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„Wir haben keine andere Wahl. Besser, du findest dich damit ab, Beatrix. Die Brücke geht nicht, und nach einem Steg zu suchen, halte ich für aussichtslos. Eine andere Brücke oder einen Steg zu finden, wird uns sicher mehr Zeit kosten, als zurückzufahren.“ Was Paul sagte, sahen schließlich alle ein.
Plötzlich hörten sie ein Fahrzeug sich nähern und sahen schon von Weitem das eingeschaltete Blaulicht. Der Polizeiwagen ließ kurz sein Martinshorn aufheulen, bevor er direkt vor der Absperrung zum Stehen kam.
Einer der Beamten rief ihnen durch die geöffnete Seitenscheibe zu, warum sie dieser doch gesperrten Straße gefolgt seien.
„Wir wollten den Feldweg nehmen, aber da stand uns eine Absperrung im Weg!“, rief Benno verständnislos zurück.
„Absperrung? Der ist doch nicht gesperrt!“, erwiderte der Beamte verwundert. „Sie müssen sich irren!“
Jetzt wollten sie es genauer wissen und verlangten von dem Polizisten eine Erklärung, denn keiner von ihnen meinte, sich geirrt zu haben.
„Glauben Sie mir“, entgegnete der. „Den Feldweg können zurzeit sogar Autos nutzen, bis dieser Brückenschaden behoben sein wird. Wohin wollen Sie denn eigentlich?“
Als die beiden Polizisten von ihrem Zielort hörten, schauten die sich kopfschüttelnd an.
„Da müssten Sie aber auf dieser Straße einen riesigen Umweg fahren, sicher mehr als zehn Kilometer zusätzlich!“, erklärte ihnen der Polizist.
Jetzt schwand in der Gruppe jeder Anflug von Heiterkeit, und keiner fand sofort Worte, um seinem Ärger Luft zu machen.
„Sie meinen wirklich zehn Kilometer mehr?“, fragte Lars ungläubig, der daran dachte, dass man ihm besser gefolgt wäre. „Wie kann das sein, dass die Absperrung genau vor diesem Weg aufgebaut ist?“
„Tja, vermute, dass das irgendein Witzbold gemacht hat, aber sicher keiner von hier. Wir gehen der Sache nach.“
Paul hatte sich bereits damit abgefunden, dass sie die ganze Strecke zurückfahren müssten. Nur um auch seine zweifelnden Freunde davon zu überzeugen, erkundigte er sich bei den Polizisten nach einer anderen Route.
„Es gibt überhaupt nur eine sinnvolle Alternative, und dafür müssen Sie leider umkehren, bis zu diesem Feldweg. Hier jedenfalls kommen Sie nicht weiter.“
„Und wenn wir diesem Graben über das Feld ein Stück folgen?“, fragte Benno nach.
„Wie lange wollen Sie denn da suchen? Leider nein, Sie müssten schon sehr lange ihre Fahrräder über das Feld schieben, bis es einen Steg auf die andere Seite gibt. Vergessen Sie es, das ist keine Alternative.“
Als sie jetzt zurückfuhren, redeten sie wenig miteinander. Unmut und Wut beschäftigte fast alle. Einige zerrissen in Gedanken diesen vermutlichen Witzbold, der sie in die Irre geleitet hatte, und grübelten darüber, wem solch eine blöde Idee eingefallen war. Andere, wie Benno, schienen dabei schon einen konkreten Verdacht zu haben. „Denkst du das Gleiche wie ich?“, fragte er Rosa.
„Sehr wahrscheinlich. Und wir kennen das Arschloch!“ Beatrix, die voran fuhr, hörte das und drehte sich kurz um. „An wen denkt ihr?“, fragte sie.
„Wenn du uns fragst, ist nur einer für diesen miesen Witz verantwortlich“, antwortete Benno.
„Wenn der das war …“, erwiderte Lars, dem ebenfalls dieser Verdacht gekommen war. Komisch erschien ihm, dass Klaus im letzten Ort nicht auf sie gewartet hatte.
„Wenn er es war, dann muss er schon eine ziemliche Wut auf uns haben“, bemerkte er.
„Was heißt Wut?“, zischte Rosa, deutlich unwillig über Lars Worte. „Das ist ein aufgeblasenes und eingebildetes Arschloch!“
„Genau das hat er wohl bei all der Ablehnung ihm und Petra gegenüber empfunden. Was Wunder, wenn er es dann auch zeigt“, gab Lars ungerührt zurück.
Weder den Lindners noch den Schlichters war bewusst, dass ihr lautes Zurufen jemand anderes mithörte, den dieses Reden erschreckte.
***
Keiner hatte auf Petra geachtet. Sie war zunehmend besorgt, aber auch verunsichert den anderen gefolgt, hatte stets nur geschwiegen, wohl darum bemüht, nicht aufzufallen.
Seit sie am Fahrradgeschäft erfahren hatte, dass Klaus dort nicht eingetreten war, fühlte sie sich in der Gruppe noch unwohler als vorher ohnehin schon. Und natürlich hatte sie sich gefragt, wieso ihr Mann einfach weitergefahren war, ohne auf sie zu warten. Und später an der Einsturzstelle der Überquerung konnte sie sich nicht erklären, wie es ihr Mann weitergeschafft haben konnte.
Mit ihrem Handy hatte sie nur dessen Mailbox besprechen können.
„Klaus, wo bist du jetzt? Irgendetwas stimmt mit der Strecke nicht. Unsere Freunde haben den Verdacht, dass jemand die Absperrung manipuliert hat. Warst du das? Melde dich bitte!“
Leider hatte sich Klaus nicht zurückgemeldet, was Petra kaum verstand. Normalerweise kontrollierte er sein Handy häufig. Warum nicht jetzt?, fragte sie sich.
Die Diskussionen über die weitere Fahrstrecke hatte sie wortlos verfolgt. Als dann sogar bei einigen ihrer Begleiter der Verdacht aufkam, dass Klaus die Strecke an der Abzweigung zum Feldweg manipuliert haben könnte, bekam sie das voll mit und versuchte sich fast unsichtbar zu machen. Sollte sie erklären, dass sie ebenfalls ihren Mann verdächtigte?
Sie ließ sich immer mehr zurückfallen, was aber keinem auffiel. Der Abstand zu den anderen wuchs so stetig, und jetzt in der Dunkelheit und dem anhaltenden Regen wäre es sogar schwer für ihre Mitradler gewesen, das zu bemerken.
Warum fiel sie überhaupt immer weiter zurück, setzte sogar gelegentlich das Treten in die Pedalen aus? Bereits vor Erreichen der Straßensperre hatte sie sich körperlich unwohl gefühlt, versuchte, sich das zunächst mit Müdigkeit und mit der negativen Stimmung gegen Klaus und sie zu erklären. Merkwürdig empfand sie jetzt auf der Rückfahrt die kurzen Aussetzer beim Sehen, die sie kaum den unzureichenden Sichtbedingungen zuschreiben konnte. Ohne diese fühlbare Ablehnung in der Gruppe hätte sie sich wohl den anderen anvertraut, so aber wagte sie das gar nicht erst.
Als dann endlich alle die Abzweigung zum Feldweg erreichten und ohne Halt dort einbogen, sah sie sich weit hinten und auf der Straße völlig allein. Der Abstand zu den Freunden war derart angewachsen, dass sie schon sehr laut hätte schreien müssen, um von den anderen gehört zu werden. Aber dazu schien sie gar nicht in der Lage zu sein.
Dass sie stattdessen immer weniger, fast stockend in die Pedalen trat, hatte seinen Grund nicht unbedingt in ihrer körperlichen Schwäche. Plötzlich wurde ihr regelrecht übel, sie empfand ein Kribbeln, erst im rechten Arm und dann in der Hand. Sie ließ einseitig kurz den Lenker los, um diesen Arm frei in der Luft hin und her zu schütteln, was das Taubheitsgefühl kaum änderte. Sie geriet dabei aber in einen Schlingerkurs und dadurch fatal dicht an das regennasse Gras am Rand. Den Straßenrand erkannte sie wegen der unzureichenden Beleuchtung an ihrem Rad ohnehin nur undeutlich, sah den daneben verlaufenden und Wasser führenden Graben ebenso wenig. Als hätte sie das Bewusstsein verloren, glitt sie seitlich vom Rad, rutschte die kurze Böschung hinunter, gefolgt von ihrem ebenfalls abgleitenden Fahrrad. Sie vermochte vielleicht nicht einmal das kalte Wasser unten im Graben zu spüren. Keinen Laut oder Hilferuf stieß sie aus, nichts dergleichen. Das hätte niemand aus ihrer Gruppe gehört, denn zu weit waren die ihr inzwischen davongefahren. Ihre linke Hand hatte einen Moment nur wirkungslos nach den Grasbüscheln der Böschung zu greifen versucht, ohne jedoch den Fall abbremsen zu können. Jetzt hinderte sie auch ihr Rad, sich frei bewegen zu können, und es fehlte ihr möglicherweise die Kraft dazu, sich von dem energisch zu befreien. Ob sie überhaupt den Sturz und ihre missliche Lage bewusst erlebt hatte, war nicht sicher, als sie mehrfach versuchte, zumindest ihren Oberkörper aus dem Wassergraben zu stemmen.
***
Der Regen hatte sich in ein feines Nieseln verwandelt, was trotzdem lästig war. Durchnässt waren sie inzwischen alle. Die Müdigkeit in den Beinen würden selbst die Fitteren unter ihnen nicht mehr leugnen wollen. Die Lichter des nahenden Zielorts hatten die Stimmung der Radler wahrnehmbar aufgehellt, was die wieder munter werdenden Gespräche zeigten. Es wurden selbst Witze gerissen und laut gelacht. Dabei fühlten sich einige von ihnen tatsächlich sichtlich erschöpft, diese Etappe hatte die übliche Länge und Dauer überschritten. Einer von den Freunden verkündete, dass es gegenüber der geplanten Strecke fast zwanzig Kilometer mehr gewesen seien. Und statt wie sonst normal, am späten Nachmittag, am Zielort einzutreffen, erreichten sie heute ihr Hotel erst in der Dunkelheit.
Und wie sahen sie jetzt aus? Durchnässt durch den Regen waren sie alle, und das Durchfahren der vielen Pfützen auf dem Feldweg, die sie nicht hatten richtig erkennen können, hatte ihren Kleidern und Schuhen zugesetzt.
Niemand in der Gruppe vermisste kurz vor dem Ziel Petra. Als sei sie nie mitgefahren, schien sie schlicht vergessen zu sein.
Bei der Einfahrt in das hell ausgeleuchtete Hotelgelände sahen sie Klaus vor dem Eingangsportal in einer Pose stehen, die ihn für die Freunde provozierend und unpassend erscheinen ließ. Genauso hatten ihn einige in der Gruppe schon vorher oft empfunden.
Er hatte sich bereits umgezogen, war sogar geduscht, hatte seine Hände in den Taschen vergraben und grinste über das Gesicht, fast wie in einer Siegerpose. Es schien ihm große Genugtuung zu bereiten, sie so spät und ermattet zu sehen.
„Na, dann habt ihr es endlich auch geschafft!“, rief er, bevor sie alle im Hof vom Rad gestiegen waren. Und das war genau das, was keiner der Angekommenen hören wollte. Wie in einer feindlichen Linie umkreisten sie ihn, ihre Räder neben sich haltend.
Es war Paul, der vor allen anderen die eine, aber wichtige Frage stellte: „Warst du das, Klaus, der uns in die Irre geleitet hat?“
Der musste die Frage gar nicht beantworten, aber gespürt haben, dass er bei allen in der Gruppe in diesem Augenblick verschissen hatte.
„Klaus, du bist raus“, setzte Paul nach. „Morgen früh wollen wir dich und Petra nicht mehr dabeihaben!“
„Was soll das jetzt?“, erwiderte der immer noch grinsend und schüttelte dann mehrfach ungläubig seinen Kopf. Er schien überhaupt nicht zu begreifen, was in den anderen vor sich ging. „Wegen dieser Lappalie, ein kleiner Denkzettel, den ihr euch alle durch euer Verhalten mir und Petra gegenüber reichlich verdient habt, wollt ihr uns aus eurer Runde werfen?“
Als ihm keiner antwortete, wurde er regelrecht wütend. „Ihr seid solche Arschlöcher, wisst ihr das? Meint ihr, ich habe nicht eure Ablehnung gespürt, meint ihr das wirklich? Das nennt man Mobbing, hört ihr, Mobbing!“
„Du und Petra, ihr seid nicht mehr dabei!“, wiederholte Paul und steuerte entschlossen mit seinem Rad an ihm vorbei zum Fahrradschuppen. Die anderen wollten ihm folgen, als Klaus auffiel, dass seine Frau fehlte.
„Wo ist überhaupt Petra?“, rief er mit lauter Stimme den Freunden hinterher, die im Begriff waren, ihn im Hof allein stehen zu lassen.
„Petra!“, rief er mehrfach, und das klang nicht mehr empört oder wütend, sondern fast wie in Panik. „Wo ist denn Petra?“ Er rannte zur Straße und schaute vergeblich in die Richtung, aus der sie alle gekommen waren.
Paul, aber auch die anderen ließen jetzt ihre Räder stehen und liefen ebenfalls zu Klaus hin. Keiner hatte eine Antwort, wo sie Petra verloren hatten.
„Wir haben sie gar nicht mehr gesehen“, meldete sich Lars, dem die Situation peinlich war. „Aber auf der Rückfahrt, ist sie da noch dabei gewesen?“ Alle schwiegen, selbst das war ihnen nicht mehr sicher.
„An der Brücke habe ich sie stehen sehen, da schien sie völlig in Ordnung zu sein“, erinnerte sich Carmen, die bereute, sie nicht angesprochen zu haben. „Es kann nur sein, dass sie unterwegs liegen geblieben ist und wir das nicht mitbekommen haben.“
„Das wäre allerdings wenig schmeichelhaft für uns“, stellte Paul nicht minder unangenehm berührt fest. „Wer hat sie als Letzter gesehen?“ Die Auseinandersetzung oder seine Enttäuschung über Klaus’ Verhalten schien erst mal völlig vergessen. „Leute, das kann doch nicht wahr sein! Keiner von uns weiß, wo Petra abgeblieben ist.“
Wie verwandelt zeigte sich jetzt die Stimmung. Die Wut und Abneigung gegen die Benders wurde vom Unverständnis über ihr mögliches Versäumnis und von ihrem schlechten Gewissen überdeckt. Auf einmal schienen die beiden wieder Teil der Gruppe geworden zu sein.
„Klaus, das tut uns jetzt ehrlich leid“, sagte Paul entschuldigend. „Soweit wollten wir es nicht kommen lassen.“
Klaus hatte sein Handy hervorgeholt, während ihn die Gruppe dabei beobachtete, wie er abwechselnd das ans Ohr hielt oder auf das Display starrte.
„Entweder gibt es kein Netz, oder ihre Handybatterie ist leer, ich erreiche nicht mal ihre Mailbox!“, erklärte er und schob sein Handy zurück.
Dann schlug Paul vor, noch etwas zu warten, da Petra vielleicht nur auf der Fahrt weit zurückgefallen war.
„Wir können sie im Ort suchen, vielleicht hat sie sich am Ortseingang verfahren“, schlug Benno vor, der sich über die Gruppenneulinge meist negativ geäußert hatte. Jetzt wollte er sich sogar auf die Suche nach Petra begeben.
„Gut, das sollten wir machen!“, zeigte sich Klaus unverändert beunruhigt und nervös, aber das bloße Warten ertrug er erkennbar weniger. „Ich fahre gleich mit, wartet, bis ich mein Rad geholt habe.“
Auch Lars schloss sich Benno und Klaus an, während die anderen in die Empfangshalle zurückkehrten, aber nicht wagten, in ihre Zimmer zu verschwinden. Alle blieben erst mal dort stehen oder setzten sich auf die Sessel davor.
„Das ist wirklich Scheiße von uns“, erklärte Paul kopfschüttelnd. „Ganz gleich, was Klaus da für einen Blödsinn gemacht hat, das darf nicht passieren, dass wir einen in der Gruppe einfach vergessen.“
„Einen in der Gruppe“, wiederholte Rosa leise, wie zu sich selbst. Ihr war eingefallen, dass ihre Antipathie stets nur auf Klaus und nicht auf Petra gerichtet war. Dass sie die, wie es aussah, im Stich gelassen hatten, hatte sie nicht gewollt.
Sie mussten nicht lange warten, so groß war der Ort nicht, keine halbe Stunde später kehrten Benno und Lars in die Empfangshalle zurück, Klaus war vor dem Hoteleingang stehen geblieben.
„Nichts“, sagte Benno resigniert und ließ sich scheinbar ermattet neben den Sesseln auf den Boden fallen. Sie mussten in großer Hast in der Innenstadt herumgefahren sein, denn beide, er und Lars, schwitzten.
„Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Einfach hier abwarten ist keine Option. Ich kann nur wie gestern die Polizei anrufen“, erklärte schließlich Paul, den es drängte, ihre Suche auszudehnen. Und das schlug er den Freunden nach einer kurzen Denkpause vor.
„Unmöglich, dass wir den ganzen Weg zurück bis zur Absperrung nochmals per Rad absuchen“, sagte Paul. „Das dauert erstens viel zu lange, und zweitens können wir ihr kaum wirksam helfen, sollte etwas Ernstes passiert sein.“ Was er sagte, war überzeugend, sie mussten rasch handeln, und das ginge nicht mit den Fahrrädern, waren auch die anderen in der Gruppe überzeugt.
Er suchte Klaus vor dem Hoteleingang, der draußen angespannt vor der gläsernen Drehtür hin und her lief. Ob er dort nur verharrte, in der Hoffnung, Petra als Erster zu empfangen oder den Kontakt zu den anderen seiner Gruppe im Moment nicht ertragen konnte, war unklar. Die hätten ihm vielleicht nicht abgenommen, dass er sich ausgerechnet jetzt seinen unsinnigen Scherz vorwarf, weil er damit, wie es aussah, vor allem seiner Frau geschadet hatte. Wächsern und bleich erschien sein Gesicht im Licht der Außenstrahler, die ihn voll erfassten.
Paul, der ihn durch die Tür musterte, meinte bei ihm ein Zucken des ganzen Körpers wahrzunehmen, so, als fröstelte er. Er verließ jetzt ebenfalls die Empfangshalle.
„Klaus, vergiss, was ich vorhin gesagt habe. Wir sollten alle gemeinsam beratschlagen, was wir tun können, um Petra zu finden.“
Er hatte seine Hand auf dessen Schulter gelegt und zog ihn sogar etwas zu sich heran.
Ob Klaus das überzeugte? Sie kehrten jetzt beide nach drinnen zu den anderen zurück, die sofort ihr Reden unterbrachen und warteten, was die ihnen vorschlagen würden.
„Ihr habt recht, meine Aktion war Scheiße, habe ich gemacht, weil ich so wütend war.“ Klaus Stimme brach, er wendete seinen Blick ab, rang um Fassung, bis er endlich weiterredete. „Aber jetzt geht es nur um Petra. Es muss ihr etwas passiert sein …“
Wieder brach seine Stimme, zeigte er eine Reaktion, die kaum einer der anderen von ihm erwartete. Er wischte sich vergeblich mit seinen Händen das Gesicht, konnte aber seine Tränen nicht verbergen. Die liefen so heftig über seine Wangen, dass die bald silbern glänzende Bänder neben den Nasenflügeln zeichneten.
„Wir sollten jetzt erst mal ein Taxi bestellen!“, rief Lars. „Der kann uns die ganze Strecke, auch die über den Feldweg bis zur Absperrung vor dem Bach, zurückfahren. Irgendwo dort muss sie ja sein.“ Er sprang auf und lief zur Rezeption hinüber.
„Ich fahre da auf jeden Fall mit!“, rief Klaus, der seine Beherrschung wiedergefunden hatte. Paul meldete sich ebenfalls.
Ein Taxi, das gerade einen Gast gefahren hatte, wartete zufälligerweise draußen, und der Wagen war frei. Paul ließ sich ein paar Handtücher und einen Bademantel von der Frau an der Rezeption geben, was ihm sinnvoll erschien. Es dauert nicht einmal fünf Minuten, bis die drei Männer schon im Auto saßen.
In der Halle blieben erst mal nur Rosa und Beatrix zurück, während die anderen mit nach draußen zum Taxi gelaufen waren. Beatrix hatte sich auf einen Sessel fallen lassen, und ihre Freundin war eher unschlüssig vor der Rezeption stehen geblieben.
„Was starrst du so auf das Fenster?“, fragte Rosa Beatrix, die ihrem Blick zu folgen suchte.
„Sieh mal, da hat sich gerade eine Wespe in diesem Spinnennetz verfangen. Der rette ich jetzt mal ihr Leben!“
„Also, Beatrix, wirklich! Vergessen, dass diese Biester uns beinahe den Arsch zerstochen hätten?“, schüttelte Rosa den Kopf. „Eine Wespe, man glaubt es nicht.“
Ihre Freundin schien das nicht zu kümmern, sie stand jetzt auf, um zum Fenster zu laufen. Mit einem gezielten Wischer befreite sie die Wespe aus dem Spinnennetz. Die fiel nur leblos auf den Boden und blieb dort reglos leicht verkrümmt liegen.
„Sie ist ja auch schon tot“, sagte Beatrix mit erstickter Stimme.
„Mein Gott, Beatrix.“ Rosa zog sie jetzt mit einem festen Griff zu sich herum. „Alles in Ordnung mit dir? Es ist nur eine Wespe, längst tot!“
„Was ist denn nur mit Petra passiert?“, schluchzte die auf.
„Mensch, du spinnst ja! Hör auf damit!“, versuchte sie Rosa zu trösten.
Sie schien ratlos, weil sie die heftige Emotion ihrer Freundin nicht begriff. Sie schüttelte sie an den Schultern. „Wir haben doch nichts falsch gemacht. Es war Klaus, dem wir diese Situation zu verdanken haben.“
„Nein, es ist doch ganz anders!“ Beatrix löste sich aus Rosas Umklammerung. „Erinnerst du dich denn nicht? Damit hat es doch angefangen, als wir fürchteten, dass uns diese Insekten beim Pinkeln den Hintern zerstechen könnten und Klaus das so blöde kommentiert hat. Das hat uns erst recht gegen ihn aufgebracht. Erinnerst du dich nicht, wie wütend wir auf ihn waren? Vielleicht wäre doch alles ganz anders verlaufen, wenn das nicht passiert wäre.“
Rosa drückte ihre Freundin noch fester an sich. Sie sah es nicht so wie Beatrix. Sie erinnerte sich, dass ihre Abneigung beim ersten Zusammentreffen eingesetzt hatte, und die hatte sich allenfalls verstärkt. Das Erlebnis mit den aggressiven Wespen und Klaus blödem Spruch, das war später hinzugekommen.
***
Auf dem etwas rumpligen, von tiefen Fahrspuren durchzogenen Feldweg fuhr das Taxi eher zu schnell, was seine Fahrgäste mehrfach vergeblich monierten. Die hatten hier gerade so viel Licht und damit Sicht auf die Randbereiche der offenen Felder längs des Weges, dass sie die ein Stück weit nach rechts und links einsehen konnten. Es war trotzdem anstrengend, denn auch der inzwischen sternenklare Himmel bot kaum ausreichend Licht, um die nahe Umgebung auszuleuchten. Selbst das asymmetrische Scheinwerferlicht drang nur einseitig auf den schmalen Randstreifen des Feldwegs durch.
Klaus hatte sich neben den Fahrer gesetzt, die beiden anderen saßen hinten und klebten fast mit ihren Gesichtern an den Seitenscheiben.
„Wieso ist Ihre Freundin eigentlich allein gefahren? Ich dachte, Sie wären als Gruppe unterwegs gewesen“, störte auf einmal der Taxifahrer die Konzentration der drei Fahrgäste.
„Sie ist meine Frau!“, antwortete Klaus genervt. „Allein ist sie ja auch nicht unterwegs gewesen!“
„Hmm, verstehe das dann erst recht nicht“, brummte der Fahrer irritiert, der dabei seinen Beifahrer kurz von der Seite musterte. Die beiden anderen im Auto sagten lieber nichts.
„So, jetzt sind wir an der Abzweigung. Soll ich jetzt nach links abbiegen?“, fragte der Taxifahrer wieder in sachlichem Ton.
„Ja, das ist die einzige Möglichkeit. Könnten Sie aber bitte ab jetzt langsam und möglichst auf der linken Fahrbahnseite fahren? Es kommt uns ja sicher keiner entgegen“, gab Paul eine Anweisung.
Obwohl der Fahrer sich bemühte, jetzt Schrittgeschwindigkeit einzuhalten, schien Paul und Lars der Abstand bis zur gesperrten Brücke erstaunlich kurz zu sein. Sie glaubten, einen weitaus längeren Umweg geradelt zu sein.
„Das sind ziemlich genau sieben Kilometer gewesen von der Abzweigung in den Feldweg bis hierher zum Bach“, erklärte ungefragt der Taxifahrer, der zu wissen schien, was seine Fahrgäste gerade überlegten.
„Nichts!“, stieß Klaus resigniert aus und verstärkte so bei Paul und Lars deren schlechtes Gewissen.
„Wir fahren jetzt die ganze Strecke zurück. Irgendwo muss sie doch sein!“, sagte er laut. „Notfalls laufe ich die ganze Strecke nochmals zu Fuß ab.“
„Wie zu Fuß?“, meldete sich der Taxifahrer zweifelnd. „Meinen Sie, dass ich da warten soll?“
„Wenn notwendig ja, Sie kriegen es doch bezahlt“, entgegnete Paul, dem die Ungeduld des Fahrers auf die Nerven ging.
„Vielleicht hat sie auch nur die Abzweigung übersehen und ist weiter in Richtung Ortschaft gefahren“, erklärte Lars, dem das durchaus plausibel erschien. „Wenn sie doch ein Problem mit ihrem Rad hatte oder wegen des starken Regens vorhin …“
„Die hätte dann doch sicher angerufen“, erklärte Paul, der diese Meinung nicht teilte. „Erscheint mir sehr unwahrscheinlich. Das Radgeschäft hätte sie dann sicher bereits geschlossen vorgefunden.“
Das Taxi hatte inzwischen gewendet und rollte erneut in mäßigem Tempo in Richtung der Abzweigung zum Feldweg. „An die Möglichkeit, dass sich ihre Frau von jemanden hat mitnehmen lassen, haben Sie auch schon gedacht …“, bemerkte der Taxifahrer.
Alle drei hatten das nicht bedacht, und Klaus erschien das auch sofort als unsinnig. Wenn Petra sich von einem Auto hätte mitnehmen lassen, würde sie sich doch längst gemeldet haben, war er sicher. „Meine Frau würde mich dann sofort angerufen haben!“ Über irgendetwas anderes wollte er gar nicht nachdenken.
„Fahren Sie so langsam, wie es geht! Und bleiben Sie dicht am Fahrbahnrand!“
Jetzt erst bemerkten sie den parallel zur Fahrbahn laufenden Straßengraben, der durch hohe Gräser und kleine Büsche leicht zu übersehen war. Keine Idee hatten sie, wie steil die Böschung abfiel und wie tief dieser Graben war.
„Halten Sie mal, bitte“, befahl Klaus dem Taxifahrer, nachdem sie schon einige Kilometer gefahren waren. „Ich konnte kaum etwas neben der Fahrbahn erkennen. Besser, ich steige jetzt aus.“ Und nach dem Aussteigen ermahnte er den Fahrer, dass der hinter ihm herfahren sollte, damit er ausreichend Licht erhielte.
Klaus blieb oft stehen und beugte sich tief hinunter zum Graben. Auf dem rutschigen Gras wäre er einmal beinahe die Böschung hinuntergerutscht, konnte sich aber an einem Strauch festhalten. Resigniert schaute er sich mehrmals zu seinen beiden Gefährten im Auto um und schüttelte den Kopf. Schließlich stiegen die ebenfalls aus und folgten Klaus zu Fuß.
„Da liegt jemand im Graben!“, rief Lars, der etwas voraus stehen geblieben war. Gleich darauf zog er heftig an irgendeinem Gegenstand.
Die beiden anderen rannten zu ihm, um ein Fahrrad hochzuziehen. Für Klaus war sofort klar, sie hatten unzweifelhaft Petras Rad geborgen. Dann stieg er runter in den Graben.