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„Es ist ja Gott sei Dank nichts passiert“, suchte Paul wieder einmal die aufgezogenen finsteren Wolken zu verscheuchen.
Jetzt mischte sich aber Benno ein, den Klaus Verhalten an diesem Tag schon einmal sauer aufgestoßen war.
„Paul, wenn du glaubst, hier den Psychodoktor spielen zu müssen, dann liegst du falsch. Du solltest ihm noch mal klarmachen“, er zeigte dabei mit seinem Finger auf Klaus, „wie wir hier miteinander umgehen. Ansonsten ziehen wir, Rosa und ich, es vor, allein weiterzu- radeln.“
„Jetzt schießt du deutlich übers Ziel hinaus“, mischte sich Carmen zur Unterstützung ihres Mannes ein. „Klaus hat einen Spaß gemacht, der wollte niemandem von euch zu nahe treten. Es reicht jetzt, oder wollt ihr, dass unsere Radtour hier im Streit scheitert?“
Carmen schien sich selbst über ihre entschiedene Rede zu wundern, erntete aber einen dankbaren Blick von Paul.
„Ich wollte wirklich niemanden beleidigen“, beteuerte Klaus und schaute sich hilfesuchend um. Beatrix und Rosa schien das nicht zu beeindrucken, ihre Mienen verrieten nach wie vor Verärgerung.
„Okay, stecken wir es weg!“, erklärte Lars. „Carmen hat recht. Jedenfalls möchte ich diese Radtour bis zur letzten Etappe zu Ende fahren, und meine Frau sicher auch.“
Was immer Rosa und Beatrix im Moment durch den Kopf ging, sie sprachen es nicht aus. Erst als sie nebeneinander außer Hörweite der Benders radelten, wurden sie deutlich.
„Denkst du dasselbe wie ich?“, fragte Rosa. „Ich meine, dass er vor allem für mich fast ein rotes Tuch ist, er ist aufgeblasen und offensichtlich empathielos.“
„Er schon, seine Frau aber nicht! Was sollen wir machen?“, fragte ihre Freundin.
„Das weiß ich jetzt auch nicht. Aber ich werde ihm aus dem Weg gehen“, erwiderte Rosa.
Wie sehr Klaus lockerer Spruch nach dem Wespenangriff ihre latent vorhandene Abneigung gegen ihn weiter verstärkt hatte, war den Freundinnen in diesem Moment nicht bewusst. Die hatte sich aber richtig verfestigt.
Und die anderen? Die mochten vielleicht erstmals daran zweifeln, ob ihre Tour dieses Mal ebenso harmonisch verlaufen würde, wie sie es gewohnt waren. Aber auch ihnen war das nicht sofort bewusst.
Am Abend beim Essen schien die Missstimmung in der Gruppe vergessen. Die Gespräche liefen so locker wie bei früheren Radtouren. Es wurden Witze gemacht und gelacht, und besonders Paul und Carmen schien die Atmosphäre zu beruhigen.
***
Der folgende Morgen zeigte sich mit dem wolkenlosen Himmel so freundlich, wie sie es sich wünschten. Zwar war es jetzt um diese Zeit noch kühl, aber alle hofften darauf, dass die Sonne das schnell ändern würde.
Bevor sie losfuhren, gab es die übliche Diskussion zwischen den Männern über die Fahrstrecke. Das lag sicher auch an den Navigationssystemen, die inzwischen fast alle mit sich führten. Die Routenbeschreibung im Informationsheft des Veranstalters spielte da kaum eine Rolle. Aber das war ein Ritual, auf das vor allem die Männer nicht verzichten wollten.
Nur die Benders hielten sich bei der Diskussion raus und hatten ein ganz anderes Problem.
„Gestern Abend war das Vorderrad noch in Ordnung!“, knurrte er und drehte das Rad auf Lenker und Sattel um. „Weiß nicht, was da passiert ist. Immerhin sind Schlauch und Mantel ganz neu, ein sogenannter unplattbarer Reifen.“
Petra stand bedauernd neben ihm, weil sie nicht helfen konnte. Den Platten würde ihr Mann allein reparieren. Prüfend fuhr er mit seinem Daumen über die Innenfläche des extra verstärkten Mantels.
„Verstehe ich nicht! Da ist nichts Spitzes, kein Dorn, kein Nagel, nichts dergleichen. Der Mantel scheint völlig unversehrt“, erklärte er und legte dann einen neuen Schlauch ein. „Muss mir bei nächster Gelegenheit unbedingt noch einen Ersatzschlauch besorgen, falls das noch mal passiert.“
Erst jetzt schienen die anderen seine Panne bemerkt zu haben und traten dazu. „Können wir helfen?“
„Nee danke, schon erledigt“, antwortete Klaus, den immer noch die Panne wurmte. „Von mir aus können wir starten.“
„Das passiert also auch mit sogenannten unplattbaren Reifen!“, kommentierte Benno sachlich, wobei er den kaputten Schlauch in seinen Händen prüfte.
„Der Schlauch muss ein Loch haben, aber es geht in Wirklichkeit um den Mantel. Und da konnte ich nichts Spitzes finden“, belehrte ihn Klaus.
„Zu deinem Schlachtruf passt das nicht gerade“, sagte Beatrix, die ihr Gesicht so verzog, als verkniffe sie sich ein Lachen. Sie warf Rosa einen vielsagenden Blick zu, die der Vorfall ebenfalls zu amüsieren schien.
„Lasst mal eure Sprüche“, ermahnte Paul leise die umstehende Runde.
Klaus war fertig, befestigte nur noch sein iPhone am Lenker, worauf er ihre Etappen abgespeichert hatte.
„Möchte mal wissen, was die immer so lange mit der Route herumeiern“, brummte er Petra verärgert zu, als sie wieder allein standen. Die Panne ließ ihn nicht los. Sie mahnte ihn jetzt leise, den Mund zu halten.
„Scheint denen wichtig zu sein“, erwiderte sie. „Denke diesmal daran, wir sind nicht auf der Flucht, fahre also nicht ständig voraus!“
„So, Leute, wenn alle so weit sind, dann lasst uns mal starten“, rief Paul, der kurz den wartenden Benders zunickte und ebenfalls sein Rad bestieg.
Die anderen schwangen sich endlich auf ihre Räder, es ging los, obwohl einige Männer die Diskussion über die beste Route noch immer nicht beenden wollten.
Auf dem schmalen Radweg radelten sie bis zum Ortsende zunächst in Schlange. Erst dann erreichten sie einen deutlich breiteren und befestigten Feldweg, auf dem sie nebeneinander herfahren konnten. Schnell bildeten sich dann kleine Gruppen. Carmen wagte, nochmals ein Lied anzustimmen, was aber keinen animierte mitzusingen. Wer kannte noch Liedtexte aus seiner Kindheit?
„Hör mal, Paul.“ Rosa hatte sich mit ihrem Rad direkt neben ihn geschoben. „Wenn die Benders heute wieder das Tempo verschärfen oder weit vorausfahren, dann sollten wir die einfach mal ziehen lassen. Ich habe nämlich keine Lust, mir von denen das Tempo diktieren zu lassen.“
Paul stutzte und reagierte verzögert. „Was ist mit dir los, Rosa?“, erwiderte er verwundert. „Natürlich fahren wir unser Tempo, wie sonst auch. Im Moment sehe ich nicht, wo dein Problem ist.“
„Mein Problem?“, reagierte Rosa gereizt. „Wer hat die eigentlich eingeladen, mit uns mitzufahren?“
„Das war ich“, erwiderte Paul halb belustigt, halb irritiert. „Hatte das auch mit euch besprochen, wenn auch etwas verspätet. Schon vergessen?“
„Genau, verspätet! Ich habe immer mehr Zweifel, ob die hier reinpassen.“
Das Gespräch empfand Paul als unangenehm. Er sah keinen Grund, sich ihr gegenüber nochmals rechtfertigen zu müssen. Er beschleunigte jetzt sein Tempo, sodass er vor ihr fahren konnte. Die merkte das und verzögerte ihrerseits ihre Fahrt, bis sie dann dicht neben ihrem Mann radeln konnte.
„Paul versteht mich mal wieder nicht“, schimpfte sie aber leise.
„Was? Was hast du gesagt?“, fragte ihr Mann in normaler Lautstärke. Der versuchte schon länger an die Seite von Beatrix heranzufahren, was ihm wegen Lars nicht gelang, der nicht gedachte, ihm Platz zu machen.
„Das erkläre ich dir später, heute Abend“, resignierte Rosa, unverändert sauer. „Sollten die Benders heute wieder weit vorausfahren, dann werde ich dafür plädieren, die einfach ziehen zu lassen.“
„Was hast du denn vor?“, fragte Benno unkonzentriert, der nach wie vor eine Chance suchte, sich neben Beatrix schieben zu können.
„Mal sehen. Abwarten“, antwortete sein Frau, die fest entschlossen schien.
Sie fuhren am Morgen recht zügig. Es war bei ihnen üblich, sich erst mal „warm“ zu fahren, möglichst eine volle Stunde an einem Stück, sodass sie dann etwa ein Viertel der Etappe zurückgelegt haben würden. So auch heute, sie warteten mit der ersten Pause, bis einzelne Mitfahrer darauf drängten, endlich anzuhalten. Wie üblich gab es kleinere Diskussionen darüber, welcher nun der bessere oder schönere Rastplatz wäre.
Die Benders, die sich über die ihrer Meinung nach verfrühte Unterbrechung wunderten, fanden die Diskussion für einen geeigneten Rastplatz erst recht aufwendig. Petra schüttelte zwar verhalten mit dem Kopf, behielt ihre Meinung aber für sich. Nur Klaus hatte eine spöttische Bemerkung auf den Lippen und ließ die jetzt noch leise raus. „Ob die nicht eher einen Übernachtungsplatz suchen?“, fragte er Petra, die ihn sofort ermahnte, doch bitte still zu sein.
Schließlich fand sich ein Platz, der die allseitige Zustimmung genoss. Ein Holztisch mit zwei Bänken, direkt am Flussufer, weit genug vom nächsten Ort entfernt. Dort konnten sie in aller Ruhe die erste Flasche Wein trinken und die vielen mitgebrachten Kekse, Süßigkeiten oder sogar Würstchen verzehren.
„Trinkt ihr sonst auch um diese Zeit bereits Wein?“, erkundigte sich Petra schmunzelnd.
„Na klar! Und meist reicht die eine Flasche nicht einmal“, erklärte Andy lachend. „Aber keine Sorge, für jeden ist da so wenig im Glas, wir sind ja zehn Leute, dass man die geringe Menge Alkohol gar nicht merkt.“
„Zwölf!“, korrigierte ihn Petra, die sich gestern über die Einladung ihres Mannes gewundert hatte, trank der doch normalerweise selten hochprozentige alkoholische Getränke und auf einer Radtour meist nur Wasser. Sie nickte Andy zu und ließ sich eine geringe Menge Wein in ihren Becher eingießen.
„Dann noch mal dein Spruch von gestern, Klaus“, sagte Paul und hielt seinen Becher hoch.
„Mit Plattfuß geht’s nimmer, ohne immer!“, rief der und freute sich sichtlich, weil sich jemand an seinen gestrigen Ausruf erinnert hatte.
In dem Moment sprang Rosa auf. „Ich habe noch etwas ganz Besonderes dabei!“
Sie lief zu ihrem Rad und kehrte gleich darauf mit einer Flasche zurück, die ein rötlich-orangefarbenes Getränk enthielt.
„Ihr werdet es gleich merken, was es ist. Habe es selbst angerichtet mit Orangen und Mangos!“
„Mit viel Alkohol natürlich“, vermutete Klaus und verdrehte etwas die Augen.
„Du brauchst ja nicht mitzutrinken!“, entgegnete ihm Rosa kühl. „Eure Gläser bitte!“
Als sie die fast leere Flasche prüfend gegen den Himmel hielt, schien sie verwundert. „Hätte nicht gedacht, dass da noch ein Rest übrig bleibt.“
Als schließlich die Fahrt fortgesetzt wurde, hatte sich die Stimmung deutlich verbessert. Und endlich fand Carmen die richtige Melodie, denn bei ihrem erneuten Versuch mit einem populären deutschen Schlager sangen zunächst mindestens die Frauen mit und wenig später auch einige Männer. Der Text strapazierte ja kaum das Gedächtnis, so simpel, wie er war.
„Der Wein scheint ihnen gar nicht viel auszumachen“, wunderte sich Petra, zeigte aber, dass sie das eher lustig fand. „Erst der Wein, und die Likörflasche von Rosa haben sie auch fast geschafft. Ich glaube, ich fahre im falschen Film!“
Andy, der direkt vor den Benders radelte, drehte sich lachend zu ihr um. Er hatte das mitbekommen. „Das lernst du bei uns auch bald!“ Kurz darauf fuhren sie in ein Waldgebiet hinein, wo der Radweg nicht nur beträchtlich schmaler, sondern auch kurvenreicher verlief. Die häufigen, mit Regenwasser gefüllten Vertiefungen zwangen sie alle, vorsichtig und konzentriert zu fahren. Das vorher muntere und spaßige Hin und Her der teilweise recht schlichten Sprüche ebbte schnell ab.
Ein kurzer, aber durchdringender Schrei und das Knacken von Holz, gefolgt von einem dumpfen Geräusch einer fallenden Person, riss zumindest die in der Nähe fahrenden Radler aus ihrer Konzentration auf den Weg. Gleich hinter einer Wegbiegung trafen Andy und die Benders auf die am Boden liegende Rosa, die Mühe hatte, wieder auf die Beine zu kommen. In dem schmierigen Untergrund einer der Wasserlachen war ihr Rad weggerutscht und sie dadurch zur Seite in das dicht stehende Buschwerk gekippt. Jetzt hatte sich ein Bein unter ihrem Rad verklemmt, was sie daran hinderte, sofort aufstehen zu können.
„Hast du dir etwas getan?“, fragte Andy besorgt und stieg von seinem Rad ab, um zu helfen, während die Benders auf ihrem Rad verharrten.
„Nein!“, erwiderte Rosa, mehr verärgert über ihre Hilflosigkeit als über den Sturz. „Hilf mir nur mal hoch, heb mein Rad etwas an!“
Was Klaus jetzt äußerte, stieß erneut auf Unverständnis, obwohl er sicher nicht beabsichtigte, Rosa zusätzlich zu verärgern. Er war ja erleichtert, dass sie sich nicht ernsthaft wehgetan hatte. Nur sagte er etwas, was die absolut nicht hören wollte. „Wenn das mal nicht der Alkohol war!“
„Du bist so ein Arschloch, weißt du das!“, herrschte ihn Rosa, bereits wieder auf den Beinen, an, und jeder konnte ihre Empörung an ihrem heftigen Armrudern sehen. „Euch hätten wir gar nicht mitfahren lassen sollen.“
Damit stieg sie schon wieder auf ihr Rad und trat demonstrativ so scharf in ihre Pedale, dass ihr Hinterrad ein paar Mal regelrecht durchdrehte.
„Kam nicht so gut an“, bemerkte Andy in Richtung Klaus mit einem etwas ratlosen Gesichtsausdruck.
Dann war er fast hastig aufgestiegen und, ohne sich nochmals umzudrehen, weitergefahren. Auch Petra war ratlos und schüttelte den Kopf. „Du lernst es nicht, Klaus. Immer wieder provozierst du die mit deinen lockeren Sprüchen.“
Sie konnte das nicht nachvollziehen und wunderte sich über sein mangelndes Gespür der Runde gegenüber, was sie so bei ihm gar nicht kannte. Ob ihn vielleicht die Tour mit ihrem Zwang, sich einfügen zu müssen, überforderte?, fragte sie sich nicht ganz ernsthaft.
Bei der nächsten Rast bemerkten Klaus und Petra eine veränderte Stimmung bei ihren Mitfahrern. Die wichen ihnen aus oder reagierten abweisend auf ihre Äußerungen. Und sie beide hatten den gleichen Verdacht über die Ursache dieses Stimmungsumschwungs. Sie vermuteten, dass Rosa ihre Empörung über seine Bemerkung inzwischen weitergetragen hatte, sicher gefärbt von ihrer vorhandenen Antipathie. Selbst Paul schien sich etwas von ihnen fernzuhalten, was sonst nicht seine Art war. Nur einmal schüttelte er kurz den Kopf, als ihn Klaus’ Blick traf.
Am Abend erschienen die Benders als Letzte der Gruppe zum gemeinsamen Abendessen im Hotelrestaurant. Für sie waren nur die äußeren Plätze am langen Tisch frei geblieben. Bei ihrem Eintreten verstummte die Unterhaltung, die sie an der Tür zur Gaststube mitbekommen hatten.
„Haben wir etwas verpasst?“, fragte Petra, als sie schon eine Weile saßen und niemand redete. „Was ist mit euch?“
Paul räusperte sich, bevor er sich dann direkt an die Benders wandte. „Es ist so“, fing er umständlich an. „Wir wundern uns doch etwas über euer Verhalten. Ihr gebt den Anschein, als gefiele euch unser Umgang miteinander nicht so richtig.“
Klaus zögerte nur einen Moment, schaute kurz zu seiner Frau, um dann zu antworten.
„Wie sollen wir das jetzt verstehen?“, fragte er, was eher angriffslustig klang, zumindest sein Unverständnis ausdrückte. „Wir fühlen uns ganz wohl in eurer Runde. Wir dachten, dass ihr das auch seht. Vielleicht …“
Paul unterbrach ihn. „Es ist zum Beispiel eure Reaktion heute bei unserer ersten Rast. Und auch deine Bemerkung bei Rosas Sturz.“
„Das war ein Spaß!“ Klaus richtete sich direkt an Rosa. „Also das war doch nur ein Spaß von mir. Wir waren doch froh, dass dir nichts passiert war. Das kannst du uns glauben.“
Rosa blieb stumm, es trat eine Pause ein, in der auch keiner in der Gruppe etwas sagen wollte. Es war Rosas Mann Benno, der endlich die beklemmende Stille unterbrach.
„Okay!“, sagte er. „Wir haben verstanden und sollten es dabei belassen. Oder, Rosa?“
Was der durch den Kopf ging, blieb ihr Geheimnis, denn sie äußerte sich nicht. Stattdessen starrte sie nur zum gegenüberliegenden Wandgemälde. Dabei war ihr sicher nicht entgangen, dass jeder am Tisch auf ein Statement von ihr wartete. Sie vor allem hätte jetzt die Atmosphäre wesentlich entspannen können.
„Gut, da Rosa sich nicht äußert, möchte ich noch etwas sagen“, legte Lars los. „Dass ihr euch hier einfügen müsst, ist euch schon klar?“
„So, jetzt greife ich noch mal ein. Was du eben gesagt hast, das ist Klaus und Petra sicher klar, müssen wir hier nicht ansprechen“, unterbrach ihn Paul, der dessen Worte als unangebracht, ja, fast beleidigend für die Benders empfand. „Wir sollten jetzt mal unsere Gläser heben und mit unserem neuen Schlachtruf den Abend entspannt einläuten.“
Paul riss regelrecht sein Bierglas in die Höhe, wohl darauf hoffend, damit das ungemütliche Gespräch beenden zu können.
„Mit Plattfuß geht’s nimmer, ohne immer!“, rief er laut in die Runde, worin die Anwesenden aber nur zögerlich einstimmten, auch wenn sie alle den Schlachtruf wiederholten. Begeisterung hörte sich sicher anders an.
Als sich die Freunde etwas später in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, die Stimmung war doch eher verhalten geblieben, konnten die Benders auch nicht sofort einschlafen. Noch mal kreiste ihr Gespräch um das, was in der Gaststube passiert war. Klaus redete sich in Rage, war aufgebracht und weigerte sich sogar, ins Bett zu gehen, lief stattdessen im Zimmer auf und ab. Selbst Petra steigerte sich unter seinem Einfluss in den Gedanken, sie könnten in der Gruppe nicht wohl-gelitten sein.
„Glaubst du, dass wir in dieser Runde wirklich willkommen sind?“, fragte Petra.
„Das ist gar nicht die Frage. Ich habe Paul gefragt, ob wir mal mitfahren könnten. Und der hat dem ausdrücklich zugestimmt, angeblich sogar mit Einverständnis der ganzen Gruppe.“
„Wenn die anderen aber gar nicht richtig mitziehen? Die sind vielleicht von Paul überrumpelt worden. Immerhin kennen die sich schon seit vielen Jahren und treffen sich wahrscheinlich alle naselang.“
„Mag sein, dass die Gruppe auch schon zu groß ist! Aber wir sind nun mal dabei, und wegen dieser blöden Rosa, die sich offensichtlich nicht genügend wahrgenommen fühlt, lassen wir uns nicht wieder hinausdrängen. Ich habe nicht vor, wegen der die Tour abzubrechen!“
Im Gegensatz zu Klaus zeigte sie sich unsicher. „Ich denke, dass wir uns mit kritischen Bemerkungen zurückhalten sollten, vor allem, weil wir die noch viel zu wenig einschätzen können. Durch unsere Äußerungen scheinen die sich oft angegriffen zu fühlen.“
„Das verstehe ich nun wiederum nicht! Wenn ich mal einen Witz mache, dann …“
„Deine Art, Witze zu machen, ist halt nicht jedermanns Sache“, suchte sie ihm zu erklären. „Und du solltest dich auch mehr von Rosa fernhalten. Die vor allem versteht dein ständiges Bemühen um sie falsch.“
„Du scheinst das auch falsch zu verstehen. Ich bemühe mich doch nicht um die. Im Gegenteil!“, behauptete er verärgert über Petras Unterstellung.
„Klaus, lass uns einfach zurückhaltender auftreten. Und wir sollten mehr auf Paul hören“, suchte sie ihre Meinung nochmals zu verdeutlichen.
Als sie sich schließlich doch zum Schlafen ausstreckten, hielt sich bei ihr der Zweifel, ob ihr Mann ihr wirklich zugehört hatte. Und in ihm blieb das Unverständnis über die negative Reaktion einiger Gruppenmitglieder ihnen gegenüber haften. Es war das unbefriedigende Gefühl, das sie nicht sofort einschlafen ließ. Bei ihr hielt sich das sogar bis weit nach Mitternacht.
***
Rosa, Beatrix und Benno waren die Ersten beim Frühstück. Vor ihm lag sein Navigationsgerät, womit er den Frauen die Tagesstrecke erklärte.
„Kannst du das den beiden vor der Abfahrt genauso verklickern wie gerade uns beiden?“, fragte Beatrix. „Wichtig, falls die uns heute wieder abhängen sollten.“
„Lass mich mal machen!“, erklärte Benno und steckte jetzt sein Navigationsgerät weg, noch bevor die anderen Freunde beim Frühstück erschienen.
„Wir haben uns gerade unsere heutige Tour angesehen“, erklärte er gegenüber Paul, der sich neben ihn gesetzt hatte.
„Und gibt’s da etwas, was wir alle wissen müssen?“, fragte der interessiert.
„Nee, Paul, wir müssen nur aufpassen, dass wir die Abzweigung nicht übersehen. Das Hotelpersonal sagte mir, dass die leicht zu übersehen ist, und die ist wichtig“, antwortete Benno.
„Das sollten wir auch noch mal den Benders klarmachen, damit die, wenn die uns vorausfahren, das auch wissen. Übernimmst du das?“
Benno nickte nur, er würde mit Klaus genau über diese Strecke reden.
Beim Frühstück schien in der Gruppe der gestrige Missklang abgehakt zu sein. Alle begrüßten sich, ohne die Diskussion vom Vorabend nochmals zu erwähnen. Die üblichen Bemerkungen flogen zwischen ihnen hin und her, manche witzig, andere aber so abgegriffen, dass sie sogar nahe an Blödeleien vorbeischrammten. Und Lars fragte, ob auf der anstehenden Etappe für genügend Wein vorgesorgt wäre. Nur Rosa hielt sich wieder zurück, reagierte kaum einmal auf einen Witz und vermied den Augenkontakt zu ihrer Umgebung. Sie verschwand auch bald, um sich angeblich in ihrem Zimmer für die Fahrt vorzubereiten. Ihr Verhalten fiel aber niemandem auf.
Als dann die anderen ihrem Beispiel folgten, hielt Paul die Benders am Treppenaufgang zurück.
„Hört mal zu, ihr versteht das doch, warum ich euch gestern Abend direkt ansprechen musste?“, fragte er sie. „Es schien mir notwendig, den Missklang zwischen euch und uns auszuräumen.“
Klaus war nicht sicher, ob er das gerne hörte, entschied sich aber, erst mal nur zuzuhören.
„Die Truppe kennt sich sehr lange, was ihr ja bemerkt habt. Da stellt sich schon eine besondere Vertrautheit untereinander ein, die es Neuen schwermacht, ohne Weiteres Anschluss zu finden. Einige, ihr wisst, an wen ich denke, sind dann auch etwas empfindlicher. Was wir untereinander gar nicht mehr sagen müssen oder einfach so hinnehmen, klappt mit euch dann nicht auf Anhieb.“
„Wir haben verstanden, Paul!“, reagierte ein leicht genervter Klaus. Was er hörte, weckte in ihm eher seinen Widerwillen, empfand er die Mahnung doch als unangemessen. Er hatte sich die gemeinsame Radtour anders vorgestellt, irgendwie im Umgang erwachsener und lockerer. Besonders Rosas Verhalten schien ihm reichlich kindisch zu sein, die ihn fast schon dazu zwang, jedes seiner Worte genau abzuwägen, damit sie ihm keine Beleidigung oder gar Anmache unterstellen könnte. Die verhielt sich ihm gegenüber wie eine Mimose, die dazu neigte, übertrieben zu reagieren. Dabei war sie ihm bei ihrer ersten Begegnung charmant und selbstbewusst entgegengetreten, was ihm gefallen hatte. Vielleicht hatte er sich sogar wegen ihr besonders auf die gemeinsame Radtour gefreut. Wie es sich tatsächlich entwickelte, war für ihn und Petra enttäuschend.
„Was soll diese Ermahnung? Der sollte sich lieber mal die Rosa vornehmen, anstatt uns so einen Vortrag zu halten“, schimpfte Klaus, als er mit Petra allein im Zimmer war. Das mochte die genauso empfinden, die nun ihre Arme um seinen Körper schlang und ihn kurz an sich drückte.
„Wir müssen los!“, sagte er und löste sich von ihr. Es klang resigniert und überhaupt nicht zufrieden. Wenn Körpersprache etwas ausdrückte, dann sprach sein Achselzucken gegen die Erwartung an eine entspannte nächste Etappe.
Wieder war es ein herrlicher Sonnentag, warm und trocken. Nur ein paar Wolkenschleier hingen kaum erkennbar am westlichen Horizont. Jeder vermutete, dass es auch am späten Nachmittag so bleiben würde.
Ihre Räder mussten sie erst aus dem Schuppen des Hotels herausholen, was einige Zeit kostete. Es gab ein regelrechtes Gedränge davor und auf dem Hof, sie waren nicht die einzige Fahrradgruppe, die sich zur Abfahrt fertig machte. Die Benders brauchten besonders Geduld, weil sie am Vorabend als Erste ihre Räder im Schuppen abgestellt hatten. Jetzt standen die eingekeilt von vielen anderen Fahrrädern an der hintersten Schuppenwand. Sie hatten darauf verzichtet, die durch ein gemeinsames Kettenschloss zu sichern, das hatten sie einfach offen über dem Lenker hängen lassen. Jedenfalls war Petras Rad damit an einem Pfosten angekettet worden.
„Du, Petra, ich kann dein Rad nicht rausholen!“, rief Klaus noch im Schuppen seiner Frau zu, die schon bei den anderen draußen wartete. „Wieso hast du denn das Kettenschloss abgeschlossen?“
„Was soll ich getan haben? Ich habe das Kettenschloss gestern Abend überhaupt nicht angefasst!“, entgegnete Petra überrascht und lief ihrem Mann hinterher.
„Wie auch immer, dein Rad ist an der Rückwand angeschlossen. Hast du den Schlüssel?“
„Ich habe auch keinen Schlüssel, der sollte doch noch im Schloss stecken“, erklärte Petra kopfschüttelnd. „Das kann doch nicht wahr sein. Irgendjemand muss mein Rad angeschlossen und den Schlüssel abgezogen haben.“