- -
- 100%
- +
«Aber Sie haben eine Freundin?»
«Ja.»
«Schön. Wie heisst sie?», fragte Zangger weiter. Nicht inquisitorisch, bloss neugierig und interessiert. «Mit Vornamen, meine ich.»
«Ähm …», Caduff zögerte. Er schien sich nicht im Klaren zu sein, ob er ihren Namen nennen wollte. «Nicole», sagte er dann.
«Auch Studentin?»
«Nein, Hotelpraktikantin. Im Schweizerhof.»
«Und heiraten will sie Sie nicht?»
«Ehrlich gesagt», grinste Caduff, «habe ich sie noch gar nicht gefragt.»
«Alles zu seiner Zeit, nicht wahr? Und Ihre Mutter?»
«Meine Mutter?», fragte Caduff erschrocken zurück.
«Ich meine, stimmt die Geschichte mit Ihrer Mutter?»
Die Frage schien Caduff die Sprache zu verschlagen. Er schaute Zangger mit grossen Augen an.
«Die mit dem Traktor?», doppelte Zangger nach.
Caduffs Augen blickten durch Zangger hindurch. Er wirkte wie weggetreten.
Epileptische Absenz?, dachte Zangger. Dissoziative Störung?
Es dauerte nur zwei Sekunden. Caduff kam zu sich.
«Was war jetzt gerade?», wollte Zangger wissen.
«Wie?», fragte Caduff zurück. «Nichts.»
Zangger schwieg eine Weile und sah seinen Patienten ruhig an. «Stimmt die Geschichte?», wiederholte er dann seine ursprüngliche Frage. «Mit Ihrer Mutter? Mit dem Traktor?»
Wieder sah ihn Caduff verwundert an.
«Ja, die stimmt», sagte er schliesslich. Er schluckte.
Im ersten Augenblick hatte Zangger seine Frage fast bereut. Jetzt stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass die Antwort eine eigenartige Reaktion in ihm auslöste: Er fühlte sich erleichtert. Aber er wusste, dass er Caduff, was dessen kurze geistige Abwesenheit anging, im Auge behalten musste.
«Und was ist mit Ihrem Vater?»
«Meinem Vater? Den kenne ich nicht. Oder meinen Sie den alten Caduff?»
Zangger hob fragend die Hände.
«Was mit ihm ist? Er ist ein Schwein», sagte Caduff. «Und Gott sei Dank tot.» Er schwieg lange, dann sagte er leise: «Er triebs mit den Schafen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und auch mit mir», murmelte er. «Im Stall, wenn Schafe und Kühe auf der Weide waren. Zuerst ausmisten und dann …»
Er verstummte und sah Zangger ins Gesicht.
Es schauderte Zangger. Selbstverständlich würde er Caduff später wieder auf diesen widerlichen Missbrauch ansprechen. Aber jetzt wollte er ihm dazu keine Fragen stellen. Er hatte den Eindruck, dass das zu viel wäre. Er stellte ihm stattdessen die eine oder andere biografische Frage. Caduff erzählte von der Tante, die an Mutters statt für ihn gesorgt habe, bis er fünfzehn oder sechzehn war. Vom Geständnis, das der Alte herausgeschrien habe, wie einen Fluch: dass er gar nicht sein Vater sei. Vom Muni und den blutdurchtränkten Stallhosen.
Erneut lief es Zangger kalt den Rücken hinunter.
Dann von der Familie seines Vormunds weiter unten im Tal, bei der er für kurze Zeit gelebt habe, ehe er ins Internat der Klosterschule Disentis habe eintreten können. Von der kaufmännischen Lehre auf der Bündner Kantonalbank in Ilanz, die er, die Matura im Sack, absolviert habe, um rasch Geld zu verdienen. Vom Auszug aus der Surselva nach Chur und – zwei, drei Jahre später – nach Zürich. Von seiner Anstellung bei der Bank Wittmann, die er gekündigt habe, und vom Informatikstudium, das ihm sehr zusage. Schliesslich von MacMax, bei dem er ein bisschen Geld verdiene, um sein Studium zu finanzieren.
Gegen Ende der Sitzung besprach Zangger mit ihm die Modalitäten der Behandlung. Dass Caduff es vorzog, in den Vormittagsstunden zu kommen, erstaunte Zangger etwas.
«Es gibt noch etwas, Herr Caduff, und zwar …»
«Eine Hausaufgabe, nicht wahr?», fiel ihm sein Patient ins Wort. «Ich habe gehört, dass man Ihre Sprechstunde nicht ohne eine Hausaufgabe verlässt. Was ist es?»
«Ein Tagebuch. Ich bitte Sie, ein Tagebuch zu führen.»
«Ein Tagebuch?», meinte Caduff enttäuscht.
«Ein Lügenjournal.»
«Oh. Ich verstehe.»
«Gut», sagte Zangger. «Sie führen über alle Ihre kleinen und grossen Lügen Buch, und zwar tagtäglich. Angenommen, Sie schwindeln heute Ihren Chef an oder Ihre Freundin, einen Freund oder Polizisten, spielt keine Rolle, dann gehört das ins Tagebuch. Auch wenn es nur eine kleine Notlüge war.»
«Alles klar», bestätigte Caduff.
«Noch etwas, Herr Caduff», fuhr Zangger fort.
Er trug ihm auf, sich bei jedem kleinen oder grossen Schwindel nach seinen Motiven zu fragen: War es Prahlerei? Hoffte er auf Bewunderung? Fürchtete er, jemanden zu enttäuschen, wenn er die Wahrheit sagte? Steckte die Angst, einen Fehler zugeben zu müssen, hinter seiner Lüge? Diente sie dazu, eine alte zu vertuschen? Diese Dinge solle er, wenn er darauf eine Antwort finde, ins Lügenjournal schreiben.
«Gut, ja.»
«Dann prüfen Sie innerlich nach, ob Sie sich Ihrer Lüge schämen oder nicht. Auch das halten Sie im Tagebuch fest.»
«Ob ich mich schäme?», wiederholte Caduff erstaunt. «Okay, ich – ich verstehe.»
«Damit das klar ist: Das Tagebuch dient nur therapeutischen Zwecken. Nur Sie und ich werden darin lesen.»
«Muss ich es in die Sitzung mitbringen?»
«Vorläufig nicht», sagte Zangger.
Einstweilen wolle er nur wissen, ob er ihn, seinen Psychiater, angeschwindelt habe. Für alle übrigen Schwindeleien sei er nicht ihm, sondern seinem Lügenjournal Rechenschaft schuldig. Zu einem späteren Zeitpunkt würden sie es dann gemeinsam unter die Lupe nehmen.
Caduff sah Zangger ins Gesicht und nickte.
«Es gibt noch ein organisatorisches Problem, Herr Caduff», sagte Zangger. Er teilte seinem Patienten mit, dass seine Praxis Ende Mai für sechs Wochen geschlossen sein werde.
«Das macht mir nichts aus», sagte Caduff. «Verreisen Sie?»
«Jawohl», sagte Zangger.
«Wohin, wenn ich fragen darf.»
«Nach Schottland.»
«Oh! Lachs fischen? Oder Single Malts?», fragte Caduff neugierig weiter. «Eine Whiskytour?»
Zangger zögerte eine Sekunde. Er war eher zurückhaltend mit Auskünften über seine persönlichen Angelegenheiten. Aber er hatte es nie zum Prinzip gemacht, Privates um jeden Preis auszuklammern.
«Fischen kaum», erwiderte er. Single Malts schon eher, dachte er, aber das wollte er dem jungen Patienten nicht unter die Nase reiben. «Eher trekken.»
«Wer organisiert das? Reise-Fischlin?»
Zangger fand Caduffs Fragerei zwar etwas unverfroren, gleichzeitig aber auch sympathisch unbeschwert. Er beschloss, so lange zu antworten, als er Lust darauf hatte.
«Wir reisen immer auf eigene Faust.»
«Wir? Heisst das Sie und Ihre Frau?»
«Ja», sagte Zangger. Und freiwillig fügte er hinzu, er wusste selber nicht, wieso: «Mit einem alten VW-Camper.»
«Wow! Etwa mit einem California?»
«So ähnlich. Westfalia heisst das Modell. Baujahr 1972.»
«Oh, ein Westfalia? Das ist der Vorgänger des California, nicht wahr? Mit Aufstelldach?»
«Genau.»
Zangger staunte nicht schlecht, dass diesem jungen Mann der VW-Camper Modell Westfalia ein Begriff war. Das Vehikel war ja einiges älter als Gion Caduff selber. Zangger war in seinem Alter und auch noch Single gewesen, als er das unverwüstliche Gefährt – damals schon ein Gebrauchtwagen – gekauft hatte. Er war mit dem hellgrünen Camper durch die Sahara gefahren, hatte ihn auf abenteuerlichen Wegen wieder nach Hause gebracht und war später mit Tina damit nach Spanien und Portugal gereist. Für Familienferien war der VW-Camper natürlich zu klein gewesen. Sie hatten ihn nur noch sporadisch gebraucht und irgendwann eingemottet. Denn verkaufen oder verschrotten kam nicht in Frage. Vor ein paar Jahren, als Claudia ihre Fahrprüfung ablegte, machten sie ihn wieder flott. Claudia verbrachte mehrere Male Camperferien mit ihrem Freund, im Engadin und im Tessin, und einmal reiste sie mit ihm ans Nordkap. Fabian später mit Louis nach Barcelona. Tom mit seiner Clique an die Côte d’Azur. Mona verabscheute das Fahrzeug, für sie war es Sinnbild einer spiessigen Welt. Es war Tinas Idee gewesen, den alten Camper für eine mehrwöchige Reise nach Schottland instand stellen zu lassen. Sie kannte ihren Pappenheimer und zählte darauf, dass Zangger auf einer Camperreise am ehesten abschalten und sich erholen würde. Es war ein Kompromiss gewesen, denn Zangger hatte einmal mehr für Afrika plädiert, Tina für eine Donauschifffahrt mit Opernbesuchen. Nachdem er Bilder von den Low- und den Highlands und den Hebriden gesehen hatte, liess Zangger sich umstimmen.
«Dann haben Sie ja einen richtigen Oldtimer», meinte Caduff. «Hält er denn noch durch?»
Nun war es um Zangger geschehen. Das Reisefieber packte ihn, und obschon er eigentlich gar nicht hatte davon reden wollen, plauderte er weiter.
«Der hat es durch die Sahara geschafft, über sämtliche Alpenpässe und kreuz und quer durch Europa. Da wird er Schottland auch noch schaffen. Auch wenn er unendlich viele Kilometer auf dem Zähler hat. Wir fahren nach Calais und nehmen die Fähre nach Dover», fuhr er fort. Und bald hatte er seinem Patienten die Reiseroute skizziert, die er mit Tina zurückzulegen gedachte, mit allen Stationen zwischen Edinburgh und den Western Highlands.
«Sie würden aber lieber nach Afrika reisen, nicht wahr, Herr Zangger?», meinte Caduff. Er schaute ihm dabei direkt in die Augen. Zangger war sprachlos.
4.
Heute war ein Retrotag: einer der Tage, an denen Zangger von Kindheitserinnerungen eingeholt wurde, ohne dass er es wollte. Die Retrotage häuften sich in letzter Zeit. Er stand im Snow-n-Sand, um sich für Schottland einzukleiden. Kleiderkaufen war für ihn schon immer ein Greuel gewesen. Als Kind hatte es ihn nie gereizt, seiner Mutter beim Nähen und Schneidern zuzusehen – viel schöner fand er es, wenn sie einen Kuchen buk –, und wenn er sie zur Schneiderin oder in einen Hutladen begleiten musste, ödete es ihn an. Es roch in diesen Ateliers nach gar nichts, und die langweilige Stille, die darin herrschte, war irgendwie bedrückend. Nicht zu vergleichen mit einer Bäckerei oder einer Schreinerei. Selbst der Milch- und Käseladen dünkte ihn aufregenderes Territorium. Mutter setzte sich einen Hut auf und fragte Lukas, wie er ihm gefalle. Er gefiel ihm überhaupt nicht, denn er sah ganz anders aus als der, den sie zuhause hatte. Dann einen andern und wieder einen, bis er behauptete, der, den sie jetzt auf dem Kopf habe, gefalle ihm. Nur um der Warterei ein Ende zu machen. Den kaufte sie aber nicht, sondern entschied sich für den allerersten. Einmal zupfte er aus purer Langeweile und Zappeligkeit sämtliche Stecknadeln und Fäden aus einem Kostüm heraus, das, provisorisch zusammengesteckt, an einer Schneiderbüste hing. Das Kostüm landete, in seine Einzelteile zerlegt, auf dem Fussboden. Die Schneiderin tat ganz aufgeregt, und fortan war Lukas von solchen Begleitgängen dispensiert. Ging es um Kleider für ihn selber, so sagte ihm das keinen Deut mehr zu. Die Zanggers mussten zwar nicht jeden Rappen, aber sicherlich jeden Franken umdrehen. Mutter schneiderte die Kleider selber, aber manchmal ging man zur Knabenschneiderin: wenn es besonders gute Hosen sein mussten. Die waren aber nicht etwa aus feinem, sondern aus robustem Stoff, Manchester, gefertigt, und Hannes und Georg mussten sie austragen, wenn sie Lukas nicht mehr passten. Stundenlang, so kam es ihm vor, musste er sich gedulden, bis Mutter alle Stoffe gesehen und in die Finger genommen hatte. Wurde er gefragt, welcher ihm gefalle, und zeigte er auf den beigen, so beschieden ihm die Frauen, der sei zu heikel. Der braune gefalle ihm doch bestimmt auch. Er schüttelte den Kopf, aber die Hosen wurden aus dem braunen Stoff geschneidert. Das Resultat, die fertigen Hosen, interessierte ihn dann sowieso nicht besonders. Hosen waren für ihn Hosen, morgens zum An- und abends zum Ausziehen. Nur einmal hatte er sich brennend für Mode interessiert, mit fünfzehn. Da hatte er die fixe Idee, dass ein Bursche in einem Dufflecoat umwerfend aussehe. Er war überzeugt, dass dieser neumodische kamelbraune Mantel mit Knebeln anstelle von Knöpfen einen buchstäblich unwiderstehlich mache. Besonders, wenn man dazu ein Halstuch, nein, einen wollenen shawl trug. Mit Schottenmuster, rot mit grün-schwarzem Karo. Er hatte in der Illustrierten einen Jüngling mit dieser Ausstattung abgebildet gesehen. Lukas hatte sich auf Weihnachten einen solchen «Chlüpplisack» gewünscht. Seine Eltern hatten ihren Ohren nicht getraut, aber sie hatten ihm den Wunsch erfüllt. Bloss war dann die Wirkung bei weitem nicht so durchschlagend gewesen, wie er sich eingebildet hatte. Das heisst, eigentlich war sie vollständig ausgeblieben, und so war es mit Lukas Zanggers Interesse an der Herrenmode rasch wieder vorbei gewesen.
Zangger konnte nichts gegen solche Erinnerungen tun, er wollte auch gar nicht. Es waren wehmütige, angenehm schmerzliche Seelenzustände. Wie eine Fussmassage, die weh- und zugleich guttat.
«Du trauerst deiner Jugend nach», war Seidenbasts Kommentar gewesen, als er ihm einmal von seinen Retrotagen erzählte. «A la recherche du temps perdu.»
«Vielleicht», erwiderte Zangger. Er mochte es nicht besonders, wenn sein Freund ihn analysierte. Und er wollte keinen Vortrag über Marcel Proust hören.
«Das alte Lied», sagte Seidenbast damals, unerwartet nachsichtig. «Wer könnte es nicht singen, wenn er einmal so alt ist wie wir?»
«Du sagst es.»
Sie schwiegen beide eine Weile.
«Die perfekte Methode, die Gegenwart zu verpassen», lautete Seidenbasts nüchterner Schluss.
Zangger hatte sich fast gerüffelt gefühlt.
Aber es stimmte: Auch jetzt hätte er vor lauter Kindheitserinnerungen beinahe die Gegenwart verpasst. Er gab sich einen Ruck. Denn das hier war etwas anderes. Nicht Herrenmode stand heute auf dem Programm, sondern Trekkingausstattung. Da war keine Kleiderverkäuferin, die Zangger einredete, dieses oder jenes Modell stehe ihm vorzüglich. Kein Verkäufer, der ihn belehrte, man trage es heute so, wenn er fand, die Hose sei zu weit oder die Jacke zu eng. Nein, beraten wurde Zangger von seinen Söhnen.
«Nimm die», meinte Fabian, nahm seinem Vater den moosgrünen Lumber aus der Hand und reichte ihm eine signalrote Goretexjacke. «Mut zur Farbe», war sein Kommentar. «Und damit man dich findet», lachte er, «wenn du irgendwo abstürzt.» Der Pfadfinder in der Familie riet ihm zu Funktionsunterwäsche, einem Fleece, das er auch unter der Windjacke tragen konnte, und einem Paar Regenhosen.
Tom war für die technischen Dinge zuständig. Er legte grossen Eifer an den Tag, Zangger vom Segen der modernen Elektronik zu überzeugen. Ohne Erfolg. Er hatte gehofft, seinen Vater endlich zum Kauf eines Handys bewegen zu können. Zangger wollte nach wie vor keines. Auch keinen Reiseradiowecker mit weltweitem Kurzwellenempfang. Und kein Solarladegerät.
«Aber deinen Laptop nimmst du doch mit?», vergewisserte sich Tom.
«Bestimmt nicht», sagte Zangger, «ich mache Ferien.»
«Du bist wirklich ein Dinosaurier, Pa.»
«Wie meinst du das? Als Kompliment?»
«Vom Aussterben bedroht, das meine ich. Unfähig, dich den neuen Lebensbedingungen anzupassen.»
Zangger lachte. Er liebte diese Frotzeleien. Er fühlte sich gleich ein bisschen jünger. Aber Tom setzte eine besorgte Miene auf.
«Ich weiss nicht, Pa», meinte er und wiegte den Kopf. «Ohne Kommunikationstool auf ein Trekking? Es geht zwar nur nach Schottland, aber auf den Caledonia Hilltreks seid ihr tagelang unterwegs, weit ab von der nächsten Strasse oder Siedlung. Stimmt doch, oder?»
Zangger gab ihm recht.
«Und das ohne Handy? Das ist doch verantwortungslos.»
Verantwortungslos, dachte Zangger, das sagt sonst der Vater zum Sohn.
«Nimmt Ma wenigstens ihres mit?», wollte Tom wissen. «Wer weiss», wog er dann ab, «vielleicht habt ihr nicht einmal Empfang. Ihr solltet ein Walky-Talky kaufen, für den Fall, dass ihr euch aus den Augen verliert.»
Die Fürsorglichkeit seines Sohns rührte Zangger. Auf das Walky-Talky ging er trotzdem nicht ein. Dafür kaufte er die Halogenstirnlampe, die ihm Tom empfohlen hatte. Auch den neuen Leatherman mit Kombizange und Schere, denn gegen Mechanik hatte er nichts einzuwenden. Bei der Campingtischlampe blieb er stur. Das batteriebetriebene LED-Gerät kam nicht in Frage, da würde er lieber die alte Petroleumlampe wieder ausgraben.
Zangger hatte nicht mehr oft Gelegenheit, mit seinen Söhnen in die Stadt zu gehen. Umso mehr genoss er den Anlass. Nach dem Einkauf im Snow-n-Sand lud er sie, wie in früheren Zeiten, zu einem Hamburgerfrass ein. Mona wäre entsetzt gewesen, aber den drei Männern schmeckte der Junkfood wie ein Gourmetmenü. Danach schlenderten sie durchs Niederdorf. Tom drehte sich nach jeder hübschen jungen Frau um. Umgekehrt, das nahm Zangger mit einem gewissen Stolz wahr, zogen die ungleichen Brüder die Blicke der jungen Mädchen auf sich. Wenn er früher mit seinen Töchtern, die ein paar Jahre älter waren als die Zwillinge, auf einem Stadtbummel gewesen war, hatte er es weniger entspannt erlebt: Die flanierenden Männer hatten Claudia mit begehrlichen Augen gemustert, aber von Mona hatte keiner Notiz genommen. Und das hatte, wer immer dabei war, über kurz oder lang büssen müssen. Man musste sich jederzeit darauf gefasst machen, dass Mona auf offener Strasse oder im Restaurant eine hässliche Szene veranstaltete, die Mutter beschimpfte und sich unter Getöse davonmachte. Oder die Schwester vor den unbekannten Verehrern verhöhnte. Dass sie selber mit ihrem Gesichtsausdruck und ihrer Aufmachung alles dazu beitrug, auf Ablehnung statt auf Sympathie zu stossen, das hatten ihr Tina und Zangger umsonst klar zu machen versucht.
Vor der Condomeria blieben die Burschen stehen und sahen sich, ohne Rücksicht auf ihren Vater, die Auslagen an.
«Brauchst du etwas?», neckte Fabian seinen Bruder. «Ich hols dir, wenn du dich nicht rein traust.»
Tom versetzte ihm mit dem Ellbogen einen Puff.
Sie gingen weiter.
Ein Mann trat aus einem Haus. Den kenne ich doch, dachte Zangger. Es war Herr Knüttl. Zangger hatte es sich abgewöhnt, als Erster zu grüssen, wenn er nicht sicher sein konnte, ob das der andern Person willkommen war. Denn Patienten wollten in der Öffentlichkeit lieber nicht von ihrem Psychiater gegrüsst oder gar angesprochen werden. Er hatte deshalb gelernt, die Sekunde zu warten, die es dem andern erlaubte, so zu tun, als habe man sich gar nicht gesehen. Herr Knüttl hatte Zangger sehr wohl gesehen, denn seine Augen verrieten einen leisen Schreck und er fuhr mit der Hand blitzschnell über seinen Hosenladen. Eine Reflexbewegung, die er selber vermutlich nicht wahrnahm. Er tat, als habe er Zangger nicht gesehen. Zangger war es recht. Aha, dachte er, Seidenbast hat den Nagel wieder einmal auf den Kopf getroffen: Knüttl hat bereits eine andere, eine von der käuflichen Sorte. Aber länger mochte er sich nicht mit ihm befassen. Leid tut mir nur seine Frau, dachte er noch, dann schob er den unerfreulichen Fall beiseite.
Durchs Oberdorf schlenderten sie zum Bellevue weiter. Zangger wäre bei dem frühsommerlichen Wetter gern mit seinen Söhnen auf der Seepromenade spazieren gegangen. Die beiden wollten aber lieber ins Kino. Nach der Vorstellung genehmigten sie sich eine Bratwurst, die sie im Stehen verdrückten, dann verabschiedeten sich die beiden mit einer nonchalanten Handbewegung für den Rest des Abends von ihm. Er sah ihnen nach. Stolz, ein wenig wehmütig und ein kleines bisschen neidisch. Das alte Lied, dachte er. A la recherche du temps perdu.
5.
Auf einem der Stühle im Vestibül vor Zanggers Sprechzimmer sass eine junge Frau. Sie blickte auf, als Phil herauskam. Er spürte sofort, dass er ihr gefiel. Er genoss diese halb erschreckten, halb staunenden Blicke von Frauen. Sie hatte blaue Augen und einen nicht eben unschuldigen Blick. Volles, blondes, nackenlanges Haar und einen frischen Teint.
Schwedin, dachte er.
Er sah sie eine Spur intensiver an, als es der Wartezimmersituation entsprochen hätte, gab aber Acht, dass in seinem Blick nichts Anzügliches war. Er grüsste sie höflich und ging an ihr vorbei hinaus. Draussen schien die Sonne. Er fand, die Arbeit bei MacMax könne warten. Er setzte sich auf die Bank neben dem Brunnen im kleinen Park gleich neben Zanggers Praxis. Nach einer Stunde kam die Frau – in Bluejeans und weisser Jacke, einen Herrenhut auf dem Kopf – heraus und nahm den kleinen Fussweg quer durch den Park. Sie war weniger hoch gewachsen, als er sich vorgestellt hatte, und etwas molliger. Tolle Figur, dachte er. Als sie Phil erblickte, lächelte sie überrascht. Er sagte Hallo, und als sie, keine fünf Meter von ihm entfernt, ihren Schritt verlangsamte, rückte er ein wenig zur Seite und deutete neben sich auf die Bank. Sie blieb stehen, zögerte eine Sekunde und kam dann näher.
«Hat er Sie in die Mangel genommen?», fragte er.
Sie setzte sich neben ihn.
«Ach, es geht», lachte sie. «Und Sie?»
«Easy», lachte Phil zurück.
«Easy Therapiestunde?» S-Tunde, sagte sie.
Dänin, dachte er, nicht Schwedin.
«Nicht Therapie», erwiderte er. «Supervisionsstunde. Doktor Zangger ist mein Supervisor. Ich bin sein Supervisand.»
Die junge Frau machte grosse Augen.
«Dann sind Sie selber Psychotherapeut», stellte sie fest. «Oder Psychiater?»
«Beides», sagte er und erklärte ihr bereitwillig den Unterschied, den sie bislang nicht ganz begriffen hatte. Da sie danach fragte, sagte er ihr, er arbeite in der Psychiatrischen Universitätsklinik.
«Könnte ich Sie notfalls dort anrufen?», fragte sie, nachdem sie ihn eine ganze Weile von der Seite her angesehen hatte. «Doktor Zangger schliesst vorübergehend seine Praxis. Für mehrere Wochen, das wissen Sie ja selber. Man weiss nie, ob man nicht plötzlich jemanden braucht. Und wenn Sie sein Supervisand sind, arbeiten Sie vermutlich gleich wie er.»
«Das stimmt. Nur, zurzeit bin ich im Urlaub. Eine wissenschaftliche Studie, wissen Sie. Darum kann ich es mir leisten, hier zu sitzen», sagte er lachend.
«Gut für Sie. Und im Notfall?», wollte sie wissen. «Wären Sie erreichbar?»
Für den Notfall gab er ihr seine Handynummer.
«Danke», sagte sie und tippte die Nummer in ihr eigenes Handy ein. «Sie sind Doktor …?»
«Ach was», wehrte er ab. «Lassen Sie den Doktor. Wexler ist mein Name, Phil Wexler.»
Wexler hatte der Postbote in der Talschaft Lugnez geheissen. Ernesto Wexler, ein Zugewanderter mit Zigeuneraugen, der den Frauen im Tal den Kopf verdrehte. Phil war einmal zum Schluss gekommen, dass er sein leiblicher Vater sein könnte. Er hatte sich deshalb berechtigt gefühlt, seinen Namen zu führen, wenn es ihm in den Kram passte. Als Maturand hatte er sich einen Schülerausweis auf den Namen Filippo D. Wexler gebastelt. Als seine Mitschüler davon Wind bekamen, trug ihm das einen Spitznamen ein: Pippo. Er hatte nichts dagegen gehabt, im Gegenteil. Pippo gefiel ihm weit besser als sein Taufname. In Zürich schien ihm Phil jedoch passender zu klingen.
«Linda Larsson», erwiderte sie. «War nett, mit Ihnen zu plaudern. Ich muss weiter», sagte sie und erhob sich. Sie zögerte, und für einen Augenblick sah es aus, als wolle sie ihm die Hand reichen. «Auf Wiedersehen», sagte sie dann bloss. «Und viel Erfolg.»
«Erfolg?»
«Mit Ihrer Studie.»
«Ach so, danke.»
Phil winkte ihr lässig nach.
Dann schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn. Teufel auch!, dachte er. Schon wieder!
Er zog ein schwarzes Wachstuchheft aus der Jacke, die neben ihm auf der Bank lag. Er hatte sich vorgenommen, Zanggers Anweisungen strikt zu befolgen. Er hatte Zangger denn auch gleich zu Beginn der heutigen Stunde gesagt, dass das mit Nicole nicht stimme. Dass er gar keine Freundin habe. Sondern ihn, Zangger, angeschwindelt habe, weil er ihn nicht ein zweites Mal habe enttäuschen wollen, nachdem er ihm schon die Angeberei mit den Heiratsplänen hatte eingestehen müssen.
Jetzt notierte er die Begegnung mit Linda Larsson, und was er ihr vorgeflunkert hatte, in sein Heft. Als Motiv nannte er: Eindruck machen. Es blieb noch die Frage nach der Scham. Phil brauchte nicht lange zu überlegen. Nein, trug er ins Tagebuch ein. Er schämte sich keine Spur. Im Gegenteil, es machte ihm Spass. Er schloss das Heft, versorgte es in der Jacke und schickte sich an zu gehen.