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Und dieses Treffen fand wenige Tage später in einem Lokal statt, das sie häufiger schon für ihre Besprechungen und bei etlichen Feiern aufgesucht hatten. Dort gab es einen kleineren Raum, in dem die Gruppe niemand stören würde. Und dieses Mal war das sogar erforderlich, denn die Stimmung zeigte sich aufgeladen, selbst wenn sie alle sich zunächst noch zurückhielten.
Paul sah jeder sein schlechtes Gewissen an. Er äußerte auch sofort sein Bedauern. Er habe das völlig falsch eingeschätzt und nur deshalb so prompt reagiert, weil ihn der Reiseveranstalter wegen der Hotelreservierung unter Druck gesetzt hätte.
„Das Büro des Veranstalters hat mich da regelrecht gedrängt, schnell zu reagieren“, behauptete er kleinlaut, und das verstanden einige in der Gruppe sogar. Nur die Lindners und Schlichters zeigten sich unbeeindruckt.
„Das Schlimmste, was du riskiert hättest, wäre, dass dieses Ehepaar nicht mitfahren könnte“, zischte Beatrix Paul an. „Na und? Dann hättest du das denen mitgeteilt: Sorry, hab’s versucht.“
Und Benno sprang ihr zur Seite. „Dann hätte sich die Sache von selbst erledigt.“
„Ist das deine Art, mit Kollegen umzugehen?“, fragte Paul, der eine andere Meinung vertrat und die jetzt am liebste gesagt hätte. „Ich wollte doch einfach nur meinem Kollegen einen Gefallen tun. Dachte nicht, dass das ein großes Problem für euch sein würde.“
Jetzt griff Lars ein, der mehr Verständnis für den Gescholtenen empfand und dem die knallharte Kompromisslosigkeit seiner Frau und von Benno nicht gefiel.
„Was Paul gemacht hat, war nicht in Ordnung. Ist aber auch kein Grund, über ihn herzufallen. Immerhin organisiert er zu unser aller Entlastung Jahr für Jahr unsere Radtouren. Das sollten wir nicht vergessen.“
Selbst seine Frau Beatrix erwiderte nichts mehr, kaute auf ihrer Lippe und schaute kurz zu Rosa rüber, die sich scheute, Lars Worten offen zu widersprechen. Paul fasste sich endlich und hatte einen Vorschlag.
„Wir sollten uns mit denen treffen, ich meine mit den Benders“, erklärte er und ließ seinen Blick in der Runde kreisen. „Dann können wir uns ein Bild von denen machen. Und sollten wir dann feststellen, dass es nicht passt, dann müssten wir die bitten, die Tour allein zu fahren oder abzusagen.“
Das klang gut und kam an, obwohl er unerwähnt ließ, ob eine Buchung so einfach gecancelt werden könnte. Fast alle nickten zustimmend und schienen froh, dass sie Paul hatten, der sich dieser Organisationsarbeit seit Jahren angenommen hatte. Jetzt wollten sie aber mehr über die Benders erfahren.
Als sie auseinandergingen, war zumindest Paul überzeugt, dass ihm alle in der Runde seinen Alleingang verziehen und die Mitfahrt seines Kollegen und dessen Frau grundsätzlich akzeptiert hatten. Er war sicher, dass keiner deshalb die gemeinsame Tour platzen lassen wollte. Das sah er zu optimistisch, denn einige seiner Freunde hatte er nicht überzeugt. Auf ihrer Heimfahrt diskutierten die beiden Ehepaare Schlichter und Lindner weiter. Beatrix konnte sich nicht bremsen, ihrer anhaltenden Skepsis und Verärgerung freien Lauf zu lassen.
„Paul hat uns ganz schön eingewickelt, finde ich. Jetzt sollen wir also zusammen mit diesen Benders fahren, obwohl wir die überhaupt nicht kennen. Oder wisst ihr mehr, als dass sie in unserer Stadt wohnen und er ein Kollege von Paul ist?“
„Na ja, etwas mehr wissen wir jetzt schon“, widersprach Lars. „Es scheinen auch interessante Leute zu sein, immerhin hat sich Paul doch sehr positiv über die geäußert. Und Erfahrungen mit Radtouren sollen die auch haben. Ich sehe das entspannter als du.“
„Ja und?“, fragte Benno ironisch. „Was Paul sagt, will ich gern glauben. Nur ist das nicht der Punkt. Das Wichtige ist doch, ob sie zu uns passen. Also ich weiß jedenfalls nicht sehr viel über die, um jetzt sagen zu können: passt schon. Aber die Entscheidung ist gefallen, und wir sollten uns damit anfreunden, meine ich.“
„Manchmal bringst du es einfach auf den Punkt!“, rief Beatrix, die jetzt von ihrem Rücksitz aus die Schultern von Benno umschlang, ungeachtet dessen, dass der sich auf das Lenken konzentrieren musste.
„Kannst du den mal einfach fahren lassen, bevor noch etwas passiert?“, mischte sich Rosa befremdet ein, der diese Geste weniger gefiel.
„Wieso denn? Dein Mann ist doch so knuddelig!“ Jetzt mussten alle lachen, und weder Rosa noch Lars bemerkten, wie sehr in diesem Moment Beatrix Benno knuddelte und der gleichzeitig ihre Hand fasste und die fest drückte.
„Gell, wir jedenfalls gehören zusammen!“, sagte Benno in die Runde und schaute in den Rückspiegel.
***
Benders fuhren voraus, eine beträchtliche Lücke hatte sich zum Feld der restlichen Radgruppe aufgetan, die offensichtlich keine Anstrengungen unternahm, die zu verkleinern. Dabei war es nicht der Tag, an dem man unbedingt gemütlich durch die Landschaft zockelte, weil keine wärmende Sonne und ein wolkenloser Himmel die Stimmung stimulierte. Es regnete zwar nicht, aber sonst gab sich dieser Septembertag grau und kühl.
Bei der Abfahrt vor dem Hotel am Morgen hatte Paul den Benders erklärt, dass sie auf der Fahrt gern zusammenbleiben wollten, sich keiner beim Radeln verausgaben sollte.
„Wir fahren eher gemütlich, haben für die Etappe genug Zeit und müssen uns nicht beeilen.“
Das hatte zumindest Klaus vermutlich nicht völlig verstanden. Bereits mehrfach hatte er festgestellt, dass er zu weit vor der Gruppe herfuhr und er dann warten musste. Nur Petra war meist neben ihm geblieben, was ihr gar nicht so leicht fiel. Gegen das eher gemächliche und entspannte Radeln der Gruppe hatte sie selbst nichts einzuwenden, hätte sich gern mehr an den Gesprächen der anderen Radler beteiligt.
„Du hast doch gehört, was Paul heute Morgen gesagt hat“, erinnerte ihn seine Frau. „Die fahren halt ihr übliches Tempo, und das reicht ja auch. Ich jedenfalls möchte auch nicht wesentlich schneller fahren.“
„Bisschen nervend für mich, immer wieder warten zu müssen“, entgegnete Klaus etwas gequält. „Die sind wohl gar nicht so fit, wie es Paul behauptet hat. Zumindest ein Teil von denen.“
„Wen meinst du denn?“, erkundigte sie sich. Ihr war Klaus Beobachtung gar nicht aufgefallen, hatte sie zumindest nicht beachtet.
„Das siehst du doch selber!“, entgegnete ihr Mann und schaute sich abschätzig nach der Gruppe um, die Klaus bissigen Kommentar gar nicht gehört hatte. „Ich hätte da mal eine Frage zur Fitness an Paul!“
„Untersteh dich“, warnte ihn Petra, die fürchtete, dass ihr Mann drauf und dran war, seine latente Unzufriedenheit hinauszuposaunen. „Bring die nicht gegen uns auf mit deinen Kommentaren. Die Tour geht noch über mehrere Tage.“
„Keine Sorge, mach ich schon nicht“, wiegelte er ab. Gleich darauf vermochte er doch nicht, sich mit einer spöttischen Bemerkung über deren Fitness zurückzuhalten. Die hatten inzwischen zu ihnen aufgeschlossen, da sie ihr Tempo verzögert hatten. „Kostet euch Kondition, was?“
„Am ersten Tag tun wir uns vielleicht etwas schwer“, erklärte Paul entschuldigend und klopfte dabei Klaus auf die Schulter. „Wart ab, morgen wird’s schon besser!“
Dann fiel ihm noch etwas ein, wobei er ihn sogar versuchte, näher an sich heranzuziehen.
„Wenn du meine Rede von heute Morgen richtig verstanden hättest, dann müsstest du nicht so oft warten, weil du so weit vorausfährst.“
Petra hatte diesen Hinweis erwartet und nickte zustimmend. Nur hatte der gar nicht ihr gegolten.
Der Radweg verlief parallel zu einer mäßig befahrenen Landstraße. Erst genossen sie einen abschüssigen Streckenabschnitt, dann folgte eine lang gestreckte Linkskurve, wobei die zunehmend steil anstieg. Fast alle in der Gruppe schalteten jetzt in einen niedrigeren Gang runter, sofern sie nicht auf E-Bikes unterwegs waren. Nur Klaus mühte sich weiter die Steigung hinauf, ohne zu schalten. Er erhob sich sogar vom Sattel. Oben auf der Kuppe musste er dann erst mal warten und schaute grinsend seinen Mitfahrern entgegen. Er rudert dabei mit dem Arm, um denen anzuzeigen, dass die sich ins Zeug legen sollten, was er für einen Spaß hielt. Tatsächlich aber hatten da bereits alle Frauen erschöpft aufgegeben und schoben ihre Räder.
„Der kann mich mal!“, stieß Beatrix mit unterdrücktem Ärger aus. „Wir unternehmen hier nichts anderes als eine Radwanderung und keinen Wettbewerb!“
„Die haben es wohl nicht begriffen, was Paul heute Morgen gesagt hat“, erwiderte ihre Freundin Rosa, die ebenfalls genervt war, aber weniger von der anstrengenden Schieberei. Sie sah sich durch den häufig vorausfahrenden Klaus provoziert.
„Macht mal hinne!“, rief jetzt Lars Schlichter, der in den Pedalen stehend an ihnen vorbeizog. „Wollen uns doch nicht abhängen lassen!“
Aber kurz darauf musste er auch absteigen, was er mit einem lauten Fluch quittierte. „Nur verschaltet!“, rief er zur Entschuldigung. Immerhin konnte jetzt die ganze Gruppe zum wartenden Klaus aufschließen.
Erst mal sprach keiner ein Wort, deutlich schien sie alle dieser Anstieg gefordert zu haben. Selbst der ehrgeizige Klaus hielt sich zurück, wenn auch seiner leicht spöttischen Miene zu entnehmen war, was er insgeheim über seine Mitfahrer dachte.
Er wollte gerade doch etwas sagen, da fuhr ihn Rosa harsch an. „Besser du hältst jetzt den Mund!“, schnauzte sie ihn an. „Wir fahren in der Gruppe, um die Tour zu genießen! Der Weg ist unser Ziel, hast du wohl noch nicht verstanden!“
Alle schauten etwas unsicher abwechselnd zu Rosa und dann zu Klaus, der grinsend den Kopf schüttelte und es nicht dabei bewenden lassen wollte.
„Sorry, aber gut, dass du es mir nochmals erklärt hast!“
„Lasst uns mal weiterfahren, bevor die Stimmung leidet“, grätschte Paul dazwischen, dem das Verhalten der beiden absolut nicht gefiel. „Noch zwei oder drei Kilometer, dann erreichen wir eine Ortschaft. Dort im Ort oder dahinter finden wir sicher am Ufer einen Platz, wo wir Rast machen können.“
Paul zeigte in diesem Moment wieder einmal, warum er im Freundeskreis wegen seines Gespürs für aufkommende Misstöne und seiner Besonnenheit eine Führungsrolle einnahm. In Gruppen findet sich oft jemand, der eine Missstimmung früh genug heraufziehen sieht, um darauf rechtzeitig reagieren zu können. Wenn es galt, einen ernsthaften Streit zu schlichten, dann griff Paul ein und suchte meist mit Erfolg die Situation zu retten. Zweifelsohne trug er so zum Gelingen ihrer Unternehmungen bei, weil er allen die Sicherheit vermittelte, ein Scheitern abwenden zu können. Unterstützt wurde er dabei von seiner Frau, die sich zwar selten in den Vordergrund schob, aber ein ähnliches Geschick aufwies.
Sie beide studierten wie kein anderer der Freunde lange vor Beginn der Radtour intensiv die Tourenbeschreibung des Veranstalters und informierten sich über die Region, durch die die Tour führte. So halfen sie häufig mit Tipps, wo ein Abstecher zu einer Sehenswürdigkeit lohnte oder wo sie eine Pause einlegen sollten. Kein Wunder, dass Paul von den Freunden als Seele einer Radtour empfunden wurde. Ob die Benders genauso empfanden, war nicht sicher, Petra zumindest schien das eher bewusst zu sein, wohingegen das bei Klaus nicht so klar war.
„Dann reihen wir uns halt jetzt hinten ein“, bemerkte Klaus leicht verstimmt nur für seine Frau, die dicht neben ihm stand. Es war die erste Etappe, laut Tourenbeschreibung zirka fünfzig Kilometer lang. Sie bot ihnen ausreichend Gelegenheit, sich entspannt zu unterhalten, da keiner von der Strecke übermäßig gefordert wurde.
***
Erst wenige Tage davor hatte Paul einen Grillabend in seinem Garten organisiert, um Klaus und Petra allen Teilnehmern vorzustellen. Er hoffte, dass die Benders hierdurch schneller Kontakt zur Gruppe finden würden. Das Glück hatte ihnen einen warmen und trockenen Tag im beginnenden September geboten. Neugier war auf beiden Seiten vorhanden, und der Ärger über Pauls einsame Entscheidung schien vergessen zu sein, als sich alle in der Gruppe den Benders kurz vorstellten.
Vielleicht wäre dieses Zusammentreffen noch besser verlaufen, wenn Klaus nicht eine für ihn typische und langatmige Rede gehalten hätte. Ausführlich erzählte er von seiner wichtigen Arbeit, und dann fehlte auch nicht, was er bei einer seiner Radtouren im Norden von Skandinavien meinte vollbracht zu haben. Das hörte sich für die anderen beeindruckend an, fand nur wenig Sympathie, langweilte eher, und einige hielten es schlicht für zu dick aufgetragen.
„Es gab dabei Steigungen von bis zu 15 %, und das noch über zweihundert bis dreihundert Metern Länge. Hinzu kam auch der oft heftige und böige Wind“, schwärmte Klaus. „Das hat uns alle bis zur Belastungsgrenze gefordert.“
„Wer ist wir? Warst du dabei, Petra?“, wagte Beatrix eine Frage.
„Nein, wir Männer waren unter uns. Nur meine Tennispartner!“, schoss Klaus sofort dazwischen, noch bevor seine Frau antworten konnte. „Ich glaube, Petra, das hätte dir auch kaum gefallen.“
„Hört der sich immer so gern reden?“, flüsterte Beatrix Rosa ins Ohr, wohl ahnend, dass das klar war.
„Muss wohl so sein“, gab die ebenfalls leise zurück, weil sie den gleichen Eindruck hatte. „Seine Frau scheint das gewohnt zu sein.“
„Na, dann wissen wir das jetzt auch noch, danke, Klaus“, sagte schließlich Paul etwas ironisch lächelnd.
Sein Arbeitskollege hatte den leicht spöttischen Ton, die möglichen kritischen Gefühle und die schon aufkommende Distanz bei einigen Zuhörern nicht wahrgenommen. Und seine Frau schien solche Reden ihres Mannes klaglos hinzunehmen. Auf dem Nachhauseweg hatte Petra bemerkt, wie nett sie alle fände und meinte, dass die Tour ihnen Spaß machen würde.
„Wir haben uns ganz gut präsentiert, denke ich. Und konditionell müssen wir uns sicher nicht verstecken“, fügte ein recht zufriedener Klaus an.
***
Paul mochte sich an dieses Treffen jetzt erinnern, als er sich mit seinem Rad zwischen die Benders schob. Bis zur nächsten Ortschaft war es nicht mehr weit.
„Es ist für uns besser, wenn wir nicht nur in Kleingrüppchen fahren“, versuchte er vor Klaus seine Mahnung vom Morgen in anderen Worten zu wiederholen, da er nicht überzeugt war, dass der ihn richtig verstanden hatte. „Wir haben schließlich genügend Zeit für die Etappe. Und so können wir uns auch unterhalten.“
„Wir werden uns an das übliche Tempo halten!“, mischte sich Petra lachend ein. „Sorry, wenn wir euch vorhin verärgert haben sollten.“
„Verärgert ist keiner“, gab Paul zurück, der nicht sie, sondern ihren Mann gemeint hatte.
Etwas später saßen sie eng gedrängt in einer zu einem Café erweiterten Bäckerei des kleinen, kaum dreihundert Seelen zählenden Ortes. Die meisten verdrückten ein Stück Kuchen und tranken dazu Kaffee oder Tee. Leider fing es jetzt zu regnen an.
„Na, das wird heute sicher nicht unser schönster Tag!“, rief jemand, der sich dicht an der matt verglasten Eingangstür postiert hatte.
„Morgen wird es sicher wieder schöner“, suchte Carmen die Stimmung aufzuhellen.
Keiner hatte es bemerkt, bis Klaus plötzlich mit einem Tablett an den drei runden Café-Tischen erschien. Er platzierte acht Schnapsgläser und eine Flasche Mirabellen-Schnaps direkt vor seine erstaunt blickenden Freunde.
„Also die haben hier nur eine beschränkte Anzahl an solchen Gläsern, und die Mirabelle ist das Einzige, was es hier an stärkeren Getränken gibt“, entschuldigte er sich. „Wir müssen uns halt damit begnügen.“
Dann füllte er die Gläser, was durchaus bei den Freunden hörbar Beifall fand. Kaum gefüllt, griff schon der Erste nach seinem Schnapsglas.
„Die Flasche reicht aber gerade mal für eine Runde!“, spottete Benno nicht ganz ernst.
„Aber leider, Leute, Nachschub werden wir hier nicht bekommen. Dann aber zum Wohl, auf die Tour!“, rief Klaus sichtlich stolz auf seine Idee.
Petra, seine Frau, begann sofort, die geleerten Gläser nochmals neu zu füllen, sodass am Ende jeder mindestens eine Mirabelle erhielt. Nur für sie selbst und Klaus blieb so nichts mehr übrig, die Flasche war ja beim Kauf schon angebrochen gewesen.
„Ich wollte noch etwas sagen“, ließ sich Klaus vernehmen. „Wir müssen bei dem Regen ja noch eine Weile hier im Laden abwarten.“ Er schaute in die Runde.
„Also, wir sind das erste Mal dabei, haben bis auf Paul und Carmen keinen von euch gekannt. Und da ist für uns besonders spannend, mit euch mitzufahren. Ich sage noch mal: Vielen Dank an euch, dass ihr alle uns so offen aufnehmt, und ich wünsche uns allen eine gelungene Radtour.“ Und weil er so in Fahrt war, rief er einer spontanen Eingebung folgend laut in die Runde: „Mit Plattfuß geht’s nimmer, ohne immer!“, was alle gleich darauf wiederholten.
Es war kaum aufgefallen, dass Rosa sich zurückgehalten hatte. Die hatte möglicherweise ihren Wortwechsel auf der Fahrt nicht weggesteckt, und immer noch stand ihr Schnapsglas gefüllt vor ihr. Ihr Gesicht zeigte sich unbeteiligt und verriet nicht, was sie beschäftigte. Sie mied auch den Blickkontakt zu ihren Mitfahrern.
„Das war hoffentlich aber nur euer Einstieg in den Einstand“, witzelte Paul, der die leere Mirabellenflasche in die Luft hielt. „Da sollte doch noch etwas folgen!“
Einige trommelten mit der flachen Hand auf die Tischplatten, und Petra erklärte lachend, dass sie das nicht anders verstanden habe.
Dass sie der Regen länger in diesem Café festhielt als geplant, schien niemanden zu stören. Im Gegenteil, es stellte sich inzwischen eine entspannte Stimmung ein, weil sogar diese kleine Menge Alkohol einigen die Zunge gelöst hatte. Dabei half dann, dass es in dieser Café-Bäckerei gemütlich war, trotz der Beengtheit – oder gerade deshalb.
Der Regen würde sich heute nicht mehr verziehen, stellte Paul nach fast einer Stunde fest, und schon ließ die Bäckersfrau erkennen, dass sie darauf hoffte, ihre Gäste endlich weiterziehen zu sehen. Dabei hatte sie sicher einiges eingenommen, weil die Gruppe nicht nur Kuchen gegessen hatte.
„Leute, lasst uns losfahren“, mahnte schließlich Paul zum Aufbruch. „Wir haben noch ein gutes Stück vor uns, und der Regen wird uns erhalten bleiben.“
„Geht es dir nicht gut, Rosa?“, fragte Klaus beim Hinausgehen, dem ihre Teilnahmslosigkeit aufgefallen war. Warum die sich bei den lockeren Gesprächen so zurückgehalten hatte, erschloss sich ihm nicht, er vermutete durchaus zutreffend den Grund in ihrem kurzen Zusammenprall auf der Fahrt.
„Wieso willst du das jetzt wissen?“, antwortete Rosa auf seine Frage, was eher missgelaunt rüberkam.
„Ach, nur so. Du warst die ganze Zeit im Café so schweigsam, und das habe ich bemerkt.“
„Ich habe zugehört. Das reicht manchmal auch!“, erwiderte Rosa spitz und wollte sich an ihm vorbei zu ihrem Rad durchzwängen. „Mal eine gute Idee, nicht wahr?“
„Ich dachte, dass ich das von vorhin geradebiegen kann“, versuchte es Klaus nochmals, da schwang sie sich aber schon auf ihr Rad.
„Lass sie doch!“, zischte ihm Petra leise zu, was niemand sonst mitbekam. „Die braucht wohl noch etwas Zeit, um sich an uns in der Gruppe zu gewöhnen. Zeigen wir uns also auch mit Geduld.“
„Deshalb versuche ich ja mit der ins Gespräch zu kommen. Vielleicht …“
Petra sah das anders. „Lass sie einfach in Frieden und warte, bis sie von selbst kommt!“
Ohne zumindest Rosa auf ihr abweisendes Verhalten angesprochen zu haben, wollte Klaus aber nicht aufgeben. Daher drängte er sich jetzt neben sie, die sich an die Spitze der Radgruppe gesetzt hatte.
„Ein blödes Wetter“, versuchte er es mit einem neutralen Thema. Dann wartete er einen Moment, ob sie etwas erwidern würde, und redete, weil von ihr nichts kam, einfach weiter.
„Der Wetterbericht prophezeit Gott sei Dank für die nächsten Tage recht passables Wetter. Morgen gibt es demnach keinen Regen.“
Rosa reagiert immer noch nicht, ließ ihn regelrecht auflaufen. Ziemlich ratlos suchte er jetzt in der für ihn peinlichen Gesprächspause nach einem Thema, um sie aus der Reserve zu locken. Ihm fiel noch mal seine anstrengende Radtour mit seinen Tennisfreunden ein.
„Wenn ich an das teilweise scheußliche Wetter in Skandinavien bei unserer Tour denke, dann ist der Regen jetzt ganz gut zu ertragen“, versuchte er sie so zu erreichen. „Kalt war es auch häufig gewesen, manchmal haben wir sogar gefroren.“
„Toll!“, rief Rosa ohne Interesse. „Frage mich, warum du dich auf so eine Challenge eingelassen hast, wenn es doch so wenig Spaß gemacht hat?“ Dabei dehnte sie übertrieben das Wort Challenge.
„Ja, für mich war es eine Herausforderung. Darauf kam es mir ja an!“, entgegnete er ernsthaft, weil er ihren spöttischen Unterton gar nicht bemerkt hatte.
„Brauchst du das für dein Selbstbewusstsein?“, hakte sie nach und feixte dabei zu ihm rüber, was Klaus nicht entging.
Der hatte endlich verstanden und reagierte jetzt spürbar gereizt. „Für mein Selbstbewusstsein gibt es ausreichend Gelegenheiten! Allerdings frage ich mich, ob du nicht dein Selbstbewusstsein durch solche Unhöflichkeiten aufpolieren musst? Hast du noch mehr drauf?“
„Mit deiner Erzählung kann ich nichts anfangen. Höre nur immer heraus, dass du ein ganz toller Radfahrer bist, was du augenscheinlich auch bei unserer Tour unter Beweis stellen willst.“
Klaus atmete tief durch, bevor er darauf antwortete. „Muss ich das verstehen? Jeder fährt gern in seinem Rhythmus. Und ich liebe es, auch mal Tempo zu machen. Kann ja sein, dass dich das stört, fehlt es dir vielleicht an Kondition?“
Rosa schüttelte unwillig den Kopf. „Meine Kondition reicht völlig! Aber gerade habe ich überhaupt keine Lust, mich mit dir zu unterhalten“, entgegnete sie säuerlich und verzögerte so unvermittelt ihre Fahrt, dass der folgende Radfahrer ebenfalls heftig bremsen musste und laut protestierte. „Mensch Rosa, was soll das denn?“
Und Klaus sah sich auf einmal an der Spitze allein fahren. Auch ihm reichte es jetzt, einen weiteren Versuch, an Rosa heranzukommen, hatte er zumindest heute nicht vor. Etwas missgelaunt schaute er sich nach Petra um, die das sah und versuchte, zu ihm aufzuschließen.
„Sagte ich nicht, du sollst die in Ruhe lassen? Musstest du dir erst eine Abfuhr abholen, bis du das begreifst? Wir gehören für sie einfach noch nicht dazu, das müssen wir erst mal akzeptieren.“
„Ob ich das akzeptieren werde – schau’n wir mal“, knurrte er.
Der Regen ließ doch noch nach, etwas zeigte sich tief am Horizont sogar die Sonne. Dem stets zurückhaltenden Roman Schlichter gefiel es so gut, dass er zu singen anfing, was die anderen eher amüsierte.
Von hinten hörten sie Rosa laut rufen. „Könnten wir doch noch mal anhalten?“, rief sie, und den meisten war klar, warum sie so kurz vor ihrem Etappenziel die Fahrt unterbrechen wollte.
„Hier ist es aber schwierig“, erklärte Beatrix zu ihrer Freundin und sah sich prüfend um. „Ich muss auch, aber hier ist nichts, wo wir uns etwas verbergen könnten.“
„Ich gehe das Stück zurück zu dem Graben, den wir gerade überquert haben“, antwortet Rosa. „Kommst du mit?“
Und gleich darauf verschwanden sie beide im Graben, wo nur noch gelegentlich etwas von ihren Köpfen über den Rand lugte.
Und dann ertönte ein schriller Schreckensschrei. Zwei andere Frauen stürmten zurück, um Hilfe zu leisten, doch da tauchten Rosa und Beatrix schon wieder auf und rannten zu ihren Rädern. Sie ruderten heftig mit ihren Armen durch die Luft, so, als wollten sie irgendwelche Insekten verscheuchen, die sie verfolgten.
„Was war denn los?“, frage Paul besorgt, als sie bereits wieder zusammenstanden.
„Uns haben im Graben Wespen angegriffen, die nisten dort augenscheinlich in einem Erdloch, was wir nicht bemerkt haben“, erklärte Beatrix. Sie war gestochen worden, denn sie zeigte wütend auf die Innenseite ihres Oberschenkels.
Auch Rosa hatte es erwischt, bei ihr musste der Stich ihren Rücken getroffen haben, denn sie ließ jetzt die Stelle von Carmen untersuchen.
„Und das mitten beim Pipimachen“, feixte Klaus unpassend, der sich nichts bei seinem Spaß gedacht hatte. Wie empfindlich die beiden Frauen waren, erfuhr er postwendend.
„Geht’s noch bei dir?“, geriet Rosa fast außer sich und blitzte Klaus wütend an. „Nicht nur, dass die Stiche richtig schmerzhaft sind, wenn eine dieser Wespen in unseren Po gestochen hätte, was meinst du, wie wir dann hätten weiterfahren können?“
Die Gruppe schwieg betreten, selbst wenn nicht alle Rosas Wut nachvollziehen konnten. Zumindest unangebracht erschien Klaus Witz den anderen. Der gab sich immer noch ahnungslos über die Empfindlichkeit der beiden Frauen. Immerhin unterdrückte er eine weitere Bemerkung, als ihn Petra heftig anstieß.