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Beide, Klaus und Petra, kamen jetzt auf den Hof und schauten in die Runde.
„Petras Rad ist angeschlossen worden, und wir haben keinen Schlüssel“, erklärte ein ratloser Klaus. „Hat vielleicht jemand von euch den Schlüssel an sich genommen, in guter Absicht?“
„Warum sollten wir uns um eure Fahrräder kümmern?“, fragte Benno spöttisch. „Dafür müsst ihr schon selbst sorgen!“
Einige der Freunde zeigten sich amüsiert. Nur Paul bemerkte Klaus aufkeimenden Ärger und störte sich an der spöttischen Reaktion seiner Gefährten.
„Ihr seid also sicher, dass ihr das Rad nicht abgeschlossen und auch nicht den Schlüssel habt?“, erklärte er betont sachlich. „Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber vielleicht hat irgendein anderer Hotelgast oder jemand vom Personal das getan. Bleibt nichts anderes übrig, als an der Rezeption nachzufragen.“
Klaus hatte verstanden und lief ins Hotel zurück. Die Freunde beschäftigten sich jetzt bereits mit ihrer üblichen Diskussion der besten Fahrstrecke.
„Die wissen auch nichts, aber sie haben mir das hier gegeben“, erklärte ein grimmig blickender Klaus und hob einen wuchtigen Bolzenschneider in die Höhe.
Dann sprach ihn Benno an. „Klaus, das hast du nicht mitbekommen. Bei der Strecke gibt es eine kleine Schwierigkeit, wo wir aufpassen müssen. Entgegen dem Vorschlag des Veranstalters müssen wir hier an dieser Stelle nicht in einen Seitenweg abbiegen, wir folgen weiter der Landstraße.“ Er wies auf die Karte seines Navigationsgeräts. „Hier also nicht abbiegen.“
„Wieso denn das?“, fragte Klaus, der nur mit halbem Ohr zugehört und nicht auf das Navigationssystem geschaut hatte, weil er mit dem Durchschneiden des Kettenschlosses beschäftigt war.
„Das hat uns heute Morgen jemand vom Hotel erklärt. Angeblich ist die Straße nur wenig befahren, und die Abzweigung kostet mehr Zeit. Also nicht vergessen, nicht abbiegen.“
Ob Klaus Bennos Erklärung bewusst aufgenommen hatte, war unwahrscheinlich, zu sehr nagte in ihm der Vorfall mit dem Fahrradschloss. Und gegen seinen Ärger blieb auch Petras Zureden später auf der Strecke wirkungslos.
„Also ich weiß nicht!“, erklärte der maulend. „Gestern dieser platte Reifen und heute die Sache mit dem Schloss. Das ist alles sehr mysteriös.“
„Beruhige dich jetzt. Irgendwelche Unterstellungen helfen doch nicht weiter, die sind doch absurd!“
Paul setzte sich mit seinem Rad neben die beiden Benders. „Jetzt denkt bloß nicht an irgendeine Verschwörung. Bin sicher, dass jemand außerhalb der Gruppe da am Werk war. Wahrscheinlich in bester Absicht.“ Er klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und nickte Petra zu.
„Lass mal, schon alles gut“, presste Klaus zwischen seinen Zähnen hervor und zeigte ein verzerrtes Lächeln. Auch Petra strich jetzt mit einer Hand über seinen Unterarm, bis ihr Mann etwas freundlicher dreinschaute.
„Hört mal, wenn wir heute bei diesem herrlichen Radfahrwetter nicht die Fahrt entspannt genießen, wann denn dann?“ Paul war der Gedanken an eine Verschwörung oder gar an Mobbing völlig fremd.
Die Hälfte ihrer Etappe war geschafft, und sie hatten in einem Gartenlokal schon eine erste Pause eingelegt, da stießen sie am Ortsausgang auf die Landstraße. Befolgten sie den Rat des Hotelpersonals, müssten sie bald bei der Abzweigung auf einen Feldweg in ein Waldgebiet abbiegen.
Der Autoverkehr auf der Straße zwang sie zwar, gelegentlich hintereinander herzufahren, aber er war so gering, dass sie mühelos ihre Gespräche fortsetzen konnten. Es bildeten sich zwischen ihnen bald stetig größer werdende Lücken, weil die vorn Fahrenden auf das Tempo drückten. Das lag vor allem an Klaus, der, nicht überraschend, gefolgt von Petra an der Spitze fuhr. Bald betrug deren Abstand zu den anderen schon einige Hundert Meter. Ihm fiel das gar nicht auf, er war so in Gedanken vertieft, dass er selbst Petras Mahnung überhörte, langsamer zu fahren.
„Die können’s nicht lassen!“, rief verärgert Beatrix der vor ihr fahrenden Rosa zu. „Jetzt sind die schon wieder kaum noch zu sehen.“
„Die passen gar nicht in unsere Gruppe!“, wiederholte sich Rosa laut. „Wollen mal sehen, ob die das nicht bereuen!“
„Die sehen wir sicher erst im Hotel wieder“, feixte Benno.
Den beiden Frauen schien der Gedanke, dass die Benders so weit davongezogen waren, zu amüsieren. Nur Lars hatte wohl keine Ahnung. „Gibt’s etwas, wovon ich nichts weiß?“
Klaus und Petra waren inzwischen so weit voraus, dass sie selbst lautes Rufen ihrer Freunde nicht hören würden. Immer noch vertieft in Gedanken, erinnerte sich Klaus nicht mehr so genau an das, was Benno über die Strecke erklärt hatte. Den scharf nach rechts abzweigenden Weg übersah er natürlich. Den musste er ja entsprechend dessen Hinweis gar nicht beachten. Stattdessen vertraute er seinem Navigationssystem, das ihn anwies, weiter der Landstraße zu folgen.
„Wie lange müssen wir denn noch auf dieser Straße fahren?“, fragte Petra ihren Mann.
Jetzt bedauerte Klaus, sich nicht mehr exakt an das Gespräch mit Benno am Morgen erinnern zu können. „Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sagte Benno, dass wir der Straße erst mal folgen sollten. Angeblich hätte jemand im Hotel ihm das geraten. Aber nicht mehr lange, dann erreichen wir sicher eine Abzweigung, wo wir die Straße verlassen können. Das zeigt mir auch das Navigationssystem.“
Ihre Gefährten hatten keine Chance, Klaus noch zu beeinflussen. Sie sahen wegen einer langen Rechtskurve nicht einmal, dass der und Petra irrtümlich geradeaus radelten. Die Gruppe war so weit zurückgefallen, dass sie den Benders kaum etwa verständlich hätten hinterherbrüllen können. „Jetzt haben sie sich möglicherweise vertan“, sagte Benno leise zu Rosa, die ihm zunickte.
Als dann einige Mitfahrer die nächste Pause anmahnten, störte es die meisten wenig, dass die Benders fehlten.
„Das ist dumm!“, erklärte Paul, dem stets wichtig war, dass sie alle zusammenblieben. „Hat jemand Klaus informiert, dass wir nicht auf der Straße bleiben sollen, auch wenn das Navi etwas anderes vorschlagen sollte?“
Bevor Benno antworten konnte, polterte Rosa ihre Abneigung gegenüber Klaus heraus. „Die fahren immer voraus und machen dann auch noch blöde Sprüche. Die sollen fahren, wie sie wollen.“
„Paul, das ist völlig richtig! Wir sind auf jeden Fall nicht für die verantwortlich“, schloss sich Beatrix Rosas Meinung an.
„Jetzt mal langsam, Leute“, suchte Paul die Stimmung zu versachlichen. „Ich dachte, dass wir uns gestern einig waren. Wir sind als Team gestartet und fahren diese Tour auch bis zur letzten Etappe gemeinsam zu Ende.“
Niemand widersprach, sie teilten zwar die Kritik der beiden Freundinnen an Klaus, aber nicht deren scharfe Antipathie. Keiner hatte Interesse daran, dass diese Tour mit einem solchen Zerwürfnis, was sicher auch Paul hart treffen würde, endete.
Alle standen etwas ratlos im Kreis um ihn herum, und fast hätten sie den Zweck der Pause vergessen.
Paul beabsichtigte einen Moment lang, Klaus mit seinem Handy zu erreichen, steckte das aber gleich wieder kopfschüttelnd ein. Carmen erklärte er, dass er nicht einmal eine Handynummer von denen hätte.
„Die Benders sind also wohl eine andere Strecke als wir gefahren“, stellte Paul für alle nüchtern fest. „Aber die sind in der Lage, ihren Weg auch ohne uns zu finden. Spätestens im Hotel werden wir sie dann wiedertreffen. Und vielleicht ist es gerade ganz gut, wenn wir eine Weile ohne sie fahren können. Mit ist aber wichtig, dass wir diese Tour gemeinsam, das heißt auch mit Klaus und Petra, zu Ende fahren. So, wo ist der Wein?“
Jetzt breitete sich so etwas wie Erleichterung unter den Freunden aus. Gleich nach Pauls kurzer Rede öffnete Lars schon eine Weinflasche, und zusätzlich wurden Tüten mit Süßigkeiten herumgereicht. Fast erschien es ihnen, als unterschiede sich diese Tour überhaupt nicht von denen davor. Es wurde munter drauflosgequatscht, auch mal einige dumme Sprüche geklopft, worüber sie lachten oder den Kopf schüttelten. So verging diese Pause so vergnüglich, wie sie sich das alle von Anfang an gewünscht hatten.
Und diese Rast dauerte sogar länger als üblich. Keiner hatte damit Probleme, dass sie möglicherweise erst nach Einbruch der Dunkelheit ihr Hotel erreichen würden. Jetzt beschleunigten sie ihr Tempo so, dass selbst die Benders gestaunt hätten. Und sie entschlossen sich, auf eine weitere Unterbrechung zu verzichten.
***
„Sag mal, fahren wir nicht viel zu schnell? So holen die uns nie ein“, bemerkte endlich Petra, die sich nach einer Pause sehnte. „Lass uns doch mal warten.“
„Stimmt! Wir sind zu schnell gefahren. Wir halten hier erst mal an und warten einen Moment. Brauchst du Wein?“, fragte Klaus aus Spaß.
„Wasser brauche ich und ein paar Süßigkeiten“, erwiderte sie und hockte sich neben ihrem Rad auf die Böschung.
„Geht es dir gut?“, fragte er und schaute sie prüfend an. „Du bist so rot im Gesicht.“
„Alles in Ordnung. Aber bist du wieder runter von deinem Ärger?“, wollte Petra wissen.
„Irgendwie … Lass mal gut sein. Ich will nicht mehr darüber nachdenken. Hoffe, dass die anderen bald aufschließen können.“
„So richtig glücklich wirkst du nicht gerade auf mich. Dich wurmen diese häufigen Reibereien.“
„Zumindest die mit dieser Rosa“, erwiderte er und klang dabei nicht verärgert. „Ich habe mir etwas vorgemacht, nicht in Bezug auf Paul und Carmen. Die sind schon beide okay und verhalten sich meist souverän.“
„Ich mag die beiden Kleins auch. Gilt mit kleinen Einschränkungen für einige der anderen auch.“ Petra legte den Arm um ihren Mann. „Jetzt fahren wir diese Tour zu Ende, halten uns mit Kritik zurück und versuchen, uns in deren Runde besser einzufügen. Nur darum geht’s, Klaus.“
Er sah auf seine Uhr, weil er das Gefühl hatte, dass sie hier schon zu lange warteten, fast eine Stunde war vergangen. Er stand jetzt auf und schaute intensiv die Landstraße zurück.
„Das verstehe ich nicht! So weit können wir doch nicht vorausgefahren sein.“
„Sind wir denn überhaupt die richtige Strecke gefahren? Was sagt dein Navi?“, fragte Petra.
„Benno hatte mir vor der Abfahrt etwas von einer Abzweigung erzählt – oder war es eine Streckenänderung? Da habe ich vielleicht doch nur halb zugehört. Meines Erachtens sagte er, dass wir auf der Landstraße bleiben sollten, entgegen der Tourenempfehlung …“
„Was machen wir, wenn die doch anders gefahren sind?“, bohrte sie nach.
„Dann werden wir halt hier auf der Landstraße zunächst weiterfahren, die führt ja irgendwann zur Stadt, unserem Ziel. Allerdings: Schneller am Ziel wären wir dann höchstens mit einem Auto.“ Er lief zu seinem Rad und stieg auf. „Wenn Benno mich bewusst hat irreführen wollen, dann …“
„… werden wir auch die letzten beiden Etappen zu Ende fahren“, ergänzte sie seinen Satz. „Du bildest dir schon wieder etwas ein.“
Nach einer Weile hatte er eine Idee. „Weiß wirklich nicht, ob wir heute Abend auch noch mit denen zum Essen gehen sollten. Das Hotel soll sich nahe am Ortseingang befinden. Was hältst du davon, wenn wir einfach erst mal ins Zentrum fahren und dort bummeln gehen?“
„Das können wir machen, obwohl die Gruppe ein solcher Alleingang stören könnte. Ich weiß nicht. Zumindest müssen wir im Hotel eine Nachricht hinterlassen. Vielleicht könnten wir die sogar mal anrufen.“
***
„Da vorn müsste gleich das Ortsschild auftauchen. Ich sehe ja schon die ersten Häuser!“, rief Paul, der etwas vorausfuhr und jetzt ein Handzeichen gab.
„Wir haben’s gleich geschafft, da vorn beginnt die Stadt“, rief einer, der zu ihm aufgeschlossen hatte.
Keine Viertelstunde später standen sie vor dem Hoteleingangsportal, und Paul lief sofort in die Lobby. „So, jetzt frage ich gleich mal, ob Klaus und Petra schon eingetroffen sind!“ Er nahm gar nicht mehr wahr, wie Rosa und Beatrix ihre Augen verdrehten und sich dann angrinsten.
Es dauert, bis Paul zur Gruppe zurückkehrte und ein besorgtes Gesicht zeigte. Da hatten die anderen schon ihre Räder in der Tiefgarage des Hotels eingestellt.
„Die Benders sind angeblich noch nicht eingetroffen! Eine Nachricht hat der Mann am Empfang auch nicht erhalten“, erklärte er. „Das ist mir völlig unverständlich, die sind ja vorausgefahren, und wenn sie auf der Landstraße geblieben wären, heißt das nicht, dass sie dann unbedingt langsamer sein müssten, auch wenn es über die Straße länger ist.“
„Abgesehen davon, dass die ja kaum so lange Pausen gemacht haben dürften, haben die ja weniger Wein bei sich“, spottete Lars unpassend.
„Können wir die nicht per Handy erreichen?“, fragte Benno, der an das Naheliegende dachte.
„Na klar! Wenn jemand von euch eine Handynummer von denen hat“, nickte Paul und hielt erwartungsvoll sein Telefon hoch. Doch es meldete sich niemand. „Mist, ich habe nämlich auch nicht deren Handynummern, nur deren Nummer vom Festnetz und Klaus’ Firmennummer.“
Keiner von ihnen wusste mehr. „Wieso haben wir eigentlich nicht die Handynummern mit denen ausgetauscht? Das haben wir doch sonst immer gemacht“, meldete sich Benno nochmals. Es klang wie ein Vorwurf an Paul, der sich diesen Schuh auch anzog.
„Hinterher ist leicht jammern!“, wehrte er schwach ab. „Ich denke, dass wir erst mal unsere Zimmer einnehmen sollten. Wir warten noch bis zum Abendessen, also so bis etwa achtzehn Uhr. Wenn sie dann nicht erschienen sind, werde ich bei der Polizei nachfragen. Eventuell müssten wir uns sogar auf die Suche nach denen machen.“ „Wie, auf unseren Rädern?“, fragte Lars ungläubig.
„Unter Umständen ja! Oder hast du eine bessere Idee?“, schoss Paul genervt zurück. „Wir können ja nicht einfach zu Abend essen und die ihrem Schicksal überlassen, oder?“ Seine Reaktion ließ keine Zweifel, dass ihm die Gleichgültigkeit einiger seiner Mitfahrer nicht gefiel.
***
Es war schon nach achtzehn Uhr, und alle hatten sich in der Gaststube eingefunden, wo für die Gruppe ein großer Tisch eingedeckt worden war. Keiner der Freunde hatte Platz genommen, erst wollten sie hören, was Paul inzwischen in Erfahrung gebracht hatte.
Der erschien ungewohnt nervös. Carmen hatte er in ihrem Zimmer gesagt, dass er erstaunt sei, wie teilweise unpassend sich einige ihrer Freunde zeigten. Zwar gefiele ihm Klaus’ Verhalten ebenfalls nicht immer, aber das sei für ihn kein Grund, die beiden Benders abzulehnen.
Jetzt fiel ihm offensichtlich nichts ein, was er seinen Gefährten vorschlagen könnte. Inzwischen war klar, dass die Benders sich entweder verfahren hatten oder wegen einer Panne auf der Strecke liegen geblieben sein mussten. Ihre Koffer standen immer noch in der Lobby. Der Tourenveranstalter sorgte stets dafür, dass ihr Gepäck von Hotel zu Hotel transportiert wurde.
„Gemeldet haben sie sich weder bei mir noch hier an der Rezeption. Das Büro vom Veranstalter der Radtour habe ich versucht zu erreichen, war aber schon geschlossen, geht erst morgen früh wieder.“ Paul drehte sich fragend im Kreis, um zu sehen, ob jemand anderes etwas erfahren hatte.
„Wenn die Benders zunächst die Straße weitergefahren wären, könnten die auch noch später abgebogen sein, um dann irgendwann auf unsere Strecke zu stoßen. Auch so sollten die sich kaum verfahren haben. Klaus hat ja ein Navi dabeigehabt“, bemerkte Benno, dem die Warterei nicht gefiel.
„Dass die uns immer so abhängen, ist das wirkliche Problem“, beschwerte sich dessen Frau, die kaum Verständnis für die Benders aufbrachte.
„Entweder die warten auf uns, oder, wie jetzt wieder, wir warten auf die“, drückte Rosa aus, worüber die anderen in der Gruppe möglicherweise ähnlich dachten.
„Was können oder was sollten wir jetzt tun?“, lenkte Paul die Runde auf die seiner Meinung nach nächstliegende Frage.
„Du solltest die Polizei anrufen“, schlug Lars vor, den es auch zum Abendessen zog.
„Das kann ich machen. Aber was, wenn die nichts wissen?“, bohrte Paul nach.
Die allseitige Meinung war, dass er erst mal bei der Polizei anrufen sollte, und dann könnte man weiter- sehen.
Sein Telefonat mit dem Revier dauerte lange, da hatten sich seine Freunde schon an den Tisch gesetzt.
„Die Polizei hier weiß nichts, und weder deren Kollegen im Nachbarort noch das hiesige Krankenhaus wissen etwas über die Benders“, erklärte Paul nach seinem Telefongespräch. „Was machen wir jetzt?“
Wenn es ein Stimmungsbarometer gab, so waren es die Mienen der Freunde, die erkennen ließen, was die meisten empfanden. Jedem schien klar, dass sie nicht einfach ihr Abendessen fortsetzen könnten, wenn da zwei aus ihrer Gruppe vermisst wurden. Selbst Rosa und Beatrix schienen das einzusehen.
Insgeheim hofften sie vielleicht, dass sie die Vermissten nicht mit dem Rad in der Dunkelheit suchen müssten. Aber Paul schlug genau das jetzt vor.
„Also wer will mich begleiten? Allein möchte ich nicht die Strecke zurückfahren“, erklärte er.
„Du meinst aber nicht die ganze Strecke?“, meldete sich Beatrix, was Paul nur mit Kopfschütteln quittierte.
„Die Landstraße könnte man doch besser mit einem Taxi abfahren als mit unseren Rädern“, gab Benno zu bedenken. „Mit dem Fahrrad dauert es sehr viel länger, und wir wissen nicht einmal, welche Strecke die gefahren sind. Aber wenn du willst, werde ich dich natürlich auf dem Rad begleiten.“
„Die Straße mit einem Taxi abzufahren ist eine gute Idee, Benno! Könnten die Frauen übernehmen. Ansonsten würde ich unsere Strecke auf dem Schotterweg Richtung unserer letzten Rast zurückfahren wollen. Wer begleitet mich denn noch auf dem Rad?“
Obwohl die, die sich jetzt meldeten, noch ihr Abendessen beenden wollten, ging es dann doch recht schnell. Keine fünfzehn Minuten nach ihrer Beratung fuhren erst Paul, Lars und Benno mit dem Rad los, wenig später auch das Taxi. Carmen und Beatrix hatten sich angeboten, diese Fahrt zu übernehmen. Zuvor hatten sie gemeinsam überlegt, welchen Weg Klaus und Petra genommen haben könnten. Unglücklicherweise boten sich unterschiedliche Routen an, das Hotel zu erreichen.
„Die Benders haben wahrscheinlich vor unserer letzten Rast die richtige Abzweigung nach rechts auf den Schotterweg verpasst. Vermutlich sind die erst mal der Landstraße weiter gefolgt“, vermutete Benno. „Der hat mir wahrscheinlich gar nicht zugehört, denn ich hatte ihn ausdrücklich darauf hingewiesen, rechtzeitig von der Landstraße abzubiegen. Auf dem Navi habe ich ihm noch die Stelle gezeigt …“
„Kann schon sein. Aber auch dann könnten die irgendwann noch von der Landstraße abgebogen sein und haben später versucht, uns zu treffen“, stimmte Paul ihm zu. „Lass uns jetzt so zurückradeln, wie wir gekommen sind. Ich habe die Hoffnung, dass wir dann auf die beiden stoßen.“
„Hoffentlich müssen wir dann nicht bis zu unserem Rastplatz zurückradeln“, brummte Lars schon unterwegs. „Ganz so frisch bin ich nämlich auch nicht mehr, und bis dahin werden es doch zirka fünfzehn Kilometer sein, oder?“
„Vielleicht haben wir ja Glück, und die kommen uns bald entgegengeradelt“, gab Paul zurück.
Etwas Hoffnung hatten sie, dass die Frauen im Taxi schon bald auf die Vermissten treffen könnten. Mehrmals überlegte er, was passiert sein könnte. Er hielt Klaus und Petra für erfahren genug, eine Fahrradpanne schnell und ohne fremde Hilfe zu meistern. Das würde die kaum länger aufgehalten haben. Dahingegen schloss Paul den Gedanken nicht mehr aus, dass einer der Benders schwer gestürzt sein könnte. Das würde ihm deren Verspätung erklären.
Auch wenn sie sich bemühten, zwangen sie die Dunkelheit und die unzureichende Fahrradbeleuchtung, langsamer zu fahren. Der Weg forderte ihre volle Aufmerksamkeit. Es gab immer wieder mit Wasser gefüllte Mulden, größeres Gestein oder Wurzeln, die im Boden steckten. So brauchten sie viel länger als auf der Hinfahrt zum Hotel. Glücklicherweise lugte dann doch der Mond hinter den Wolken hervor.
Es war sicher Müdigkeit und etwas Ärger bei Benno und Lars, dass sich Zweifel am Sinn der Suche bei ihnen verstärkten. Ihre häufiger werdenden Fragen, ob sie nicht besser umkehren sollten, zeigten das Paul deutlich.
Als sie an einer steil abfallenden und tiefen Böschung neben dem Fluss entlangfuhren, reichte es Benno.
„Ich weiß nicht, ob unser Vorgehen Sinn macht. Wenn die hier diese Böschung entlanggefahren sind, könnte es gut sein, dass sie in den Fluss abgerutscht sind. Was dann? Das können wir so gar nicht checken!“
„Ja und? Hast du eine bessere Idee?“, knurrte Paul missmutig, dem Bennos Szenario doch zu weit hergeholt erschien. Vor allem wollte er jetzt keine Diskussion, die, wie er meinte, nicht weiterführte. „Was ist? Habt ihr einen anderen Vorschlag?“
Sie fuhren einfach weiter, weil keinem eine Alternative eingefallen war. Ein paar Meter später hielt Paul unvermittelt an. „Ich telefoniere jetzt mit der Hotelrezeption und dann noch mit meiner Frau.“
„Scheiße!“, rief er gleich darauf und stieß ein irres Lachen aus. „Das kann ja nicht wahr sein!“
Erst als die anderen in ihn drangen, äußerte er sich endlich. „Das glaubt ihr jetzt nicht! Die sind längst da. Allerdings haben die zunächst die Stadt angesteuert, um sich die anzusehen und dort in einem Restaurant essen zu gehen. Angeblich hätten sie beim Empfang Bescheid gesagt.“
Pauls Begleiter stöhnten laut auf. Das Verhalten der Benders empfanden sie nicht nur als unverständlich, sondern auch als einen Affront. Sie hielten sich aber erstaunlicherweise mit herber Kritik zurück. Fast wirkten sie ratlos.
„Ob Klaus irgendeinen Gedanken darauf verschwendet hat, wie so ein Verhalten bei uns ankommt?“, fragte Benno nur kopfschüttelnd.
„Was weiß ich denn? Scheiße, jetzt müssen wir den ganzen Weg zurückfahren!“, entfuhr es Paul wütend.
Benno und Lars schwiegen. Die Verärgerung ihres Freundes verstanden sie zu gut, das ging ihnen ähnlich. Im Gegenteil. Sie hätten den Benders jetzt gern ihre Meinung gesagt, selbst wenn sie nicht unbedingt erwarteten, dass sich deren Verhalten daraufhin ändern könnte.
Die Rückfahrt verlief erstaunlich schnell, da sie jetzt mit der Strecke besser zurechtkamen. Und etwas besserte sich ihre Stimmung, sie machten sogar Witze über die sinnlose Suche.
Im Hotel angekommen, herrschte unter den wartenden Freunden eine erstaunlich gelöste Atmosphäre. Wenn sie erwartet hatten, dass ihre Gruppe missgelaunt oder streitend den beiden Benders gegenübersaßen, dann hatten sie sich geirrt. Klaus und Petra hatten sich bei denen entschuldigt und knapp erklärt, wie es zu dieser Info-Panne hatte kommen können. Jetzt wiederholte Klaus das nochmals für Paul und die beiden anderen. Was die Freunde wirklich dachten, blieb ihr Geheimnis, sie ließen sich zumindest ihren Ärger nicht anmerken. Nur wer die Lindners und Schlichters beobachtete, bemerkte, wie die mehrfach miteinander tuschelten. Die drückten wohl deshalb nicht ihre Verärgerung aus, weil sie sich davon nichts versprachen.
Es irritierte Paul, dass weder Klaus noch Petra etwas über ihre ermüdende Nachttour sagten, sie sich lediglich allgemein für alle ihre Bemühungen bedankten. Dank zu erhalten, darum ging es Paul gar nicht. Diese scheinbare Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung, die sich breitzumachen suchte, störte ihn derart, dass er unbedingt eine für ihn wesentliche Kritik hinterherschieben wollte.
„Was mich erstaunt und sogar wütend macht, ist eure scheinbare Schwierigkeit, euch in unsere Gruppe einzufügen. Es reicht nicht, dass ihr gern mitfahrt, sondern ihr solltet das auch durch euer Verhalten zeigen.“
Klaus und Petra schauten sich an. Es sah so aus, als hätten sie diese Worte getroffen, allerdings anders, als von Paul beabsichtigt. Jedenfalls antworteten sie ihm nicht, und der wartete auch nur kurz, bis er sich von ihnen abwandte.
Schließlich verabschiedeten sich die einzelnen Paare fast wie auf ein Kommando hin auf ihre Zimmer. Nur ein sichtbar müder Paul verharrte noch am Tisch und hielt Klaus und Petra zurück.
„Ich möchte kurz mit euch reden“, sagte er lapidar. Allein mit denen, erklärte er in recht deutlichen Worten, was ihn an ihrem Verhalten störte.
„Das Ganze wäre nicht passiert, wenn ihr uns nicht wieder davongefahren wäret. Und zumindest hättet ihr nochmals bei der Rezeption oder bei uns zurückrufen sollen, um sicherzugehen, dass eure Nachricht auch angekommen ist. Warum seid ihr nicht der geplanten Strecke gefolgt? Benno hatte sie dir erklärt.“