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„Es ist Petra!“, gellte Klaus’ Stimme laut auf. Er kniete jetzt ungeachtet der Nässe direkt neben seiner Frau, deren Gesicht im Wasser lag. Er versuchte ihren Körper mit beiden Armen hochzuziehen. Ihre Beine, die sich zuvor offenbar im Fahrradrahmen verfangen hatten, waren jetzt frei. Er musste trotzdem Lars um Hilfe bitten, um seine Frau nach oben auf die Straße zu ziehen.
Petras Wangen berührend, nahm er die Kälte in ihrem Gesicht wahr. Er gewahrte die leblos herunterhängende Hand, nach der er griff. Und als er ihren Puls zu fühlen suchte, war ihm das unmöglich.
Hinter ihm drängten sich die beiden Gefährten und der Fahrer. Sie alle sahen im Licht der Scheinwerfer Petras feucht glänzendes Gesicht, deren Augen in den Himmel blickten, so als wäre sie noch bei ihnen. Klaus drückte ihren Körper an sich. Nur Paul begriff, was sie umgehend versuchen mussten. Fest entschlossen schob er Klaus beiseite, bettete Petras Oberkörper längs auf dem Grasstreifen am Straßenrand und fing an, kraftvoll mit beiden Händen übereinander rhythmisch ihren Brustkörper zusammenzudrücken. Mit Abständen presste er seine Lippen auf die ihren. Dazu holte er immer wieder tief Luft.
Wie oft? Als Paul sich langsam aufrichtete, glänzte sein Gesicht im Schein der Autolampen, Tropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, die er jetzt wegwischte. Keiner sagte etwas, und einen Moment dauerte es, bis Klaus sich wieder neben seine Frau kniete. Der Taxifahrer, der Pauls Wiederbelebungsversuchen zugeschaut hatte, stieg zurück in sein Taxi und telefoniert mit der Polizei oder einem Rettungsdienst.
Paul und Lars blieben stehen, während Klaus kniend immer wieder ruckartig Petra an sich drückte, wobei er sein Schluchzen nicht beherrschen konnte. Keiner wollte ihn dabei stören, zu sehr war den anderen bewusst, dass sie ihn nicht trösten konnten.
Nur leise murmelte Paul zu sich, was das für eine verdammte Scheiße sei, die sie wohl alle zu verantworten hätten.
Eine Sirene ertönte, und rasch näherte sich ein Rettungswagen, gleich darauf erschien auch die Polizei.
„Lassen Sie uns kurz durch“, sagte jemand in der typischen Kleidung eines Sanitäters oder Notarztes. Der Polizeibeamte, was für ein Zufall, genau der, den die Gruppe am Abend an der Absperrung angetroffen hatte, zog sie alle drei zurück, wollte mehr von ihnen erfahren.
Die Polizei fand am Morgen Kratzspuren und ausgerissene Grasbüschel an der Böschung, was für sie darauf hinwies, dass Petra noch um ihr Leben gekämpft haben musste. Nur ihr Rad, in dem sie sich verfangen hatte, und vielleicht ihre Panik hatten bewirkt, dass sie sich nicht selbst im Graben befreien konnte.
Eine spätere Obduktion stellte bei Petra einen rechtsseitigen Schlaganfall fest, Ursache für ihren Sturz, aber nicht für ihren Tod. Sie war im Graben ertrunken, was hätte verhindert werden können, wäre ihr rechtzeitig jemand zu Hilfe gekommen.
***
Es gab keinen Abschied. Die Etappe des folgenden Tages wollte niemand in der Gruppe fahren. Paul hatte das geahnt und den Veranstalter telefonisch darum gebeten, sie und ihre Räder bereits von ihrem jetzigen Hotel aus zu ihrem Ausgangspunkt der Tour zurückzubringen. Zum Frühstück waren sie alle außer Klaus erschienen, aber die Stimmung war so bedrückt, dass kaum gesprochen wurde. Jeder schien mit seiner ganz eigenen Aufarbeitung beschäftigt zu sein und wollte sich nicht darüber auszutauschen.
Wenn gesprochen wurde, dann waren es belanglose Bemerkungen oder einige Fragen zur Organisation der Rückfahrt. Paul wurde gefragt, ob Klaus Hilfe von ihnen benötigte, weil alle annahmen, dass er Kontakt zu ihm haben müsste. Der hatte von der Rezeption erfahren, dass Klaus noch einige Tage im Hotel bleiben wollte und keine Hilfe erwartete.
An Paul hatte er per WhatsApp geschrieben, dass er sich um Petras Überführung kümmern müsste und erst mal allein sein wollte. Später, so erklärte er, würde er sich nochmals ausführlicher melden. Im Schluss der Nachricht hieß es, dass er allen eine gute Heimfahrt wünsche.
Paul hatte gezögert, ob er den anderen diese WhatsApp vorlesen oder nur ein paar Worte darüber sagen sollte. Schließlich las er sie doch vor, und die betretene Stille, die dann erst recht eintrat, zeigte, wie sie alle das Unglück belastete.
Dass es nie wieder eine Radtour mit den Benders, schon gar nicht mit Petra, geben könnte, war jedem klar. Wie sie dem nochmals begegnen könnten, mochten sich einige von ihnen fragen. Zu viel war von Anfang an schiefgelaufen.
Klaus hatte in der restlichen Nacht gar nicht erst den Versuch unternommen, sich zum Schlafen hinzulegen. Es war schon Mitternacht gewesen, als ihn die Polizei zunächst zum Krankenhaus und dann zurück ins Hotel transportiert hatte, die beiden anderen waren ohne ihn mit dem Taxi zurückgekehrt.
Nicht nur die letzte Etappe war ihm durch den Kopf gegangen, aufgewühlt von seinen Gefühlen war er durchs Zimmer gelaufen. Er hatte angefangen, seine und ihre Sachen zu packen, obwohl doch klar war, dass er hier würde bleiben müssen, um alles zu regeln. Bei seiner Reisetasche hatte ihn auf einmal die Wut so ergriffen, dass er die einfach nochmals ausgekippt hatte. Alle Sachen waren auf dem Boden verteilt.
Früh hatte er sich ein Taxi gerufen und war zum Krankenhaus gefahren, wo man Petras Leichnam hingebracht hatte. Er hatte allein an ihrer Bahre in einem extra Raum verharrt, ihr ins Gesicht geschaut. Er hatte nicht geweint, womit er zuvor im Hotel nicht hatte aufhören können. Er hatte sich ihre Gesichtszüge genau einprägen wollen, die er meinte, so gut zu kennen. Aber da hatte er plötzlich viele Linien entdeckt, die ihm jetzt neu erschienen. Erst nachdem jemand an die Tür geklopft hatte und ihm mitteilte, dass Beamte ihn nochmals sprechen wollten, hatte er sich endlich von ihrem Anblick gelöst.
Er hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, sich sogar selbst zu beobachten, als ihm die Polizei zum Unglück einige Fragen stellte. Er hatte die nur schwer ertragen, auch deren Verwunderung darüber, wie seine Frau unbemerkt hatte vom Rad in den Wassergraben stürzen können, wo sie ohne Hilfe ertrunken war.
Er hätte das gar nicht beantworten können, hatte stattdessen von seiner Schuld gesprochen, von seinem blöden Einfall, was die Beamten noch mehr verwirrt hatte. Am Ende fragten die ihn ernsthaft, ob er nicht eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung stellen wollte.
„Anzeige erstatten?“, hatte er ungläubig zurückgefragt. Da hatte er schon seine Stimme verloren und nur heftig mit dem Kopf geschüttelt.
„Ich wollte doch nur …“, hatte er nochmals zu einer Erklärung angesetzt.
Was immer die Polizei über ihn dachte, sie äußerten es nicht. Die beendeten gleich darauf ihre Befragung. „Sie sollten zurück in Ihr Hotel fahren. Sie wollen heute sicher nicht nach Hause fahren, so wie Sie sich fühlen.“
Im Hotel hatte die Frau am Empfang ihm ihr Bedauern ausgedrückt. Obwohl die Petra gar nicht kannte, zeigte die sich tief berührt und hatte Mühe, ihr Mitgefühl zu verbergen. Sie hatte sogar Tränen in den Augen, die sie sich mehrfach verstohlen wegwischte. „Ihre Freunde sind am Mittag abgeholt worden, die konnten nicht warten, weil der Bus vom Veranstalter sofort hatte weiterfahren wollen. Aber alle lassen Sie grüßen und sie würden sich bei Ihnen melden.“ Dann fiel ihr noch etwas ein. „Sie können hier so lange wohnen bleiben, wie es erforderlich ist.“
***
Es waren sechs Wochen vergangen, der Herbst hatte deutlich die Gewalt über das Wetter übernommen, als Klaus erstmals wieder an seinem Arbeitsplatz erschien. Er hatte sich zunächst krankgemeldet und dann bezahlten beziehungsweise später unbezahlten Urlaub genommen. Er hatte die Zeit gebraucht, um zu trauen und teilweise, um zu regeln, was erforderlich war.
Seine Familie war ihm zur Seite gestanden, was ihm geholfen hatte. Trotzdem hatte er viel Zeit allein verbracht, einfach, weil er das brauchte. Erschüttert hatten sich alle gezeigt, und die fassungslosen Fragen seiner Umgebung hatte er kaum hinreichend beantworten können. Die hatte er sich auch selbst gestellt. Die eine Ursache oder die eine Erklärung für das Scheitern ihrer Fahrradtour hatte er nicht gefunden. Aber das Gefühl blieb in ihm haften, dass er mit seinem überheblichen und ungeschickten Verhalten die Ablehnung in Pauls Freundeskreis provoziert haben könnte. Er schob sich längst eine Mitschuld zu, dass er nicht unwesentlich zum katastrophalen Ende der Radtour beigetragen hatte.
Den Beerdigungstermin hatte er Paul ebenso wenig mitgeteilt, wie er auf dessen Kontaktversuche reagiert hatte. Mit den anderen Gruppenmitgliedern pflegte er ohnehin keinen Umgang. Der Bruch zu seinem Kollegen war ihm unvermeidlich erschienen. Er konnte sich eine Fortsetzung selbst eines losen Kontakts zu ihm und dessen Freunden nicht vorstellen. Die dünne Freundschaftsbasis hatte ja nicht einmal ausgereicht, die Radtour vernünftig zu Ende zu fahren. Eine vergleichbare Unternehmung würde es für ihn auf lange Zeit nicht geben, war er sich sicher.
2. Die Suchmeldung
Malte Thomas hatte es nicht eilig, wie noch am Vormittag, als er unbedingt pünktlich zu einem Termin in Hamburg erscheinen wollte. Doch jetzt war er gezwungen, sich Zeit zu nehmen.
Noch bis in die Nachmittagsstunden hinein hatte sich das Wetter an diesem Sommertag warm und trocken gezeigt. Nur am westlichen Horizont zeigten Zirruswolken eine Warmfront an. Etwas später verdichteten sich die Wolken am Himmel, und wer die beobachtet hatte, dem waren die Hinweise auf den heranziehenden Regen sicher nicht entgangen.
Inzwischen hatte sich der Niederschlag so verschärft, dass er wie eine Folie auf der Windschutzscheibe wirkte, der die Scheibenwischer nichts anhaben konnten.
Der böige Wind hatte Malte Thomas gezwungen, seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Jetzt hinderten ihn auch noch die schlechte Sicht und die vielen LKWs vor ihm auf der Bundesstraße 4, schneller zu fahren. Die Reflexion der Scheinwerferlichter auf dem regennassen Asphalt irritierte ihn zusätzlich. Dunkelheit herrschte, obwohl es nicht einmal Abend war. Es regnete so heftig, wie vom Verkehrsfunk vorausgesagt, aber an diesem heißen Julitag war das für viele Menschen sogar eine Erfrischung. Malte prüfte kurz die geschätzte Ankunftszeit in der Navigationsanzeige, und die versprach heute einen beträchtlichen Zeitverlust.
Er war auf dem Weg zurück nach Hause von einem Termin in Hamburg. Er bereute in diesem Moment, dass er den Umweg über eine Landstraße hinein in die Lüneburger Heide genommen hatte, um dort Spuren eines bestimmten Laufkäfers, des Heidelaufkäfers, zu suchen. Das hatte nichts gebracht, aber viel Zeit gekostet, sonst wäre er sicher längst an seinem Ziel angekommen.
Er brauchte noch Fotos, die diese Käfer möglichst in ihrem natürlichen Lebensraum zeigten, so wie es seine Auftraggeber erbeten hatten. Da hatte die Sonne am Himmel noch geschienen, und die dunklen Kumuluswolken am Horizont hatten ihn nicht gekümmert.
Mit seinem Auftraggeber, eine noch junge IT-Firma in Hamburg, hatte er sich über seine Arbeit abstimmen müssen. Die entwickelte im Moment eine Applikation, für die er sein Wissen über Insekten beisteuern sollte. Mit diesen Tieren hatte er sich schon während seiner Tätigkeit als Professor für Biologie beschäftigt.
Die Firma hatte ihm eine Mitarbeit in ihrem neuen Projekt angeboten. Obwohl die Entwicklung einer App für ihn Neuland war, hatte er nur kurz gezögert und schließlich zugestimmt. Bisher war er immer nur Nutzer eines Smartphones oder Tablets gewesen. Technische Details dieser Geräte hatten ihn nie gekümmert. Jetzt war es eine Herausforderung für ihn, sich beim Sammeln des Materials stets der Beschränkungen dieser Geräte hinsichtlich Speicherplatz und Bildschirmgröße bewusst zu sein.
Das Treffen in Hamburg hatte ihn zusätzlich motiviert, weil er zum ersten Mal selbst einen Prototyp der App hatte testen können, in dem auch seine Beiträge präsentiert wurden. Das hatte ihm Spaß gemacht und seine anfängliche Skepsis gegen das ganze Projekt vergessen lassen. Die Entwickler hatten von ihm allerdings noch weitere Fotos und Beschreibungen von einigen heimischen Insekten gefordert, genannt hatten sie einen Laufkäfer, der in der Heide zu Hause war. An den hatte er nicht gedacht, weil er diesem kaum zwei Zentimeter messenden Käfer mit seinen golden glänzenden Flügeldecken keine große Bedeutung geschenkt hatte. Er vermutete jetzt, dass die zufällig in irgendeinem Internetartikel über dieses Tierchen gestolpert sein könnten, weil es auf der Roten Liste der speziell geschützten Insekten geführt wurde. Sicher schlossen die, dass eine Erwähnung in ihrer App wichtig wäre. Und vermutlich lagen sie mit ihrer Einschätzung richtig.
Auf der Rückfahrt hatte er sich spontan zu einem Umweg über die Lüneburger Heide entschieden. Den Zeitverlust hatte er ebenso verdrängt wie die geringe Wahrscheinlichkeit, einen solchen Käfer anzutreffen.
„Kann nur hoffen, dass ich diese jungen Leute nicht enttäusche.“
Er war fast eine Stunde lang in die Heidelandschaft hineingewandert, dorthin, wo er hoffte, das Insekt aufzuspüren. Mit der Kamera in der Hand war er auf dem Boden herumgekrochen. Sein Optimismus, fündig zu werden, war begrenzt, denn erst wenige Tage zuvor hatte er in einem Fachblatt lesen können, dass die Käferpopulation in der Heide erheblich zurückgegangen war. Der Klimawandel und der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft wirkten sich auf die Häufigkeit von Käfern in der Lüneburger Heide negativ aus. Als selbst eine intensive Suche erfolglos blieb, wollte er schließlich aufgeben und überlegte, notfalls auf eine Wikipedia-Abbildung zurückzugreifen. Nur: Das hatte ihm widerstrebt, zumindest mangelnden Einsatz wollte er sich selbst nicht erlauben. Es ärgerte ihn, aber er würde mit Sicherheit die Suche nach dem Tier wiederholen.
Als er seine Bemühungen spät abbrach, hatten sich die Wolken am Himmel schon bedenklich zusammengezogen und der Wind erheblich aufgefrischt. Es fielen bereits die ersten Tropfen. Nur deshalb war er in dieses Unwetter geraten.
Im Auto hatte ihn die Meldung des Verkehrsfunks vor dem durchziehenden Regen gewarnt, der er aber wenig Beachtung schenkte, er erlebte ja, was der Sender verkündete. Im Vordergrundprogramm wurde irgendeine Geschichte gesendet, der er ebenfalls nur mit halbem Ohr zuhörte.
Er fixierte die Rücklichter des vor ihm schleichenden Fahrzeugs, dem er sicher zu dicht folgte. Zum rechtzeitigen Bremsen würde es hoffentlich reichen, war er dennoch überzeugt.
Im Radio ertönte eine Meldung, die ihn aufhorchen ließ. Er konnte die überhaupt nicht mit dem augenblicklichen Straßenverkehr und dem Wetter in Verbindung setzen.
„Gesucht wird die fünfzehnjährige Michaela Daniel aus Melbeck, die seit gestern Morgen vermisst wird. Sie wurde zuletzt gestern Mittag in der Nähe ihres Gymnasiums in Lüneburg gesehen. Bekleidet war sie mit …“
Die Beschreibung der Kleidung gab für ihn wenig her, es war der Name der Ortschaft, der ihn aufmerken ließ.
„Da bin ich doch heute Morgen durchgefahren“, äußerte er sich laut, der Ort lag ja südlich von Lüneburg, direkt an der Bundesstraße 4.
Wieso suchen die eine fünfzehnjährige Gymnasiastin? Die wird doch hoffentlich keinem Sexualtäter in die Hände gefallen sein?, überlegte er. Ihm fielen seine Enkelinnen ein, die etwa im gleichen Alter waren. Die Meldung irritierte ihn, weil er sofort an sie dachte.
Welcher Zufall war es, dass er heute Morgen durch den angegebenen Ort durchgefahren war? Er hatte die Autobahn in der Annahme gemieden, dass die kürzere Distanz auf der Bundesstraße ihn schneller zu seinem Termin bringen würde. Leider hatte er sich wegen des dichten Verkehrs geirrt, viele langsam fahrende LKWs und kleinere Staus in Ortschaften hatten ihn immer wieder aufgehalten. Was Pünktlichkeit anbelangte, so war er doch weniger flexibel als die jungen Leute in der Firma. Er hatte sogar überlegt, ob er denen seine mögliche Verspätung telefonisch ankündigen sollte.
Da war ihm auf der geraden Strecke unvermittelt ein Auto entgegengekommen, das kurzzeitig ins Schlingern geraten zu sein schien. Erschrocken war er auf die Bremse getreten und dicht auf den Fahrbahnrand ausgewichen. Er hatte mitbekommen, wie der Fahrer des anderen Wagens mit seinem rechten Arm erkennbar nach hinten in den Fond schlug.
Er hatte nochmals die Geschwindigkeit weiter reduziert, als der andere Wagen dicht an ihm vorbeifuhr. Jetzt hatte er deutlich erkennen können, dass der Fahrer tatsächlich nach hinten auf eine Person einschlug. Wem diese Schläge galten, das hatte er leider nur undeutlich gesehen.
Erschrocken über das Herumschlagen des Fahrers, hatte er sein Fahrzeug am Straßenrand gestoppt, um im Rückspiegel gleich darauf zu beobachten, was wenig später passierte. Der andere Wagen war kaum hundert Meter weitergefahren, hatte dann ebenfalls angehalten. Malte Thomas hatte noch mitbekommen, wie der Fahrer aus dem Auto gesprungen war und eine Person aus dem Fond seines Fahrzeugs auf den Seitenstreifen gezerrt hatte. Leider hatte er nicht erkennen können, wen dieser Mann auf die Straße befördert hatte. Der selbst war gleich darauf wieder davongefahren. Sein Fahrgast aber hatte am Straßenrand verharrt und dem davonfahrenden Auto hinterhergeblickt. Ihm war diese Person unverletzt erschienen, und es war schwer für ihn, einzuschätzen, ob die eine Frau oder doch ein älteres Kind war.
Kurz hatte er überlegt, ob er Hilfe anbieten sollte, aber das wegen des vermeintlichen Zeitdrucks unterlassen. Er hatte nur an den für ihn wichtigen Termin gedacht, bei dem er, korrekt wie er war, sich nicht verspäten wollte. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel, dann war er selbst weitergefahren.
Er hatte sich bei der Weiterfahrt damit beruhigt, dass diese Person scheinbar unverletzt am Fahrbahnrand gewartet hatte. So war er überzeugt, dass die nur ein Stück bis zum nahe gelegenen Ort laufen oder sich per Anhalter mitnehmen lassen müsste.
Warum bremst der vor mir plötzlich ab?, überlegte er. Dann zog der PKW vor ihm die Fahrt doch wieder an. Und gleich darauf reduzierte das Fahrzeug vor ihm deutlich seine Geschwindigkeit, der Wagen schien zu rucken. Er versuchte, angestrengt zu erkennen, was da weiter vorn los sein könnte. Aber voraus über das nächste Auto hinwegzublicken, war ihm nicht möglich.
Hat der vor mir ein Problem mit seinem Fahrzeug?, schoss es ihm in den Kopf, denn einen Grund für dessen auffälligen Fahrstil schien es nicht zu geben.
Der wird doch nicht besoffen sein?, fragte er sich irritiert, was ihn aber nicht daran hinderte, den als möglichen Fahranfänger zu verdächtigen. Und dabei fiel ihm der Vorfall am Morgen ein, bei dem ein entgegenkommendes Fahrzeug für Sekunden in Schlangenlinien gefahren war. Die Erinnerung wollte nicht verschwinden.
Der Regen ließ schon deutlich nach, die Scheibenwischer quietschten leicht, wenn kaum noch genügend Nässe auf der Scheibe lag.
Was immer den Fahrer vorn im Auto ablenkte und seine Aufmerksamkeit forderte, es verhinderte bei Malte, dass er die Geschichte von heute Morgen ausblenden konnte. Passten dazu nicht diese Vermisstenmeldung und die aus dem Auto gestoßene Person? Gab es nicht die Übereinstimmung mit dem Ort, den die Meldung im Radio genannt hatte?, überlegte er.
War es die vermisste Michaela Daniel gewesen, die der Grobian aus dem Auto gezerrt hatte? Das wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Er erinnerte sich jetzt deutlich an seine Beobachtung, wie der Fahrer offenbar brutal nach hinten auf die dort sitzende Person eingeschlagen hatte. Eine schreckliche Ahnung wandelte sich in seinen Gedanken fast schon zur Gewissheit, dass ihm wahrscheinlich in diesem Kerl ein Sexualverbrecher begegnet war, der sich nach einem brutalen Vergehen des Opfers hatte entledigen wollen.
So blöd kann der doch nicht gewesen sein, das Mädchen einfach auszusetzen, es würde ihn doch sicherlich anzeigen, suchte er sich gleich wieder zu beruhigen.
Jetzt hatte er ja keinen Termin mehr, hatte Zeit, und es war das buchstäblich pochende Gewissen, was ihn nicht in Ruhe ließ. Er verzögerte seine Fahrt, suchte im Gegenverkehr nach einer genügend großen Lücke, um wenden zu können. Lüneburg lag schon etliche Kilometer hinter ihm, und wenn dieses Mädchen in einem nahe liegenden Ort vermisst wurde, dann sollte die Polizei dort am besten über diesen Fall Bescheid wissen.
Er dauerte lange, bis er eine ausreichend große Lücke im Strom der entgegenkommenden Fahrzeuge fand. Dann wendete er entschlossen und fuhr zurück nach Lüneburg.
Die Fahrt führte ihn fast durch die halbe Innenstadt, bis er dort das Schild eines Polizeireviers entdeckte. Er hatte sich da schon überlegt, was er aussagen oder besser übergehen sollte. Vor allem wollte er den Eindruck vermeiden, dass er wegen eines Termins nicht sofort geholfen hatte. Trotzdem zögerte er zunächst, bevor er sich wenig später äußerte.
„Im Radio kam gerade die Suchmeldung zu diesem fünfzehn Jahre alten Mädchen, das angeblich seit gestern Morgen vermisst wird“, wandte er sich an den Beamten, der ihm an der Theke gegenüberstand. „Ich muss eine Beobachtung von heute Morgen melden.“
Jetzt schauten alle Polizisten im Raum zu ihm hoch. Einer kam rüber zur Theke. Im offen stehenden Nebenraum lief ein Radio, und Malte Thomas erkannte den Sender, den er beim Fahren angehört hatte.
„Was für eine Suchmeldung?“ Die Beamten schauten abwechselnd sich und ihn fragend an.
„Na die, die gerade im Radio durchgegeben wurde. Hören Sie denn nicht die Meldungen im Radio?“, bemerkte Malte Thomas verständnislos und irritiert. „Ich höre doch, dass Sie gerade diesen Sender eingeschaltet haben.“
Sein Ton hatte sich verärgert angehört, was ihm unangenehm war. Er merkte selbst, dass er sich vor diesen Beamten besser zusammenreißen sollte. Die beiden Polizisten an der Theke schienen das ebenso zu sehen.
„Nun beruhigen Sie sich zunächst einmal, bevor Sie uns angreifen!“, mahnte einer der Männer und musterte ihn vorwurfsvoll. „Ich weiß von keinem vermissten Mädchen. Weißt du etwas, Bruno?“
Der schien sicher auch nichts davon zu wissen, denn der schüttelte den Kopf und grinste den Besucher spöttisch an.
In dem Moment kam ein weiterer Beamter aus dem Nebenraum herüber und hatte offenbar eine Idee.
„Sie reden doch nicht von Michaela Daniel?“, fragte er schmunzelnd, was Malte Thomas erst recht verunsicherte und dessen Kollegen zu verblüffen schien.
„Das haben Sie im Radio vorhin mitbekommen, nicht wahr?“, redete der Beamte weiter, musste aber jetzt ein Lachen unterdrücken. Thomas nickte nur verständnislos, weil ihm unklar war, woher der Mann diese Heiterkeit hernahm.
„Ich kann Sie da beruhigen, diese Vermisstenmeldung, die Sie im Radio gehört haben, war Teil eines Hörspiels“, erklärte endlich der Polizist. „Es gibt gar keinen Vermisstenfall!“
„Sie meinen, es wird gar kein Mädchen vermisst?“, fragte Malte Thomas ungläubig zurück.
„Nein! Es läuft nur dieses gut gemachte Hörspiel im Radio, das Sie offensichtlich nicht richtig verfolgt haben“, entgegnete der Beamte.
„Das ich nicht richtig verfolgt habe …“, stotterte Malte und empfand sich dabei wie ein Depp, was ihm peinlich war. Fast verblasste bei ihm der Gedanke an sein Verhalten am Morgen, wo er weitergefahren war. Die Beamten an der Besuchertheke vermieden es, offen zu zeigen, was ihnen in diesem Moment durch den Kopf ging. Eher zeigten sie ernste Gesichter, schienen darauf zu warten, dass er sich noch mal zu seinem Verhalten äußerte.
„Aber Sie haben eine Beobachtung melden wollen. Und die würden wir jetzt doch gerne hören“, erklärte dann endlich der Polizist, dem der Zusammenhang mit dem Hörspiel aufgefallen war.
Es dauert einen Moment, bis Malte sich die richtigen Worte überlegt hatte. Er müsste ja jetzt doch seine mangelnde Hilfsbereitschaft eingestehen. Es half nichts, er erzählte von dem Vorfall am Morgen und von seiner Eile, die ihn davon abgehalten hatte, der Person Hilfe zu leisten.
„Und jetzt haben Sie ein so schlechtes Gewissen, dass Sie sogar zurückgefahren sind, um uns unbedingt zu informieren.“ Der Beamte schaute ihn fast ungläubig an, und sein Ton hörte sich deutlich förmlicher an. „Auch wenn wahrscheinlich der Vorfall sich inzwischen geklärt haben wird, es ist gut, dass Sie sich trotzdem noch bei uns melden!“
Malte Thomas fiel es sichtbar schwer, sich zu erklären. Er verlagerte sein Gewicht mehrfach nervös von einem Bein auf das andere und hoffte, dass diese unangenehme Situation schnell endete. So hatte er sich diese Aussage bei den Beamten nicht gewünscht, selbst wenn er darüber ein wenig erleichtert schien.