagen. Was auch immer einige Eurer Anhänger behaupten mögen. Ihr braucht die Offiziere, die Hafenmeisterei und die Stadtwache. Am besten kümmert Ihr Euch auch um die wichtigsten Lanistos und lasst die Commandanta der Rabengarde austauschen. Für einige dieser Aufgaben habt Ihr geeignete Leute. Verteilt die Verantwortlichkeiten entsprechend. Diesen jungen Kugres lasst Ihr besser verschwinden. Die Kriegsfakultät verteilt sehr bereitwillig Patente, aber eine schöne Urkunde macht keinen guten Commandante. Der Bursche ist gefährlich für Euer Unterfangen, weil er seine Fähigkeiten überschätzt und nicht bereit ist, Fehler einzugestehen. Stünde er unter meinem Kommando, hätte ich ihn längst entfernt.«
Brotos nickte bedächtig. »Das werde ich nachholen. Ich danke Euch. Ich bin wahrscheinlich zu wenig Soldat, um den Wert dieser Patente einschätzen zu können. Das Übrige ist mir durchaus bewusst.« Er strich sich nachdenklich über das Kinn. »Es fließen bereits Gelder, um Notwendigkeiten anzustoßen. Allerdings hat die Erfahrung gezeigt, dass Geld allein nicht an jeder Stelle zu überzeugen weiß. Gerade unter Soldaten gibt es aufrechte Gestalten mit hehren Idealen, die sich in ihrer Ehre gekränkt sehen, wenn man ihre Treue über das übliche Maß hinaus entlohnen will. Solche Männer und Frauen brauchen andere Wege der Überzeugung. Wege, auf die Ihr Euch besser versteht als ich.«
»Ihr habt mich hierherbestellt, damit ich Euch den Rückhalt der Truppen verschaffe?« Esmeraldos Gesicht blieb unbewegt, während er in Gedanken knapp überschlug, wie groß seine Erfolgsaussichten waren. Er kannte viele der Kommandanten noch aus der Zeit aus Port Corrad, aber es war schwer zu sagen, wie sie inzwischen zu General Oderin du Metuant standen. In fünf Jahren war viel geschehen, für ihn selbst und auch für jeden anderen.
Brotos nickte. »Das will ich. Ihr seid der Einzige, den ich dazu befähigt sehe, Heer und Stadt zusammenzuhalten. Sobald wir den General gestürzt haben, tretet Ihr an du Metuants Stelle. Ich werde Euch zum Generalissimus machen, und Ihr werdet den Krieg in Kemi für das Imperium zu einem triumphalen Sieg führen. Mit den Anhängern Prinzessin Rhôndas bin ich bereits im Gespräch. Diesen Gestalten ist es gleichgültig, wer das Heer führt, das Nisut Ela und die Horasier aus dem Land fegt. Als Triumphator werdet Ihr dann gemeinsam mit mir über die Stadt herrschen, alle Macht vereint in den Händen des Hauses Paligan.«
Esmeraldo hob eine Augenbraue. »Ihr seid Euch bewusst, dass Eure Anhänger etwas anderes erwarten? Die anderen Häuser werden es kaum hinnehmen, wenn Ihr sie übergeht. Shantalla Karinor sprach von der Vorstellung, Euch einen neuen Hohen Rat der Zwölf gleichberechtigt zur Seite zu stellen.«
»Ich weiß.« Brotos’ Lippen formten ein schmales Lächeln, das seine Raubvogelzüge einen Herzschlag lang noch härter erscheinen ließ. »Sie fordern auch, dass Ihr nach Eurem Triumph selbstlos zurücktretet und die Zukunft Gestalten wie diesem jungen Kugres überlasst, dessen einzige Tat es ist, große Reden zu schwingen. Womöglich plant man für Euch bereits ein ähnliches Schicksal, wie es einst unseren Schwarzen General mit seiner Verbannung ereilt hat, als die Granden seine Macht fürchteten. Selem ist sicher ein guter Ort, um in Vergessenheit zu geraten. Man könnte Euch dorthin schicken, um die Grenzen des Imperiums gegen aufrührerische Echsen zu verteidigen. Ich bin überzeugt, dass Euch diese Aussicht ebenso wenig gefällt wie mir.«
Esmeraldo lachte trocken auf. »Ich bitte Euch, Hochwürden Brotos. Warum sollte Euch mein Schicksal etwas kümmern? Als Patriarch ist Euch ein zerstrittener Rat doch wahrscheinlich lieber als ein starker General an Eurer Seite.«
Brotos schmunzelte flüchtig. »Es gefällt mir, wie Ihr denkt, Esmeraldo. Und ich beginne zu verstehen, warum mein Bruder Euch ausgewählt hat. Aber in dieser Sache kann ich Euch versichern, dass mich Euer Schicksal sehr wohl etwas kümmert. Ich bin alt, Esmeraldo. Wenn Boron mir noch ein paar Jahre gibt, werde ich sie nutzen, um aus Al’Anfa das Imperium zu machen, das es einst war, bevor es die Honaks von einer Niederlage in die nächste geführt haben. Doch wenn ich gehe und niemand an meiner Seite steht, der mein Werk fortsetzt, werden sich die Raubtiere auf mein Vermächtnis stürzen und es vernichten. Daher wird es auch Euer Werk sein, dem Imperium Größe zurückzugeben und es unter Borons Herrschaft zu stellen. Es gibt übrigens eine junge Geweihte, die ich Euch bei Gelegenheit vorstellen will. Sie hat den Geist, die Stärke und das Potenzial einer Paligan, die Großes zu bewirken vermag. Ihr werdet Euch ihrer annehmen, wenn die Zeit reif ist, wie ich mich Eurer nun annehme, und ihr helfen, mir nachzufolgen. Wenn man etwas von Bestand schaffen will, braucht man mehr als ein Paar Schultern, es zu stemmen. Und mehr als ein Leben, um es zu wahren.«
»Eine junge Paligan? Kenne ich das Mädchen?«
»Wahrscheinlich, auch wenn Ihr sie lange nicht gesehen habt. Es handelt sich um meine Nichte Boronita, die Tochter unseres verehrten Goldo mit seiner zyklopäischen Braut. Ein überaus kluges Kind und hübsch.« Brotos schmunzelte erneut auf diese flüchtige, düstere Weise. »Sie wird Euch sicher gefallen.«
Esmeraldo nickte, während er beschloss, die Zweideutigkeit, die in Brotos’ Worten mitschwang, vorerst zu übergehen. In dem engen Familiengeflecht der acht großen Häuser war es nicht unüblich, dass auch nahe Verwandte einen Bund eingingen, aber darüber würde er zu gegebener Zeit entscheiden, ob er bereit war, sich soweit in Brotos’ Lebenswerk einbinden zu lassen. Im Grunde plante der alte Geweihte nichts anderes als einen Staatsstreich, an dessen Ende das Haus Paligan über alle anderen Häuser triumphierte, indem es geistliche und weltliche Macht gleichermaßen in den Händen hielt. Ein hochtrabender Gedanke, der Esmeraldo erstaunlich gut gefiel, wenn es tatsächlich gelingen könnte, den Gedanken zur Tat zu machen.
»Eine Sache habt Ihr bislang vermieden anzusprechen«, sagte er nachdenklich, nachdem sie einige Momente schweigend weitergegangen waren. »Don Goldo. Mir ist seine Rolle in Euren Plänen nicht ganz klar. Ich bezweifle, dass er zusieht, wenn wir nach der Macht greifen, ohne selbst die Hand auszustrecken.«
»Natürlich. Deshalb wird er weichen müssen.« Brotos hielt unvermittelt inne. Die wasserblauen Augen, die trotz des Lächelns plötzlich unangenehm stechend wirkten, suchten Esmeraldos Blick. »Mein Bruder hatte seine Zeit. Für das, was vor uns liegt, braucht das Haus Paligan eine harte und vor allem entschlossene Hand. Wenn sein Kopf fällt, werdet Ihr das Haus führen. Das ist mein Angebot an Euch. Seid Ihr bereit, mir zu folgen?«










