DSA: Rabenbund

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»Ich wusste nicht, dass mein Vater so viel auf Travia gegeben hat«, wandte Said zögerlich ein. Tatsächlich wusste er sehr wenig darüber, an was Aurelian geglaubt hatte, stellte er fest. Der Glaube an den Götterfürsten Boron gehörte in Al’Anfa dazu wie der Arenabesuch und das wohlgefällige Nicken bei der Flottenparade. Was seinen Vater jedoch wirklich bewegt hatte, wusste Said nicht. Er konnte nicht sagen, ob Aurelian Bonareth überhaupt vor irgendeiner Gottheit sein Knie gebeugt hatte, oder letztendlich der Frevler war, zu dem ihn die Verlautbarungen des Generals gemacht hatten.
Der alte Mann deutete ein Kopfschütteln an. »Die Leute haben es geglaubt, weil sie es glauben wollten. Aber dein Vater hat sie benutzt. Sie waren die Waffe, die er gegen seine Feinde führen konnte, indem er ihnen Hoffnungen gemacht hat.«
»Was ist daran falsch?« Said runzelte die Stirn. »Man sollte Hoffnung haben im Leben. Sonst unterscheidet man sich kaum von den Selemferkeln, die den Straßendreck durchwühlen. Wobei selbst das Schwein noch die Hoffnung hegt, in seinem nächsten Leben ein besseres Dasein zu erlangen«, fügte er mit einem flüchtigen Schmunzeln hinzu. Es war eine Eigenart der Maraskaner gewesen, in allem die Harmonie und die Schönheit der Welt wiederfinden zu wollen. Selbst in den mageren, langbeinigen Ferkeln, die Al’Anfas Unrat fraßen.
Der Geschichtenerzähler schmunzelte ebenfalls unter seinem schütteren Bart, ohne Said dabei anzusehen. »Hoffnungen sind gut. Aber es ist gefährlich, Hoffnungen zu wecken, die man nicht erfüllen kann. Oder will.« Er blickte auf die Pfeife in seiner Hand und reichte sie an Said weiter. »Dein Vater wusste, dass er mit den Hoffnungen nur spielen konnte. Er hatte niemals vor, sie wahr werden zu lassen. Die Ordnung der Welt lässt sich nicht mit ein paar Versprechen ändern. Auch das wusste er.«
Said nickte langsam, während er einen vorsichtigen Zug aus der Pfeife nahm. Das Kraut war gestreckt, aber stark genug, dass es den erdigen Geschmack nach getrocknetem Palmbast übertünchte. »Du redest, als seist du damals dabei gewesen«, sagte er, nachdem er die Pfeife zurückgegeben hatte. »Wenn du all das wusstest, warum bist du ihm trotzdem gefolgt?«
»Ich bin ihm nicht gefolgt«, sagte der alte Mann leise, und nun endlich sah er Said an. »Ich habe gesehen, was geschehen ist. Er war grausam denen gegenüber, die das Wort gegen ihn ergriffen haben und zweifelten, ob sein Weg der richtige war. Deshalb habe ich damals geschwiegen und habe zugesehen, wie sie in ihr Verderben gelaufen sind. Man kann Träume nicht aus Blut formen.«
Said runzelte die Stirn. Eindringlich hielt der Alte seinen Blick, dass er sich zwingen musste, ihm nicht auszuweichen.
»Warum erzählst du mir das alles?«, fragte er misstrauisch.
»Ich bin nicht mein Vater.«
»Ich habe mir geschworen, nicht noch einmal zu schweigen.« Der dürre Bart zitterte, als die Mundwinkel des Alten zur Seite zuckten. »Deshalb will ich wissen, warum du hier bist. Wirst du auch Verderben über diesen Ort bringen?«
»Wovon sprichst du?« Said schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht vor, hier irgendwem etwas zu tun. Ich bin hier, um Rahanez zu treffen.«
»Und sie will dich treffen.« Der alte Geschichtenerzähler nickte schwerfällig und zog seinen Beutel auf den Schoß, um darin zu wühlen. Er klang mit einem Mal müde und alt. »Ich habe eine Nachricht für dich. Sie wollte, dass ich sie dir gebe, wenn du hier auftauchst. Hier.«
Er zog zwei Holztafeln hervor, die mit einer dürren Schnur zusammengehalten wurden, und hielt sie Said hin. Doch ehe dieser danach greifen konnte, zog er sie noch einmal zurück. »Vergiss nicht, dass du den Trank der gütigen Herrin gekostet hast«, sagte er leise. »Vergiss es nicht.«
Said blinzelte verwirrt und ließ die Hand wieder sinken, die er bereits erhoben hatte. »Natürlich vergesse ich das nicht.«, antwortete er. »Ich danke dir dafür. Und für deine Worte.«
Der Alte nickte langsam und hob die ledrige Hand mit den Tafeln. »Travia schütze dich, Said«, sagte er mit einigem Zögern. Es klang nicht überzeugt.
Said konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie lange er durch die Dunkelheit gestolpert war. Er hatte das Band um die Tafeln gelöst, kaum dass der Alte gegangen war. Natürlich konnte jemand wie Rahanez nicht schreiben, sodass sich seine erste Enttäuschung rasch verflüchtigt hatte, als er sah, dass sie ihm anstelle einer Nachricht eine Art Karte hinterlassen hatte. Im ersten Moment war er versucht gewesen, noch in der Nacht aufzubrechen, aber sein geschwächter Körper und die Tatsache, dass er in der Finsternis an Wegmarken vorbeilaufen würde, ohne sie zu bemerken, hatten ihn davon abgebracht. Im Schutz des Traviaschreins hatte er ein paar Stunden Schlaf gefunden, ehe er sich im ersten Sonnenlicht mit knurrendem Magen auf den Weg gemacht hatte.
Die Anhaltspunkte auf der Karte waren nicht leicht zu entziffern und führten ihn geradewegs in den Dschungel hinein. Schon nach wenigen Schritten drang kaum noch ein Sonnenstrahl durch das Blätterdach der uralten Urwaldriesen. Ein unwirkliches Zwielicht lag zwischen den rauen Stämmen, an denen sich Lianen und andere Schlingpflanzen emporschlängelten. Dazwischen erhoben sich mannshohe Farne und Buschwerk mit ausladendem Blattwerk, auf dem noch die Feuchtigkeit der Nacht schimmerte. Affen und Urwaldvögel krakeelten auf den Ästen, das Surren und Zirpen unzähliger Insekten hing in der Luft wie das Raunen auf den Rängen an Arenatagen.
Trotz der Erschöpfung waren Saids Sinne bis zum Zerreißen gespannt, während er sich durch das dunkle Grün bewegte. Die Nadel hielt er in der Hand, während er mit der anderen den Stecken führte, mit dem er sich einen Weg bahnte. Schon bald war er am Ende seiner Kräfte, aber er wusste, dass er hier nirgends bleiben konnte. Er kannte den Dschungel der Stadt, in dem er untertauchen konnte, wie es ihm gefiel, Doch das hier war eine andere Art von Dschungel, genauso unberechenbar und tödlich, in dem er nicht der Jäger war, sondern die Beute.
So bemerkte er die Bewegung den Moment zu spät, den er gebraucht hätte, um noch zwischen den Farnen abzutauchen. Zwei heruntergekommene Gestalten standen plötzlich vor ihm, so unvermittelt, dass sie wohl auf der Lauer gelegen haben mussten. Schmutzige, vielfach geflickte Lumpen hingen ihnen von den Schultern, und in den Händen hielten sie Säbel, die an mehreren Stellen bereits Rost angesetzt hatten.
»Halt!«, schnarrte der Jüngere von ihnen unnötigerweise. Die Spitze seines Säbels zitterte vor Saids Nase. »Wer bist du?«
»Ich suche Rahanez.« Saids Stimme zitterte vor Anstrengung, und er hoffte, dass er sich in der ehemaligen Gladiatorin nicht getäuscht hatte. Wenn das eine Falle sein sollte, hatte er nach seiner Flucht und dem Marsch durch den Dschungel kaum noch die Kraft, sich ernsthaft zur Wehr zu setzen. »Sie hat mir eine Nachricht in Travinaia zurückgelassen. In meinem Beutel.« Er deutete mit einem Nicken auf die Tasche an seiner Seite. Die Hände mit dem Strecken und dem Dolch bewegte er lieber nicht.
Die beiden tauschten einen unsicheren Blick. »Woher sollen wir wissen, dass du uns nicht anlügst?«, fragte der Ältere nun misstrauisch. »Vielleicht bist du ja ein Spitzel der verfluchten Schwarzen Garden.«
»Die Garden hätten sicher jemanden geschickt, der besser zu Fuß ist als ich im Augenblick.« Ein bitteres Grinsen zuckte in seinen Mundwinkeln. »Bringt mich zu Rahanez, wenn ihr mir nicht glaubt. Sie kennt mich. Mein Name ist Said ... Said Bonareth.«
Der Jüngere warf einen fragenden Blick zu seinem Gefährten, der die Stirn runzelte und Said nun eingehender musterte. »Komm mit«, befahl er knapp. »Wenn du wirklich der bist, der du zu sein behauptest, wirst du bereits erwartest. Wenn du uns täuschst, werden wir dich töten.«
Said nickte ergeben und ließ zu, dass sich der Jüngere hinter ihn schob und ihm mit gewichtiger Miene folgte, während der Ältere voranging.
Sie hatten vielleicht hundert oder zweihundert Schritt hinter sich gebracht, als sich der Dschungel unvermittelt lichtete und sich vor ihnen eine Lichtung erstreckte. Verwilderte Felder ließen erahnen, dass es sich um eine ehemalige Plantage handelte, die man einst dem Urwald abgetrotzt hatte. Nun hatte die Wildnis einen Großteil des Landes zurückerobert und rückte an einigen Stellen bereits bis an die verbliebenen Gebäude heran, die verwittert und zerfallen nur noch erahnen ließen, wie es hier früher einmal ausgesehen haben mochte. Allerdings schien der Ort keineswegs verlassen. Dutzende abgerissene Gestalten lungerten zwischen den Ruinen herum und blickten ihnen neugierig entgegen, während sie auf das Hauptgebäude zuhielten, das noch am besten erhalten zu sein schien. Der Geruch von billigem Mohacca und Alphana hing in der Luft und der Rauch feuchter Kochfeuer.
Said spürte die Blicke, die ihm folgten, während er sich die Stufen hinaufquälte. Er war fast erleichtert, als der ältere seiner Führer ihm mit einer Geste zu verstehen gab zu warten. Schwer stützte er sich auf den Stecken und schloss einen Moment lang die Augen, um sich zu sammeln und gegen den Schwindel und das Zittern in seinen Knien anzukämpfen.
Als er sie wieder öffnete, stand Rahanez vor ihm. Die Gladiatorin schien gewachsen zu sein, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Nichts erinnerte mehr an die versoffene Frau, die in ihrer erbärmlichen Hütte hauste. Ein herrischer Zug lag um ihren Mund, als sie aufrecht vor ihm stand, die Schultern zurückgezogen wie ein General vor der Schlacht.
»Du kommst spät«, stellte sie fest.
Said richtete sich auf und sah ihr in die Augen. »Ich wurde aufgehalten.«
»Ich habe davon gehört.« Ihre Lippen kräuselten sich und formten ein vielsagendes Grinsen. »Leute erkundigen sich nach dir, sprechen deinen Namen aus. Das ist gut.«
»Es wäre besser, wenn meine Suche nach meiner Schwester Erfolg gehabt hätte.«
»Das wird sie. Wenn wir so weit sind. Ich habe die Zeit genutzt.«
»Das sehe ich.« Said warf einen Blick über die Schulter, wo die zerlumpten Gestalten inzwischen nähergekommen waren und sich abwartend um sie geschart hatten. Es waren mehr, als er im ersten Moment angenommen hatte, achtzig, vielleicht hundert, die ihn ansahen, misstrauisch manche, die meisten aber aufmerksam und gespannt, als erwarteten sie, dass er etwas tue oder sage.
»Sie sind bereits deinem Vater gefolgt«, hörte er Rahanez’ Stimme neben sich. »Jetzt sind sie hier, um dir zu folgen. Ich habe ihnen gesagt, dass es dich gibt, und dass du sie führen wirst, wie dein Vater es getan hat.«
»Du hast eine Armee gesammelt!«
»Noch sind wir keine Armee. Aber wir werden jeden Tag mehr.« Rahanez legte die Hand auf Saids Schulter und zwang ihn mit sachtem Druck, sich der Menge zuzuwenden, sodass er in die hageren Gesichter sah, die ihn erwartungsvoll anblickten. »Sie wollen Rache«, sagte sie leise. »Gib ihnen Blut, und du hast eine Klinge, die scharf genug ist, um jede Kette zu zersprengen. Sie haben auf dich gewartet. Bist du bereit, sie zu führen?«
Said holte Luft. Irgendwo in seinem Hinterkopf klangen noch die Worte des Geschichtenerzählers wider, aber er schob sie beiseite. Was wusste der alte Mann schon von Inion und der Falschheit einer Shantalla Karinor? Von dem Versprechen, dass Said seiner Mutter gegeben hatte und dem Verrat der Silberberger? Er hatte versucht, andere Wege zu gehen, aber er war gescheitert. Wenn er sein Schicksal in die Hand nehmen wollte, brauchte er eine Waffe, die stark genug war, dass man ihn fürchtete. Und diese Waffe hatte schon einmal den Silberberg mit Blut getränkt. Für einen kurzen Moment tauchte Amato Paligans Gesicht vor seinem geistigen Auge auf, doch er schob das Bild entschlossen beiseite. Die Gründe des jungen Granden, ihm zu helfen, waren nicht weniger egoistisch als die einer Shantalla Karinor oder eines Meister Darjin. Wenn er Inion retten und den Namen seines Vaters tragen wollte, durfte er keine Rücksicht mehr nehmen, sonst würde man ihn zerschmettern. Er würde ein Niemand bleiben, der Sklave, als der er geboren wurde.
»Ich bin bereit«, sagte er leise und straffte die Schultern. Mit einer harschen Bewegung schüttelte er Rahanez’ Hand ab und trat einen Schritt vor. »Ich bin bereit«, wiederholte er mit fester Stimme, die in die erwartungsvolle Stille lauter klang als erwartet, »euch zu führen. Wenn ihr bereit seid, mir zu folgen!«
Der ausbrechende Jubel verriet, dass die Klinge scharf war.
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