DSA: Rabenbund

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Esmeraldo war ebenfalls stehengeblieben, und zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er den alternden Geweihten keineswegs an Haupteslänge überragte, sondern ihm geradewegs in das von Leben und Alter gezeichnete Gesicht sah. Tiefe Entschlossenheit lag darin, und Esmeraldo wurde mit einem Mal bewusst, wie viel dieses Vorhaben dem greisen Geweihten bedeutete. Brotos Paligan hatte sein Leben lang gewartet, und er hatte nichts mehr zu verlieren. Wenn er scheiterte, dann mit dem letzten Versuch, sein Lebenswerk zu vollenden. Doch war dieser Versuch tatsächlich vielversprechend genug, um sein Geschick auf Gedeih und Verderb an das Schicksal seines Großonkels zu hängen? Seine Stellung unter Oderin bot ihm andere Möglichkeiten, und der General war ebenfalls alt, sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich ein Nachfolger durchsetzen musste. Alles deutete derzeit darauf hin, dass dies Alena Karinor wäre, doch Dinge konnten sich ändern, gerade wenn ein Krieg bevorstand. Und es gab kaum eine günstigere Gelegenheit, eine Konkurrentin zu beseitigen, als das Schlachtgetümmel, in dem nicht mehr auszumachen war, woher der tödliche Bolzen tatsächlich kam. Nach den Jahren in Sylla störte es ihn, dass er als Commandante unter Oderin du Metuant in die zweite Reihe zurücktreten musste, und ihn störte das Zögern und der Aufwand, den man um die kemsche Prinzessin und ihre unerträglichen Begleiter machte. Shantallas Versprechungen hatten ihn neugierig gemacht, sodass er sich bereit erklärt hatte, ihr zu diesem Treffen zu folgen. Brotos’ Rabenbund bot Möglichkeiten, aber er barg auch Risiken. Allerdings war Esmeraldo nicht so weit gekommen, weil er zauderte und zagte.
Er nickte langsam und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sein Blick auf den hochgewachsenen Mann fiel, der auf sie zuhielt. Lange dunkelbraune Haare, die an den Schläfen zu zwei dünnen Zöpfen geflochten waren, umflossen die breiten Schultern, und der forsche Schritt verriet, dass er nicht zufällig hierherkam.
»Eure Erhabenheit!« Esmeraldo trat zurück und senkte den Kopf, während er in Gedanken hastig überschlug, ob sie an irgendeiner Stelle des Gesprächs doch zu nah an den Arbeitern gewesen waren. Doch in dem Gesicht des Patriarchen deutete nichts darauf hin, dass er zürnte. Ein junger Novize beeilte sich, ihm zu folgen, und blieb schließlich mit zwei Schritten Abstand hinter dem Kirchenoberhaupt stehen, den Blick auf die Hände gesenkt.
»Boron zum Gruß.« Ohne Eile drehte sich Brotos zu Amir Honak um. Sein Raubvogelgesicht formte ein höfliches Lächeln. »Welch unerwarteter Anblick zu dieser Stunde.«
»Der göttliche Rabe mit Euch«, erwiderte der Patriarch den Gruß knapp. Seine Mimik war unbewegt, als sein Blick kurz zu Esmeraldo glitt und dann gleich wieder zu Brotos zurückkehrte. »Das Gleiche mag ich auch sagen. Euer Neffe, wenn ich mich nicht irre?«
»Commandante Esmeraldo Paligan, Eure Erhabenheit. Ich wollte um eine Audienz ersuchen, um ihn Euch vorzustellen. Ihr seid mir nun zuvorgekommen.«
»Es steht Euch frei, es dennoch zu tun«, beschied Amir Honak knapp. »Sprecht deswegen mit meinem Sekretär. Doch nun muss ich Euch bitten, das familiäre Beisammensein zu beenden. Ich habe mit Euch einige Dinge zu besprechen.«
Brotos’ linke Braue wanderte ein Stück nach oben. »Ihr habt es gehört, mein Rat wird benötigt«, sagte er, und wenn Esmeraldo es nicht besser wüsste, hätte er angenommen, echtes Bedauern in seiner Stimme mitschwingen zu hören. »Es war mir eine Freude, mit Euch zu plaudern und alte Erinnerungen auszutauschen. Richtet Eurer Mutter meinen Gruß aus, wenn Ihr sie seht.« Er hob die Hand zu einer segnenden Geste. »Boron mit Euch, mein Sohn.«
»Der Götterfürst mit Euch, Hochwürden«, antwortete Esmeraldo steif, ehe er sich dem Patriarchen zuwandte und die Faust zum militärischen Gruß an die Brust führte. »Ehre dem Raben, Eure Erhabenheit.«
Amir Honak nickte stumm, doch Esmeraldo war, als blickten die klaren Augen einen Moment lang eindringlicher. Ein unangenehmes Schaudern griff nach seinem Nacken, als er sich umdrehte und dazu zwang, ohne Eile den Weg zurück zum Tempel einzuschlagen. Die Stimmen der Arbeiter waren nun sehr nah, aber er beachtete sie nicht. Vielleicht war es nur ein Zufall, der Amir Honak gerade in diesem Moment in die Tempelgärten geführt hatte, doch Esmeraldo war mit den Jahren zu vorsichtig geworden, um auf Zufälle zu vertrauen. Brotos’ Vorhaben war hochtrabend, aber nicht unmöglich, und es bot Möglichkeiten, die alles überstiegen, was er sich bei seiner Rückkehr aus Sylla erhofft hatte. Dennoch musste er vorsichtig sein und abwägen, ehe er dem alten Geweihten das Versprechen gab, das Brotos ihm abgerungen hätte, wäre der Patriarch nicht erschienen. Vielleicht war es ein Fingerzeig Borons, nicht voreilig Entscheidungen zu fällen, sondern in Ruhe abzuwägen. Denn eines wusste Esmeraldo sicher: Es war gleichgültig, wer im Hintergrund die Fäden zog, er würde keine Mirhamionette sein.
Said
Von draußen klangen die geschäftigen Geräusche des Hafens. Zwielicht drang durch die Ritzen zwischen den Brettern des Verschlags und beließ die Ecken in gnädigem Dunkel. Der Gestank nach altem Schweiß und menschlichen Ausscheidungen hing noch in der Luft, und auf dem Boden lag eine umgeworfene Schale mit den eingetrockneten Resten eines Reisbreis, auf dem sich eine dicke Traube Fliegen niedergelassen hatte.
Said ging in die Knie und hob das Stück raue Schnur auf, mit der er die Beine des Beschützers gefesselt hatte. Sie war glatt durchtrennt und nicht durchgerieben, wie er im ersten Moment befürchtet hatte. Rurescha musste ihn fortgebracht haben, aus welchem Grund auch immer, und das offensichtlich schon vor mehr als einem Tag.
Mühsam erhob er sich und tastete nach der Wand, als ihn erneut Schwindel überkam. Der Paligan hatte recht gehabt, es war nicht gut gewesen, mitten in der Nacht aufzubrechen. Der Sturm hatte Sturzbäche aus Wasser, Schlamm und Unrat durch die Gassen getrieben, sodass er nicht weit gekommen war, sondern die Zeit bis zum Morgen zusammengekauert in einer Hausecke verbracht hatte. Jede Faser seines Körpers schmerzte, und er hasste die Schwäche, die ihn ohne Grund straucheln ließ. Aber dass sein Unterpfand fort war, zeigte, dass er viel zu lange tatenlos geblieben war. Er hatte keine Ahnung, was Rurescha bewegt hatte, den Mann von hier fortzuschaffen. Vielleicht war er auch nicht vorsichtig genug gewesen, und die Karinor oder einer der Verschwörer aus den Katakomben hatte seine Spur aufgenommen. Dann war dieses Druckmittel verloren und dieser Unterschlupf nicht mehr sicher.
Said warf einen raschen Blick über die Schulter, aber das vertraute Kribbeln, das sich einstellte, wenn Gefahr drohte, blieb aus. Dennoch sollte er sich hier nicht länger als notwendig aufhalten.
Said wartete einen Moment, um sicher zu gehen, dass nicht gerade jemand zufällig an dem Verschlag vorbeikam. Dann stahl er sich hinaus und tauchte erneut ein in das bunte Treiben der Gassen. Es war nicht schwer, in der Menge zu verschwinden. Al’Anfa hatte über die Jahrhunderte Gestrandeten aus aller Herren Länder eine Zuflucht geboten, sodass sich die Völker vermischt hatten und es kaum noch etwas gab, wonach sich die Leute umgedreht hätten, weil es seltsam und fremd gewesen wäre. Glutäugige Tulamiden gab es ebenso wie Nachfahren güldenländischer Eroberer, Waldmenschen und Mischlinge jeder Art, selbst dunkelhäutige Hünen, deren Ahnen noch Thorwalerblut in sich getragen haben mochten, und Utulus mit hellen Augen, die schon vor Generationen den Sklavenstatus abgestreift hatten.
Die Kleidung, die der Paligan ihm gegeben hatte, war sauber, aber einfach und zweckmäßig, sodass niemand Said Beachtung schenkte, während er sich durch die Gassen treiben ließ und einen der schmalen Aufgänge emporstieg, die in die Abbruchkanten des Berges geschlagen waren, um die Ebenen der Stadt miteinander zu verbinden.
Der Schlund lag nicht unmittelbar am Hafen wie die anderen Elendsviertel, sondern weiter oben am Hang. Die rußgeschwärzten Ruinen verrieten, dass das Quartier einst wohlhabend gewesen sein musste, ein ähnlicher Ort wie die Grafenstadt, wo auch Amato Paligan seine Villa unterhielt. Vor einigen Jahrzehnten hatte hier ein furchtbarer Feuersturm gewütet, der das ganze Viertel vernichtet und von dem alten Glanz nur trostlose, verkohlte Mauern übriggelassen hatte, über denen noch immer ein leichter Brandgeruch lag. Anders als in den Brabaker Baracken gab es hier keine Mietskasernen. Wer hier lebte, hatte sich aus altem Mauerwerk, rohem Holz und Palmwedeln einen Unterschlupf gebaut oder hauste in einem der zerfallenen Hinterhöfe, in denen wild sprießende Blumen und Schlingpflanzen die Ruinen mehr und mehr zurückeroberten. Dazwischen fanden sich immer wieder fast intakte Häuser oder solche, die man allen Widrigkeiten zum Trotz wieder aufgebaut hatte, auch wenn der Schlund kein Ort mehr war, der dazu einlud, länger zu verweilen. Während die Baracken am Hafen all jene aufnahmen, die das Meer in die Stadt spülte, so hausten hier diejenigen, die geblieben waren und ihr Auskommen im Schatten der Rabenstadt gefunden hatten – Diebesbanden und Schläger, die ihre Fäuste an jeden verkauften, der nur genug zahlte, Hehler, Schutzgelderpresser und ehemalige Söldner, die verkrüppelt auf den Stufen ehemals herrschaftlicher Villen hockten und Vergessen im Rauschkraut suchten.
Im Gegensatz zu den anderen Stadtteilen lagen die Gassen unter der Hitze fast ausgestorben da. Das Surren von Fliegen und Moskitos hing in der flirrenden Luft. Stimmen drangen aus einer Taverne im Schatten schimmliger Palmwedel, und ein paar Häuser weiter spielte jemand auf einer Handtrommel den Takt zum eintönigen Gesang einer alten Frau.
Als Said in den Schatten des Durchgangs trat, der zum Hinterhof führte, wo Rurescha und er zuletzt untergekommen waren, fing sein Blick einen Herzschlag lang den eines alten Mannes, der schon beim letzten Mal hier gesessen hatte. Seine schwärenden Beinstümpfe hatte er vor sich auf einer feuchten Strohmatte ausgestreckt, ohne sich um die Fliegen zu scheren, die wie ein wimmelndes Tuch aus schwarzen Leibern über die zerstörten Gliedmaßen krochen. Sein Haar war schlohweiß, und sein Gesicht war von unzähligen Falten und Grübchen durchzogen, dass er Said fast an die alte Geschichtenerzählerin erinnerte, die in Meister Darjins Haus gelebt hatte. Die Augen unter den buschigen Brauen hingegen wirkten klar und kalt. Unverhohlen musterte er Said, ohne ein Wort zu sagen, und folgte ihm mit seinem Blick, sodass er sich zwingen musste, sich nicht umzudrehen.
Ein ungutes Gefühl legte sich um Saids Nacken, während er die wackeligen Stufen emporstieg, die zu der Kammer hinaufführten. Etwas stimmte nicht, aber es war zu spät, um einen anderen Weg zu wählen. Wenn ihn jemand erwartete, dann hatte man ihn ohnehin längst entdeckt.
Seine Sinne waren zum Zerreißen gespannt, als er die Bretter beiseiteschob, die eine behelfsmäßige Tür abgaben. Der Hinterhof gehörte zu einem ehemals prachtvollen Haus, von dessen rückwärtigen Zimmerfluchten nur die rußverschmierten Mauern stehengeblieben waren. Im Erdgeschoss hatte sich eine ehemalige Gladiatorin eingenistet, die von sich behauptete, die Hausherrin zu sein, und im oberen Stockwerk Verschläge aus Flechtwerk und Stoffbahnen vermietete. Die Kammer, die sie Said und Rurescha überlassen hatte, lag in eine Mauernische geduckt und war sogar recht geräumig, wenn man von dem mit morschem Holz notdürftig zugedeckten Loch absah, wo der Fußboden eingebrochen war. Licht sickerte durch den schmutzigen Stoff, der Hitze und Regen notdürftig abhielt, und offenbarte im Halbdunkel zwei Lager und daneben eine Tasche, in der Said sein spärliches Hab und Gut verstaut hatte. Der Geruch von Rauchkraut und Arangen hing in der Luft, der unter dem Tuch unangenehm stickig war.
Misstrauisch sah Said sich um. Es war alles, wie er es an dem Abend verlassen hatte, als er aufgebrochen war, um in Gilia Bonareths Gemächer einzusteigen. Nichts deutete darauf hin, dass Rurescha den Beschützer hierhergebracht hatte, auch wenn sie zwischendurch hier gewesen sein musste.
Said trat an das Lager heran und ging in die Hocke, um nach der Holzschale zu greifen, die er der Maraskanerin vor einigen Monden geschenkt hatte. Sie war gefüllt mit frischen Arangenschalen. Eine Wolke feiner Fliegen stieg von den Fruchtresten auf und eine schwarzschimmernde Schabe huschte eilig davon. Die Schnittkanten der Arangenschalen waren gerade erst angetrocknet, sodass es keine Stunde her sein mochte, seit jemand hier gewesen war. Und es war sicher kein Häscher der Karinor.
»Du bist zurück.«
Said erstarrte, als er Rureschas Stimme hinter sich hörte. Langsam stellte er die Schale zurück und drehte sich um.
Die Maraskanerin stand in der Tür. Grelles Mittagslicht umfloss ihre sehnige Gestalt, sodass er ihr Gesicht nur erahnen konnte. Das Haar trug sie zusammengebunden und über der Schulter die Tasche aus fleckigem Leinen, in der sie ihre Habseligkeiten mit sich herumtrug. Ihre Füße steckten in weichen Sandalen, vermutlich hatte er sie deshalb nicht gehört.
»Es tut mir leid, dass ich dir nicht Bescheid geben konnte«, sagte er, und tatsächlich fühlte er sich erleichtert, sie unversehrt zu sehen. Auch wenn es eine Reihe von Fragen gab, auf die er dringend eine Antwort haben musste, war es gut zu wissen, dass sie noch da war. »Die Häscher der Karinor hätten mich fast erwischt. Ich hatte Glück, aber es hat einige Zeit gedauert, bis ich wieder auf den Beinen war.«
»Ich habe es mir gedacht.« Er meinte, ein Lächeln zu erkennen, als sie nähertrat. Sie hob die Hand an seine Wange, suchte seinen Blick. Die Berührung war ebenso vertraut wie der Geruch nach Mohacca, der sie umgab, und doch war etwas in ihren Augen, was anders war als sonst.
»Ich habe dich vermisst, Saidjian«, flüsterte sie, während sie den Kopf hob, um ihn zu küssen. Ihre Fingerspitzen strichen über die Hebung seines Wangenknochens, gruben sich in sein Haar. Er spürte ihren warmen Atem auf den Lippen, als sie den Mund einen Spalt weit öffnete, um ihn willkommen zu heißen, erleichtert und voller Sehnsucht nach den Tagen der Ungewissheit.
Said schloss die Augen. Er wollte sie nicht küssen, sie mussten reden, über den Gefangenen, die Karinor, und auch über sich und darüber, wie es nun weitergehen sollte. Doch sein Vorsatz zerstob, als er ihre Lippen auf seinen spürte, die Zungenspitze, die sich nicht neckend wie sonst, sondern zielstrebig ihren Weg bahnte. Überrascht nahm er den Kuss auf, erwiderte ihn, während er zu verstehen versuchte, was sich verändert hatte. Zuletzt hatten sie nebeneinanderher gelebt wie Fremde, zu gefangen in ihrer Enttäuschung, um aufeinander zuzugehen. Vielleicht war es die Einsamkeit, die Rurescha daran erinnert hatte, dass sie einmal zwei gewesen waren. Seine Überlegungen schweiften ab, verloren sich in einem Moment plötzlichen Verlangens, als sich die Maraskanerin dicht an ihn heranschob, sodass er die harten Spitzen ihrer Brüste und die Wärme ihres Körpers durch den Stoff spürte. Sein Arm schob sich wie von selbst um ihren Oberkörper, zog sie an sich wie ein Ertrinkender. Schwindel erfasste ihn, aber dieses Mal versuchte er nicht einmal, ihn niederzuringen. Es war gleichgültig, ebenso wie die Karinor, Emilia Bonareth und Amato Paligan. Zumindest für ein paar kostbare Momente, die nicht Al’Anfa, sondern nur ihm und Rurescha gehörten.
Er spürte, wie sie sich in seiner Umarmung bewegte, ohne sich auch nur einen Wimpernschlag von ihm zu lösen. Hungrig küsste sie ihn, dass es fast wehtat, aber auch das störte ihn nicht. Sie war nie sanft gewesen, wenn sie etwas wollte, und der Moment wäre ihm seltsam erschienen, jetzt damit anzufangen. Grob schob er ein Bein zwischen ihre Schenkel, die sich bereitwillig öffneten, während ihre Hand nach seinem Nacken griff.
In dem Moment sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung, und mit einem Mal war das Kribbeln da, mit einer Heftigkeit, dass er erschrocken zurückfuhr. Etwas streifte seine Schulter, zerriss das Hemd, und einen Herzschlag lang spürte er die Kälte des Stahls auf der Haut.
Said dachte nicht nach, als er sich fallen ließ und Rurescha mit sich riss. Sie schrie auf, aber es klang nicht überrascht, wie er erwartet hätte, sondern zornig. Mit einem Ruck entzog sie sich seinem Griff und hob die Hand mit dem Dolch. Einen Herzschlag lang starrte Said sie ungläubig an, sah in das wutverzerrte Gesicht und die traurigen Augen, und plötzlich begriff er.
Im letzten Moment warf er sich zur Seite, als die Klinge auf ihn niederfuhr. Mit aller Anstrengung schlug er die Beine wie eine Schere um Rureschas Schenkel, sodass sie hart auf dem Boden aufprallte.
Hastig rutschte Said zurück. Schwärze schob sich vor seinen Blick, während er versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. In seinen Schläfen hämmerte das Blut, aber sein Geist war klar. Wäre er bei Kräften, könnte er versuchen, Rurescha zu überwältigen, um zu erfahren, was für ein verfluchtes Spiel sie hier trieb. In seinem Zustand war er jedoch kaum mehr als ein Opfer, sodass er alles daransetzen musste zu entkommen.
Die Maraskanerin rappelte sich auf und schüttelte den Kopf. Offenbar war sie bei ihrem Sturz härter aufgekommen als erwartet, aber das verschaffte Said wertvolle Zeit. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, rollte er sich zur Seite und auf das Loch zu, das im Boden gähnte. Er sah noch, wie sich Rureschas Augen weiteten, dann brach das morsche Holz unter seinen Füßen weg und er rutschte nach unten ins Dunkel.
Über sich hörte er ein Fluchen, aber er hielt sich nicht damit auf, auf sie zu warten. Mit bleischweren Gliedern stemmte er sich hoch und taumelte zwei Schritte zur Seite, um hinter einem verkohlten Mauervorsprung in Deckung zu gehen. Sein Herz hämmerte vor Anstrengung, und er musste sich zwingen, ruhig zu atmen, während er sich an den abgeplatzten Putz lehnte.
Der verwinkelte Raum, in dem er gelandet war, war halbwegs intakt, auch wenn auch hier der Brand gewütet hatte. Berge von Schutt lagen in den Ecken, offensichtlich sorgsam zur Seite getragen, denn in der Mitte des Raumes hatte jemand eine behelfsmäßige Feuerstelle errichtet. Dünne Lichtfäden drangen durch die Ritzen einer Tür, die jemand aus groben Holzbohlen zusammengezimmert hatte, und vor dem Fenster wucherte dorniges Gestrüpp, dessen Geäst die Helligkeit des Tages aufsog wie ein Schwamm.
Eine magere Ratte stob beiseite, als Rurescha wie eine Katze auf allen Vieren aufkam. Langsam richtete sie sich auf, Staub tanzte in den Lichtfäden, die über ihren Arm und die Klinge ihres Dolches glitten.
»Komm heraus, Saidjian.« Ihre Stimme hatte jede Wärme verloren. »Ich würde dich töten, aber man will dich lebendig. Zwing mich nicht, es trotzdem zu tun.«
Said hielt die Luft an. Stumm horchte er in den Raum hinein, während seine Hand langsam zu dem Gurt unter seinem Hemd wanderte, wo er die Nadel verborgen hielt. Der Griff der Waffe fühlte sich vertraut an und beruhigend, und einen Herzschlag lang war er versucht abzuwarten, bis Rurescha nah genug war, um sie aus der Deckung heraus zu töten. Aber schon im nächsten Moment begann sich der Raum wieder vor seinen Augen zu drehen, sodass er die Lider zusammenkneifen musste, um an der Mauer nicht den Halt zu verlieren. Er konnte es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Er musste hier raus, koste es, was es wolle.
»Ich höre dich, Saidjian.« Die Stimme der Maraskanerin kam wieder näher, sie musste fast unmittelbar vor dem Vorsprung stehen. »Es ist sinnlos, sich hier zu verstecken. Bruder Boron wird dich finden, wo immer du dich auch versteckst.« Wieder scharrten ihre Füße auf dem Schutt, doch zu Saids Erleichterung entfernten sie sich ein Stück.
Seine Hand grub sich in das Geröll, das um ihn herumlag. Er musste etwas tun, solange sie noch mit ihm spielte. Meister Darjin hatte es ihre größte Schwäche genannt, dass sie leichtsinnig wurde, wenn sie sich überlegen fühlte. Nun war es gut, dass es dem alten Meister nie gelungen war, diese Schwäche ganz aus ihr zu tilgen.
Seine Finger zitterten, als sie sich um ein faustgroßes Stück Gestein schlossen. Es war die einzige Möglichkeit, riskant, aber eine andere Hoffnung blieb ihm nicht.
Said schloss die Augen, zählte in Gedanken zwei Mal bis vier, während er ihren Schritten lauschte und einzuschätzen versuchte, wo sie sich befand. Dann sprang er auf.
Sie stand nicht auf der anderen Seite des Raumes, wie er erwartet hatte, sondern keine zwei Schritte von ihm entfernt. Verblüffung zeigte sich auf ihrer Miene, Zorn und plötzliches Frohlocken, doch noch ehe sie zum Sprung ansetzen konnte, schleuderte Said den Stein.
Es gab ein hässliches Geräusch, als das Geschoss ihre Stirn traf. Wie vom Donner gerührt hielt sie inne, einen endlosen Herzschlag lang, in dem sich ihre Augen erschrocken weiteten. Dann verklärte sich ihr Blick und sie brach mit einem erstickten Seufzer in die Knie. Blut rann über die Stirn und die Schläfen hinab, als sie zur Seite kippte und regungslos liegen blieb.
Der aufgewirbelte Staub ließ Said husten, während er sich hinter dem Vorsprung hervorschob. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, Rurescha zu fesseln, um sie zu befragen, sobald sie wieder zu sich gekommen war. Aber er verwarf die Idee gleich wieder. Er hatte keine Ahnung, wer hier unten hauste, und er konnte sie unmöglich aus eigener Kraft nach oben schleppen. Er musste von hier verschwinden, ehe jemand mitbekam, was geschehen war. Für die Ratten des Schlunds war er eine viel zu leichte Beute.
Sein Blick glitt kurz nach oben, aber in seinem Zustand war kein Denken daran, sich durch das Loch hinaufzuziehen. Zu seiner Erleichterung war die Tür jedoch nicht verschlossen, sondern nur angelehnt und mit Schutt verklemmt, sodass er sie nach einigem Ruckeln einen Spalt weit aufschieben konnte.
Bleierne Stille lag über dem Hinterhof, als habe die Hitze alles Lebende in die Schatten der Ruinen getrieben. Noch einmal blickte Said zu Rurescha zurück, deren Kopf nach vorne gekippt war, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, und er zögerte. Er sollte sie töten, ehe er ging. Wenn sie jemand ausgeschickt hatte, um ihn zu fangen, dann würde sie wiederkommen, und beim nächsten Mal wäre sie nicht so leichtsinnig. Doch er konnte es nicht. Es war leicht, Leute zu töten, von denen man nicht mehr wusste als den Namen. Rurescha hingegen war ein Teil seines Lebens gewesen, eine Partnerin und Vertraute, seine Geliebte. Es tat erstaunlich weh, sie verloren zu wissen.
Said wandte sich ab und schlüpfte durch die Tür hinaus auf den Hof. Sein Schädel dröhnte, und seine Knie zitterten, als er die Holzstiege ein weiteres Mal emporkletterte, aber er hatte keine Zeit zu verlieren. Wenn Rurescha nicht alles an sich genommen hatte, musste bei seinen Sachen noch das Geld sein, das er aus Meister Darjins Haus mitgenommen hatte. Mehr brauchte er nicht, wenn er nach Travinaia ging – das einzige Ziel, das ihm blieb, nachdem Rurescha ihm sein Faustpfand genommen hatte. Außerdem wartete Rahanez dort auf ihn. Die drei Tage, die sie ihm gegeben hatte, waren längst verstrichen.
Shantalla
Shantalla liebte den Duft der Arangenblüten. Ihre Plantage, die Confidenza, war stets davon erfüllt, und wenn die Abgeschiedenheit allein kein Grund war, hierherzukommen, dann waren es die weitläufigen Haine, die wenig mit den streng symmetrischen Feldern anderer Plantagen gemein hatten. Die Karinor hatten immer schon ein Gespür für Schönheit gehabt, sei es bei der Wahl ihrer Gatten oder bei der Gestaltung ihrer Besitzungen. Wo andere Häuser danach strebten, möglichst viel Gewinn zu erwirtschaften, behielten die Karinor immer noch den Blick auf das Hübsche, Gefällige. Nicht umsonst trug ihr Zeichen neben der Rabenschwinge die Rose, das Symbol der schönen Göttin, die dem Haus ein ums andere Mal ihre Gunst erwiesen hatte. Shantalla atmete tief ein, und sie spürte, dass sie lächelte. Ja, Rahja und Boron meinten es gut mit den Karinor, und offensichtlich gefiel es nun auch dem Herrn Phex, sich diesem Reigen anzuschließen.
»Ihr scheint zufrieden«, stellte Gilia Karinor mürrisch fest. »Ich nehme an, Ihr habt einen guten Grund, mich hierherzubitten?« Die Grandessa trug die Haare offen, und ihr knöchellanges Kleid schmiegte sich an die gefälligen Kurven, sodass ihre Erscheinung ein wenig an die Statuen erinnerte, die Shantalla vor einigen Jahren dem Rahjatempel gestiftet hatte. Bei ihrem Eintreffen hatte sich Shantalla kurzzeitig gefragt, ob ihre Base hoffte, sie mit ihrer Aufmachung ablenken zu können. Doch dann hatte sie in Gilias missmutiges Gesicht geblickt und verstanden, dass der Bonareth rahjagefällige Tändelleien wohl gerade so fern lagen wie dem berüchtigten Piratenadmiral Dagon Lolonna der Besuch eines Vinsalter Flötenkonzerts.










