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Da sah er Zangger aus der Praxis kommen. Er zog die Haustür hinter sich zu, setzte seinen Hut auf und ging durch den winzigen Vorgarten auf die Strasse hinaus. Abrupt blieb er stehen, griff in seine Manteltasche, ging zum Haus zurück und schloss die Tür ab. Dann öffnete er das Zeitungsfach unter dem Briefkasten und langte hinein. Jetzt trat er wieder auf die Strasse und eilte davon.
Ich glaubs nicht!, dachte Phil. Versteckt er dort den Praxisschlüssel? Er erhob sich, schlenderte zum Haus hinüber, drückte pro forma auf die Klingel und tat, als warte er darauf, eingelassen zu werden. Dann öffnete er das Zeitungsfach und tastete die Wände des Fachs ab. An der oberen Innenwand fühlte er den kleinen, magnetischen Behälter, löste ihn mit einem Ruck von der Blechwand und steckte ihn ein. Zum nächsten Mister Minit waren es keine zehn Minuten zu Fuss. Unterwegs zog Phil den Behälter aus seiner Hosentasche und öffnete ihn. Gewöhnlicher alter Kaba, stellte er fest, kein codierter. Das geht. Der Mann an der Mister-Minit-Theke besah sich den Schlüssel genau. Dann setzte er sich an seine Maschine. Die Anfertigung des Nachschlüssels dauerte keine drei Minuten. Phil versorgte das Original im Behälter und steckte die Kopie in sein Portemonnaie. Dann spazierte er zurück, deponierte den Behälter mit Zanggers Hausschlüssel, wo er ihn gefunden hatte, und machte sich auf den Weg zu MacMax.
Er schaute nach, ob dringende Dinge auf ihn warteten, aber viel gab es nicht zu erledigen. Linda Larsson ging ihm während der ganzen Zeit nicht aus dem Kopf. Die Frau gefiel ihm. Sie gefiel ihm noch besser als Nicole.
Tja, Nicole, dachte Phil. Er war noch zwei-, dreimal in den Schweizerhof gegangen – nicht zum Frühstück, das wäre zu gewagt gewesen – und hatte nach der niedlichen Praktikantin Ausschau gehalten. Einmal war er nachmittags, als einziger männlicher Gast unter lauter älteren Damen, die ihn unverhohlen musterten und diskrete Signale aussandten, zum Afternoon Tea gegangen. Nicole war tatsächlich dort gewesen und hatte ihn bedient. Er hatte nicht den Eindruck gewonnen, dass sie ihn wiedererkannte. Das hatte ihn ein klein wenig gekränkt. Er hatte den Studenten, nicht den Hotelgast, gemimt und hatte eine ganze Weile mit ihr geplaudert. Missbilligend hatten die Damen rundum in ihren Teetassen gerührt. Er hatte Nicole die Würmer aus der Nase gezogen und einiges über sie erfahren. Sie war erst achtzehnjährig. So gern er sich unter anderen Umständen auf sie eingelassen hätte, ein unerfahrenes Mädchen kam jetzt nicht in Frage. Dafür musste man sich Zeit nehmen, und die hatte er leider nicht. Er hatte deshalb beschlossen, auf weitere Aktionen zu verzichten und das schöne Kind abzuschreiben.
Linda gehörte in eine andere Liga. Sie brauchte er auch nicht in einem Hotel aufzuspüren. Er konnte sie ganz einfach nach ihrer Therapiestunde bei Zangger abfangen. Oder darauf warten, dass sie ihn anrief.
Die muss ich ins Bett kriegen, dachte er. Die koche ich weich, wenigstens für einen One-Day-Stand. Denn Night lag vorderhand nicht drin. Er hatte schon eine ganze Weile keine Freundin mehr gehabt. In den vergangenen sechs, sieben Monaten hatte er weiss Gott keine Gelegenheit gehabt, eine kennen zu lernen, geschweige denn, eine abzuschleppen. Er musste sich mit regelmässigen Abstechern nach Oerlikon behelfen. Die Girls an der Langstrasse waren ihm zu billig, diejenigen in Unterstrass und Wollishofen zu teuer. Eine feste Freundin wäre ihm aber lieber gewesen.
Um fünf schob Phil seine American Express Card zusammen mit Zanggers Praxisschlüssel an ihren Platz und klemmte das vor zwei Wochen eröffnete Lügenjournal unter der Schublade fest. Diese Dinge konnte er nicht gut in sein derzeitiges Logis mitnehmen. Im Bahnhof Hardbrücke kaufte er sich zwei Zeitschriften, «Psychologie Heute» und den Spiegel, der eine Serie über moderne Psychotherapieverfahren brachte. Er dachte keinen Augenblick daran, die Magazine mitzunehmen ohne zu zahlen. Der gelegentliche Tagi-Klau war mehr Sport als Notwendigkeit, und wegen einer gedankenlos unter den Arm geklemmten Zeitung würde man ihm schon keinen Strick drehen. Aber bei einem richtigen Ladendiebstahl erwischt zu werden, konnte er sich zurzeit ganz und gar nicht leisten.
In seinem Logis legte sich Phil auf die Pritsche und sah an die Zellendecke hinauf. Er neigte nicht zum Hadern. Im grossen Ganzen vermied er es, über sein Leben nachzudenken. Ein Psychiater hatte einmal zu ihm gesagt, er sei ein Meister im Verdrängen. Na und? Er schmiedete eben lieber Zukunftspläne als über die Vergangenheit zu grübeln, die er ohnehin nicht ändern konnte. Er war mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden. Auch wenn ein paar Dinge dumm gelaufen waren. Das mit seiner Mutter zum Beispiel und das mit dem alten Caduff, doch darüber wollte er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Die Sache, deretwegen er jetzt acht Monate sitzen musste, hätte eine Erfolgsstory werden können. Doch der Crash hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Reines Pech. Sein Chef bei der Bank Wittmann hatte gefunden, er habe Talent, und hatte ihn energisch gefördert. Bald liess er Phil die Depots einiger vermögender Privatkunden verwalten. Einer hielt grosse Stücke auf ihn und liess ihm in der Bewirtschaftung seines Portfolios freie Hand. Phil hatte ihm nämlich einmal eine Hightechaktie und einen EmergingMarkets-Fonds empfohlen, die beide innert Wochen um vierzig Prozent gestiegen waren. Das hatte dem Kunden gewaltig imponiert. Dass Phil kurz darauf auf dessen Depot fast Zweihunderttausend Verlust einfuhr, konnte man ihm bestimmt nicht ankreiden. Das war die Börse gewesen, hätte jedem passieren können. Nur hatte er dummerweise die Idee gehabt, seinem Mandanten den Verlust zu verschweigen. Er wollte ihn nicht beunruhigen. Über Wochen und Monate vertröstete er ihn mit optimistischen Prognosen, schickte ihm beschönigte Depotauszüge und auch sonst nicht ganz einwandfreie Dokumente. Derweil spekulierte er mit den in seinem Depot verbleibenden Werten weiter. Einzig in der Absicht, den erlittenen Verlust wettzumachen. Er hoffte die ganze Zeit, nein, er war absolut überzeugt, dass er seinem Mandanten schliesslich einen fetten Gewinn werde präsentieren können. Denn die Anerkennung dieses Kunden war Balsam für seine Seele. Er hatte bei ihm das Image eines gewieften Börsencracks, und das wollte er auf keinen Fall verlieren. Wie hätte der Kunde sich gefreut, wenn sich der Wert seines Depots verdoppelt hätte! Dumm gelaufen war es dann bloss insofern, als am Schluss nichts mehr übrig blieb, womit er hätte spekulieren können. Resultat: Totalverlust, mehr als zwei Millionen Franken. Betrug war es nicht, das bestätigte man ihm vor Gericht ausdrücklich. Er hatte keinen Franken in die eigene Tasche abgezweigt. Selbst der Staatsanwalt staunte: «Sie hatten ja nicht einmal etwas davon. Wieso tun Sie denn so etwas?» Nun, im psychiatrischen Gutachten stand etwas von Geltungsdrang. Vielleicht auch von Geltungssucht. In einem späteren Gutachten, das wegen der anderen Sache in Auftrag gegeben worden war, hiess es, er leide an gelegentlichen dissoziativen Zuständen. Einerlei, er wurde bloss wegen Urkundenfälschung und ähnlichen Delikten verurteilt. Und zwar zu einer bedingten Haftstrafe. Ausserdem wurde ihm eine Psychotherapie aufgebrummt. Dummerweise passierte ihm während der Bewährungsfrist die andere Panne: Er schlug einem, der ihn einen Hurensohn schimpfte, die Nase ein. Der Richter hätte ihm eine weitere bedingte Strafe auferlegen können. Aber er stufte ihn als unverbesserlich ein, ortete Rückfallgefahr und verweigerte ihm den bedingten Vollzug. So musste er jetzt eine Gesamtstrafe von zwölf Monaten absitzen. Gottseidank bloss in Halbgefangenschaft. Die Psychotherapie konnte deshalb ambulant erfolgen. Irgendwann würde er Zangger um einen wohlwollenden Bericht bitten. Ein Drittel der Strafe würde ihm bestimmt erlassen werden, denn er hielt sich im Knast vorbildlich. Toggweiler würde ihm bestimmt das allerbeste Zeugnis ausstellen.
Diese Perspektive vor Augen, widmete sich Phil in seinem kurzen Rückblick anderen erfreulichen Dingen in seinem Leben. Zum Beispiel der Sache mit seiner American Express Card. Die durfte er mit Fug und Recht als ein Geschenk des alten Herrn Zulauf betrachten. Er hatte ihn wie gewohnt in dessen Cadillac an den Vierwaldstättersee chauffiert. Sie liessen sich auf dem Bürgenstock einen gepflegten Lunch servieren, unternahmen zusammen einen kleinen Spaziergang und genehmigten sich danach Kaffee und Kuchen und ein Gläschen Cream Sherry. Phil bezahlte im Speisesaal und im Salon des Parkhotels, im Souvenirshop und an der Tankstelle mit Zulaufs Karte und unterschrieb auch gleich für ihn. Das entsprach zwar nicht ganz dem Auftrag, den er ein Jahr zuvor von Zulaufs Sohn entgegengenommen hatte. Doch Herrn Zulauf senior war Phils Hilfestellung durchaus recht. «Machen Sie das, bitte», bat er ihn mehrmals. «Wissen Sie, ich zittere so.» Zuerst lehnte Phil ab, und Herr Zulauf unterzeichnete mit Müh und Not den Zettel. Einmal aber fiel Phil auf, dass der alte Herr mit «Zauflauf» unterschrieb. Ein paar Wochen später konnte der Greis seinen Namen nicht mehr buchstabieren und nach einem weiteren Monat wusste er nicht einmal mehr, wie er selber hiess. Es blieb Phil gar nichts anderes übrig, als in Zulaufs Namen für die Belastungen von dessen Kreditkarte zu unterschreiben. Denn Bargeld trug der Alte auf Anweisung seines Sohnes keines auf sich. Zulaufs Namenszug nachzuahmen war keine Kunst. Als sie zum letzten Mal vom Bürgenstock in die Altersresidenz am obern Zürichsee zurückkehrten und in Zulaufs luxuriösem Apartment ankamen, sagte dieser: «Behalten Sie das, das ist für Sie.» Und damit drückte er Phil die Kreditkarte, die dieser ihm zurückgeben wollte, wieder in die Hand. Zusammen mit einer Tafel Schokolade, die er auf seinem antiken Sekretär für ihn bereitgelegt hatte. Wenig später erreichte Phil die Nachricht, Herr Zulauf sei ins Pflegeheim Morgenthal verlegt worden und Herr Caduffs Dienste würden vorläufig nicht mehr benötigt. Das Morgenthal verdankte seinen Ruf der Pflege von Alzheimerkranken. Zulaufs Sohn residierte in Monte Carlo und kam nur sporadisch in die Schweiz zu Besuch. Ob er sich noch um die Angelegenheiten seines Vaters kümmerte und ob der alte Herr überhaupt noch am Leben war, wusste Phil nicht. Auf alle Fälle hatte es bei seinen gelegentlichen Einkäufen mit Zulaufs American Express Card bis anhin keine Probleme gegeben.
Phil stand von seiner Pritsche auf, ging ein paar Mal in seiner Zelle auf und ab und setzte sich an den kleinen Tisch vor dem vergitterten Fenster. Er nahm «Psychologie Heute» zur Hand und blätterte es durch. Der Artikel über Stresshormone und Depression interessierte ihn nicht besonders. Derjenige über Neues zur Menopause noch weniger. Da fand er den Beitrag im Spiegel über Tantrische Sexualität schon anregender. Den Test «Sind Sie ein guter Liebhaber?» würde er am Wochenende machen, da musste er jeweils viel Zeit totschlagen.
In sechs Wochen, das stand fest, würde er draussen sein. Dann wäre Schluss mit den brasilianischen Girls, die konnte er sich gar nicht mehr leisten. Dann würde er eine Freundin haben. Und die würde Linda heissen. Da brauchte er natürlich eine eigene Wohnung. Um sich die leisten zu können, benötigte er einen gut bezahlten Nebenjob, und zwar sofort. War im heutigen Tages-Anzeiger nicht eine Kleinannonce gewesen, die er sich angekreuzt hatte? Er griff nach der Zeitung und schlug sie auf:
«Student oder Doktorand mit EDV-Kenntnissen gesucht. Vielseitige, anspruchsvolle Tätigkeit. Halbtags oder abends. Buch&Wein, das Fachgeschäft im Seefeld.»
6.
«Ich muss dir etwas sagen», sagte Tina beim Abendessen.
«Ja?», machte Zangger und legte seine Gabel auf den Teller.
«Es ist nicht sicher, ob ich mit dir nach Schottland komme.»
«Wie bitte?», brachte er nur heraus.
«Es tut mir leid, Luc», sagte sie und hob entschuldigend die Hände. «Wir müssen vielleicht umdisponieren. Das kommt jetzt bestimmt unerwartet: Afrika statt Schottland.»
«Afrika?!»
Er hatte immer eine Afrikareise machen wollen, Tina hatte auf Schottland bestanden. «Ist das dein Ernst?», rief er. Sein Herz tat einen Freudensprung. «Das mit dem Umdisponieren wird aber nicht ganz einfach sein», wandte er ein. «Wir müssen die ganze Planung von vorne beginnen.»
«Nicht wir», erwiderte Tina. «Ich. Ich fliege, so wie es aussieht, nach Afrika. Nicht mit dir, tut mir leid. Allein. Und es ist keine Ferienreise», sagte sie. «Es ist ein Notfall.»
Zangger konnte es kaum fassen.
Der Tag hatte angefangen wie jeder andere. Tina hatte ihren Ausschlafmorgen und war liegen geblieben. Zangger hatte mit Tom gefrühstückt. Dann war er in seine Praxis gefahren. Vormittags hatte er Sprechstunde gehabt. Um acht war ein neuer Patient gekommen, ein Rechtsanwalt mit Panikattacken. Um neun war Frau Zindel an der Reihe gewesen.
Frau Zindel hatte sich darüber beklagt, dass man ihre Wohnung wieder durchsucht habe: Die Zahnpasta sei andersherum im Glas gestanden, das habe sie sofort gemerkt. Man sei ins Zimmer ihres verstorbenen Manns eingedrungen. Dort ständen alle Sachen seit seinem Tod, seit zwölf Jahren also, am gleichen Platz, und niemand ausser sie selber dürfe das Zimmer betreten. Aber was habe sie feststellen müssen? Auf dem Kissen auf seiner Couch hätten Haare gelegen. Frau Zindel öffnete ihre Handtasche, zog einen Briefumschlag heraus, entnahm diesem ein unsichtbares Etwas, platzierte es auf ihrer Handfläche und streckte Zangger die Hand entgegen. Er musste sich vorbeugen. Auf Frau Zindels Hand entdeckte er ein graues Haar. Frau Zindel war eine früh ergraute Witwe.
Ob das Haare seien oder nicht, wollte Frau Zindel wissen.
Zangger bestätigte, dass er ein Haar auf ihrer Hand sehe.
Eben, antworte Frau Zindel, da habe er den Beweis dafür, dass sich jemand auf die Couch gelegt habe. Aber da sei noch etwas: Jemand habe Treuemarken in ihr Markenheft eingeklebt.
Was daran schlimm sei, wollte Zangger wissen.
Verkehrt eingeklebt, ereiferte sich Frau Zindel. Coop-Marken ins Treuebüchlein der Drogerie! Und noch etwas: Die Säume ihrer Vorhänge lägen drei Zentimeter höher als zuvor. Ihre Vorhänge hätten bis zum Fenstersims gereicht, jetzt habe es zwischen Sims und Saum eine Lücke. Die sei früher nicht gewesen. Die Vorhänge seien eingegangen, wie übrigens auch ihr beiges Wolljäckchen. Jemand habe die Sachen in ihrer Abwesenheit gewaschen. Kaputtgewaschen, präzisierte sie. Aber das sei noch nicht alles: Es habe Kratzer auf dem Küchentisch.
Zangger schickte sich an, etwas zu sagen.
Nein, keine alten Kratzer, kam ihm Frau Zindel zuvor. Sie könne sie sehr wohl von den Kratzern unterscheiden, die von ihrer Arbeit am Küchentisch herrührten. Es seien frische Kratzer und sie seien absichtlich gemacht worden. Mit einer Nagelfeile oder vielleicht mit einer Nagelschere. Gestern oder vorgestern Nacht, als sie schlief. Ob er jetzt sage, sie habe Wahrnehmungsstörungen, wie ihr letzter Psychiater.
Nein, sagte Zangger, nicht Wahrnehmungsstörungen.
Gut, dann solle er das bitte der Polizei sagen. Als sie gestern nämlich Anzeige habe erstatten wollen, habe man ihr gesagt, sie solle besser einen Psychiater aufsuchen.
Zangger sagte, er nehme an, sie habe völlig zutreffende Beobachtungen gemacht. Nur glaube er, dass es dafür andere Erklärungen gebe.
Er glaube ihr also nicht, fragte Frau Zindel ärgerlich. Dann habe sie auch kein Vertrauen mehr, sagte sie, raffte ihre Sachen zusammen und stand von ihrem Sessel auf.
Zangger lud sie ein, wieder Platz zu nehmen. Er könne sich einfach nicht vorstellen, setzte er ihr auseinander, dass jemand sie auf diese Weise plagen wolle. Sie sei doch ein friedfertiger und liebenswürdiger Mensch. Das verstehe sie eben auch nicht, sagte sie kopfschüttelnd. Ihre aggressive Stimmung war nicht mehr spürbar. Dass sie sich gestresst fühle, könne er gut verstehen, sagte Zangger weiter. Diese Dinge würden ihre Nerven natürlich arg strapazieren. Allerdings, bestätigte Frau Zindel, aber er solle ihr ja nicht wieder mit seinen Medikamenten kommen. Sie habe sein Rezept zwar in der Apotheke eingelöst, aber schlucken werde sie die Pillen nicht.
Zangger war sich ziemlich sicher, dass der Frau mit dem verschriebenen Neuroleptikum zu helfen wäre. Aber für heute war sein Versuch, Frau Zindel doch noch zur Einnahme dieser Pillen zu bewegen, von der Patientin selber im Keim erstickt worden. In anderen Fällen war er auch schon resoluter vorgegangen. Doch Frau Zindel war kein Notfall, es gab keinen Grund, sie zu einer medikamentösen Behandlung zu zwingen. Was Zangger an ihren Wahnideen faszinierte, war deren Kleinkariertheit. Andere Kranke wähnten, von der Mafia verfolgt zu werden. Bildeten sich ein, von adligem Geblüt zu sein. Waren überzeugt, man bestrahle sie mit geheimen, vom CIA installierten, extra zu ihrer Vernichtung konstruierten Geräten. Oder man höre ihre Gedanken ab, um sie via CNN aller Welt bekannt zu machen. Frau Zindels Wahnideen dagegen drehten sich um Zahnpastatuben, Rabattmarken und Vorhangsäume. Ihr Wahn spiegelte ein von Bescheidenheit und Kargheit geprägtes Selbst- und Weltbild. Zangger dachte, für heute hätten sie genug über Probleme gesprochen.
«Wie gehts Ihren Vögeln?», erkundigte er sich.
Frau Zindels Augen begannen zu leuchten. Sie hielt in ihrer Wohnung zwei Nymphensittiche. Ihr Ein und Alles, denn mit Menschen pflegte sie keinen Kontakt.
Zangger liebte es, sich von Patienten über Dinge aufklären zu lassen, von denen er nichts verstand. Alles, was er über Nymphensittiche wusste, hatte er von Frau Zindel erfahren.
Um zehn war eine depressive Lehrerin an der Reihe und um elf ein Familienvater mit Alkoholproblemen. Nachmittags bereitete Zangger das Burnout-Seminar vor, das letzte, das er noch vor der Sommerpause halten würde, und um fünf schlug er sich mit dem Ehepaar Knüttl herum. Zur Erholung schaute er nach der abendlichen Sprechstunde bei Seidenbast herein, der seinen Laden bereits geschlossen hatte und zuhause war.
«Siehst du?», sagte Seidenbast ruhig, nur seine Augen blickten triumphierend. «Ich habs gewusst. Monsieur bereitet seinen Absprung vor.»
Frau Knüttl hatte in der Sitzung gesagt, ihr Mann habe ihr die Geschichte von einem Mann erzählt, der nur rasch Zigaretten holen ging, aber von seinem Gang zum Kiosk, gleich um die Ecke, nie mehr zurückkam. Mit bösem Unterton habe er gesagt, so etwas könnte ihr auch passieren. Sie habe das als Drohung aufgefasst.
«Bitte sei ehrlich, Liebling», hatte Herr Knüttl gesäuselt. «Sag Herrn Zangger, wie es wirklich war. Ich hatte nämlich überhaupt keinen bösen Unterton. Und auch keine Drohung ausgesprochen. Sondern was? Sag!»
Frau Knüttl starrte ihn wortlos an. Herr Knüttl musste es selbst richtigstellen: «Ich habe dir eine lustige Geschichte erzählt, die ich in Reader’s Digest gelesen hatte. Von einem, der nur rasch Zigaretten holen ging. Ich war ganz einfach amüsiert. So war das. Und meine Bemerkung zum Schluss, das war doch nur ein Scherz gewesen.»
«Aber ein schlechter», sagte Zangger.
Herr Knüttl liess sich bloss verächtlich über das Theater aus, das seine Frau und Doktor Zangger wegen einer harmlosen Bemerkung veranstalteten. Das Paargespräch war einmal mehr ergebnislos geblieben.
«Er schüchtert seine Frau ein», meinte Seidenbast. «Und kann jederzeit behaupten, er habe es gar nicht so gemeint. Wenn er aber abhaut, soll ihm niemand vorwerfen können, er habe sie nicht gewarnt. Er ist eine ganz fiese Figur.»
Es tat Zangger gut, seinen Freund so unverfroren urteilen zu hören.
«Und was ist mit deinem famosen jungen Patienten?», fragte Seidenbast. «John, sagtest du? Der mit der schweren Kindheit.»
«Er ist ein Schwindler», sagte Zangger.
«Aber, Lukas», sagte Seidenbast, gespielt vorwurfsvoll. «So spricht ein Psychiater doch nicht über einen Patienten.»
«Hat er selbst gesagt.»
«Ach ja? Dann hatte ich also recht?»
«Ich weiss nicht, ob er mich an der Nase herumführen will», erwiderte Zangger. «Wenn, dann habe ich ihm den Spass vielleicht ein bisschen verdorben.»
«Dann ist es ja gut», meinte Seidenbast.
Zangger trank sein Gläschen aus und fuhr nach Hause. Und beim Nachtessen eröffnete ihm Tina, dass sie möglicherweise nicht mit nach Schottland komme. Sondern nach Afrika fliege. Nach Afrika! Es sei aber keine Ferienreise. Sondern ein Notfall.
«Ein Notfall?», fragte Zangger.
Tina arbeitete in einem Büro für Unternehmensberatung, dessen Klientel aus Nonprofit-Organisationen bestand. Sie war für das Worldwide Women’s Net zuständig, das unter anderem in Mosambik ein Schlupfhaus finanzierte. Im Haus für junge Mädchen in Maputo kriselte es gewaltig, und man hatte ihr Büro nach einer Expertin gefragt, die an Ort und Stelle Unterstützung bieten könne. Es sei dringend, denn es bestehe Gefahr, dass die Spendengelder versiegen würden. Ohne lange zu überlegen, hatte sich Tina selbst für die Mission angeboten. In ihrem früheren Job hatte sie schon vergleichbare Aufgaben übernommen. Krisenintervention in einer Schulklasse mit gewalttätigen Knaben oder Mädchen. Teamsupervision nach einem grösseren Krach in der Leitung eines Lehrlingsheims und solche Dinge. Abgesehen von der Studentenreise nach Marokko, auf der sie Lukas Zangger kennen gelernt hatte, war sie noch nie in Afrika gewesen, aber alles in allem traute sie sich die Sache zu.
«Hast du schon zugesagt?», wollte Zangger wissen.
«Nein. Aber ich glaube, ich sollte.» Dann sah sie ihm ins Gesicht und fragte: «Sag ehrlich, wäre das schlimm für dich?»
«Nicht, wenn du mich mitnimmst», lachte er. «Dann wären wir endlich zusammen auf Afrikareise.»
«Das geht leider nicht. Aber glaub mir, Luc, es hat nichts mit dir zu tun, wenn ich allein reise. Das ist Frauensache.»
Afrika Frauensache? Das gibts doch nicht!, dachte Zangger. Seine Stimmung sackte augenblicklich in den Keller. Das passierte ihm in der letzten Zeit öfter, als ihm lieb war.
«Frauensache!», sagte er ärgerlich. «Mach mir doch nichts vor, Tina. Du steckst in einer Krise, das ist es. Du rennst vor irgendetwas weg. Vor mir vielleicht?», versuchte er zu witzeln. Aber er konnte die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen.
«Du steckst in einer Krise, Luc», sagte Tina. Zangger spürte, dass sie ihm keine Retourkutsche schicken wollte. Sondern dass sie sich Sorgen machte. «Dir gehts nicht gut in letzter Zeit. Das merke ich doch. Du bist gereizt, so kenne ich dich nicht. Du reagierst verärgert oder gekränkt. So wie jetzt gerade», stellte sie fest. Dann sagte sie ruhig: «Um ganz ehrlich zu sein, Luc: Ich hatte in der letzten Zeit nicht den Eindruck, dass dir meine Gesellschaft sehr viel bedeutet. Da dachte ich, es komme dir vielleicht ganz gelegen, wenn du ohne mich nach Schottland reisen könntest. Wäre ja nicht das erste Mal, dass du allein in deinem Camper unterwegs bist.» Dann meinte sie in versöhnlichem Ton: «Aber wenn es dir gar nicht passt, Luc, dann lehne ich den Auftrag natürlich ab.»
Na, wunderbar, dachte Zangger, jetzt liegt der Ball wieder bei mir. Natürlich wollte er sich nicht vorwerfen lassen, Tina im Weg zu stehen. Er wusste genau, dass sie diese berufliche Herausforderung gern annehmen würde. Sie hatte oft genug gesagt, der Trott im Büro öde sie allmählich an. Und vielleicht hatte sie ja recht: Vielleicht täte es ihm ganz gut, wieder einmal im Alleingang zu reisen. Er schluckte seinen Groll hinunter und machte gute Miene zum bösen Spiel.
«Es stimmt nicht, Tina», stellte er halbherzig richtig, «dass ich lieber allein reisen würde. Aber mir ist klar, dass der Auftrag dich reizt. Ich finde, du solltest ihn annehmen. Nimm ihn an, Tina», doppelte er nach, um jeden Zweifel auszuräumen. «Geh nach Maputo!»
«Gut, Luc», sagte sie und strich mit dem Handrücken über seine Wange. «Ich gebe dir morgen Bescheid, ob ich nach Afrika fliege.»
Obschon er in jener Nacht nicht besonders gut schlief, fühlte sich Zangger am Morgen wieder einigermassen im Lot. Er stand kaum je schlecht gelaunt auf. Wenn seine Stimmung in letzter Zeit absackte, dann geschah es irgendwann im Verlauf des Tages. Er stand vor dem Spiegel im Badezimmer und seifte sich mit dem Dachshaarpinsel das Gesicht ein. Das morgendliche Rasierritual war ihm noch nie lästig geworden, im Gegenteil, er genoss es.
«Heute Abend reden wir weiter, ja?», sagte Tina, bevor sie das Haus verliess.