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«Ist gut», sagte Zangger, die Klinge in der Hand. Und liess nonchalant die Bemerkung fallen: «Was immer du entscheidest, ich bin damit einverstanden.»
Abends kam Tina aufgeräumt nach Hause und verkündete, die Würfel seien gefallen: Sie fliege nach Maputo.
Zangger stand in der Küche. Er hatte ein kleines Abendessen zubereitet. «Dann müssen wir jetzt schauen, wie wir in den nächsten drei Wochen alles auf die Reihe kriegen», meinte er.
Tina war eben daran, den Küchentisch zu decken. «Es dauert keine drei Wochen mehr, Luc», sagte sie und drehte sich nach ihm um. «Du fährst in drei Wochen. Ich fliege am Sonntag.»
«Was?», rief Zangger.
«Ich sagte doch: Es ist ein Notfall. Die vom WWN bestehen darauf, dass sofort jemand hingeht. Ich musste zusagen oder die Sache fahren lassen.»
«Und für wie lange, wenn ich fragen darf?»
«Das weiss ich noch nicht», erwiderte Tina. «Vielleicht nur zwei, drei Wochen. Vielleicht genügt ein Coaching. Dann bin ich zurück, wenn du nach Schottland fährst.»
«Ich weiss gar nicht, ob ich nach Schottland fahre», brummte Zangger gekränkt.
«Ach, Luc. Jetzt mach kein Theater. Du fährst nach Schottland, es ist schliesslich alles vorbereitet. Der Camper steht bereit, die Fähre ist gebucht, deine Patienten sind informiert, du hast es doch selber gesagt. Du brauchst diese Auszeit. Dringend, das sehe ich doch.»
Zangger hatte einen schwierigen Tag hinter sich. Fast hätte er zu flennen begonnen, so wohl tat ihm Tinas fürsorglicher Ton. Aber die Regung war von kurzer Dauer.
«Es kann auch länger dauern», sagte Tina nämlich. «Ein, zwei Monate, wenn ich ad interim die Leitung des Hauses übernehmen muss. Oder noch länger. So oder so, auch wenn ich in drei Wochen zurück bin, muss ich mich für einen weiteren Einsatz bereithalten. Es ist ein Mandat auf drei Monate.»
«Wie bitte? Du hast dich für drei Monate verpflichtet?» Zangger konnte es nicht fassen.
«Ja, Luc. Ich musste.»
«Na, wunderbar.» Jetzt konnte er nicht mehr verhehlen, wie gekränkt er war. «Du meldest dich für ein Vierteljahr ab, ohne dich mit mir abzusprechen.»
«Entschuldige, aber du sagtest doch, du seist mit allem einverstanden, was ich entscheide. Und dass sich ein solcher Auftrag nicht im Handumdrehen erledigen lässt, das dürfte dir doch klar sein. Aber du hast trotzdem recht», räumte sie ein. «Ich hätte noch einmal mit dir reden sollen, bevor ich definitiv zusagte.»
«Schon gut», sagte Zangger. «Jetzt ist es, wie es ist.»
In den paar wenigen Tagen bis zu Tinas Abreise bemühte er sich so gut es ging, seinen heimlichen Groll zu verbergen. Da wehrt sie sich seit Jahren dagegen, mit mir auf Afrikareise zu gehen, dachte er immer und immer wieder. Und entscheidet sich dann von einem Tag auf den andern, in Mosambik ein Mandat anzunehmen, das gut und gern drei Monate dauern könnte. Drei Monate in Mosambik! Und das ohne mich. Mich lässt sie stattdessen nach Schottland reisen. Nach Schottland!
7.
Der neue Job gefiel Phil gar nicht schlecht. Er gefiel ihm sogar ausgesprochen gut. Er war bloss im Stundenlohn angestellt, und das kam ihm sehr entgegen. So konnte er vormittags nach wie vor bei MacMax aushelfen. Nachmittags arbeitete er dann ein paar Stunden im Seefeld. Was er hier zu tun hatte, war für ihn ein Kinderspiel und, da er dabei die meiste Zeit am Computer sass, ganz nach seinem Gusto. Nach ein paar Tagen hatte er gesehen, wie der Laden lief. Seine Aufgabe wäre es eigentlich gewesen, ein System für das Katalogisieren der antiquarischen Bücher zu erstellen. Er hatte bereits eine entsprechende Software heruntergeladen. Gratis, oder besser gesagt illegal. Natürlich verriet er das seinem Boss nicht, er sagte bloss, die Software sei sehr günstig zu haben. Aber das Katalogisieren musste jetzt warten.
«Wie heisst Ihre Domain?», fragte Phil den Inhaber am zweiten Tag.
«Habe ich nicht. Nur eine E-Mail-Adresse.»
«Wie bitte, Sie haben keine Website?», staunte er.
«Nein, wieso? Sollte ich?»
«Allerdings», lachte Phil und versprach, in den nächsten Wochen einen Entwurf vorzulegen.
Bald stellte sich heraus, dass in diesem Laden EDV-mässig auch sonst einiges im Argen lag: Das Rechnungs- und Zahlungssystem musste optimiert, die Logistik vereinfacht und beschleunigt, die Buchhaltung auf Vordermann gebracht werden. Die gesamte Software war ziemlich veraltet. Und in Seidenbasts Geschäft standen vier verschiedene Computer, die vernetzt werden mussten. Der Patron war heilfroh, dass er sich um diese Dinge nicht mehr kümmern musste. So kam es, dass sich Phil in Buch&Wein schon nach kürzester Zeit absolut unentbehrlich machte.
Es blieb ihm nicht verborgen, dass ihn Frau Preisig, die von früh bis spät im Geschäft herumgeisterte, in der ersten Zeit argwöhnisch beobachtete. Er grüsste sie deshalb stets, wenn er zur Arbeit kam – wenn sie nicht im Laden stand, spürte er sie im Bücherlager, im Weinkeller oder in der kleinen Teeküche auf –, bedachte sie, wenn es sich ergab, mit einer Freundlichkeit und bemühte sich im Übrigen konsequent, ihr nicht in die Quere zu kommen. Nachdem sie einmal begriffen hatte, dass er ihr nicht ins Handwerk pfuschte – sie war ja ausschliesslich für die Hardware zuständig –, gab sie ihre Vorbehalte offenbar auf.
«Ein charmanter junger Mann, Herr Seidenbast», hörte er sie eines Tages flüstern.
«Wer?»
«Ihre Bürokraft.»
«Ach so. Ja, nicht wahr?»
Bürokraft ist gut, dachte Phil.
Das Vorstellungsgespräch, zu dem er auf seine telefonische Bewerbung hin eingeladen worden war, hätte in der Tat nicht besser verlaufen können.
«Sie studieren Informatik», hatte sein zukünftiger Chef konstatiert. «Gut, sehr gut. Haben Sie auch praktische Erfahrung?»
«Nun», erwiderte Phil, «nach der Matura machte ich eine Banklehre. Ich will nicht behaupten, ich sei ein IT-Experte, aber ich bin ein ziemlich sicherer Anwender.» Dass er ein ziemlich durchtriebener Anwender war, der sich in fremde Computer hackte, das behielt er wohlweislich für sich. «Und ich fabriziere Websites für Freunde und Bekannte.»
«Sehr gut. Das dürfte für meine Bedürfnisse bei weitem genügen. Aber sagen Sie, verstehen Sie auch ein bisschen etwas von Wein?»
«Nur, was man mir im Duc de Rohan beibrachte.»
«Im Duc de Rohan?», wiederholte Seidenbast verblüfft. «In Chur?»
«Ja. War aber nur ein kurzer Stage. Drei, vier Monate, in den Semesterferien.»
In Tat und Wahrheit hatte der Stage drei, vier Wochen gedauert. Und hatte in den Schul-, nicht in den Semesterferien stattgefunden. Nicht im Duc de Rohan, sondern in einem Bergrestaurant im Skigebiet von Obersaxen. Damit liess sich freilich kein Staat machen, das Weinangebot hatte aus Veltliner in der Liter- und Zweideziliterflasche bestanden. Und seine Arbeit im Pfannenwaschen.
«Und später auf dem Bürgenstock.»
«Oh lala! Als Sommelier?»
«Nein, nur als Kellner. Hilfskellner, um ehrlich zu sein. Aber ich spitzte die Ohren, wann immer ich in der Nähe des Sommeliers war», lachte Phil.
Dem Sommelier auf dem Bürgenstock hatte er tatsächlich immer gut zugehört, wenn sich Herr Zulauf zum Lunch eine Flasche Wein bestellte. Jeder einzelne seiner Kommentare war in seinem Gedächtnis eingraviert. Er war sich schon damals sicher gewesen, dass er die Weinsprache einmal werde brauchen können.
«Gut, dann darf ich Ihnen eine Quizfrage stellen», schmunzelte sein zukünftiger Chef. «Was würden Sie zu einem Tournedos Rossini empfehlen: einen Barbera, eine Assemblage aus dem Burgenland oder einen Malbec?»
Seine Sprachimitationsspielchen hatten den Klosterschüler gelehrt, dass er über eine besondere Art von Gedächtnis verfügte. Er wusste, dass es Leute mit fotografischem Gedächtnis gab. Er hatte kein fotografisches, er hatte ein tonträgerartiges Gedächtnis: Was er einmal gehört hatte, das konnte er – vorausgesetzt, es interessierte oder beeindruckte ihn – jederzeit eins zu eins wiedergeben. Als Schüler hatte er jede Menge Bücher verschlungen, aber Gelesenes blieb ihm nicht besser in Erinnerung als andern. Gehörtes jedoch konnte er mit fast untrüglicher Sicherheit abrufen. Seine guten Noten verdankte der Klosterschüler Gion-Gieri Caduff weniger einem besonders tiefen Verständnis der Dinge als dem Umstand, dass es den meisten Lehrern gefiel, wenn sie zitiert wurden. Und Lehrer zitieren, das konnte er. Es hatte damit begonnen, dass er der Kindergartentante ein rätoromanisches Verschen nachplapperte oder als Erstklässler ein Lied trällerte, kaum hatte er es ein-, zweimal gehört. Gedichte, Reden und andere gehörte Texte konnte er auswendig hersagen wie kein anderer. Und zwar in allen möglichen Sprachen, von Deutsch über Latein bis zu Englisch und Spanisch. Mathematische, physikalische und chemische Formeln brauchte er nicht zu verstehen oder herzuleiten, er konnte sie, einmal gehört, einem Lied gleich rezitieren und mit etwas Glück meistens richtig anwenden. Den Sechser in der Geografie-Matura holte er sich, weil beim Stichwort Eiszeit in seinem inneren Ohr «Günz-Mindel-Riss-und-Würm» erklang, wie ein alter Schlager, mit allen zeitlichen und örtlichen Attributen.
«Weder Barbera noch Malbec», antwortete der innere Sommelier. «Zu viel Frucht. Den Barbera würde ich zu einem Primo empfehlen, einer feinen Pasta vielleicht, wieso nicht mit einem Hauch von weissem Trüffel. Albatrüffel, natürlich. Der Malbec passt gut zu einer Grillade, aber nicht unbedingt zu einem klassischen Tournedos Rossini. Die Foie gras braucht einen Widerpart. Dann schon lieber den Roten aus dem Burgenland, wenns kein Bordeaux sein soll.»
«Alle Achtung», staunte der Weinhändler und Feinschmecker. «Und was können Sie mit Büchern anfangen?», fragte er beiläufig. «Lesen Sie?»
Phil ahnte, dass das der entscheidende Test war.
«Belletristik, zum Beispiel. Notfalls müssten Sie vielleicht auch mal im Buchladen aushelfen.»
«Da bin ich leider etwas einseitig gebildet.»
«In welcher Richtung?»
«Ehemaliger Klosterschüler, wissen Sie», sagte Phil. Der Buchhändler hob überrascht den Blick und musterte ihn aufmerksam. «Etwas gar vergangenheitsorientiert. Klassische Literatur eben. Frisch war in etwa der Modernste. Und sonst: Goethe, den Faust natürlich, Werther, Wahlverwandtschaften. Keller. Meyer, Jürg Jenatsch. Thomas Mann, der Zauberberg. Der hatte für uns ja fast Lokalkolorit.» Den Zauberberg hatte er natürlich gelesen. Noch viel besser gefallen hatten ihm freilich die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. «Tod in Venedig, und und und», fuhr er fort, um noch etwas Zeit zu schinden. Er hatte plötzlich ein Gespür dafür, welche Autoren er erwähnen musste. «Musil. Oder meinen Sie englische und französische Literatur? Rimbaud. Proust. Byron. Oscar Wilde war natürlich verboten. Der stand bei uns auf dem Index. Den musste ich mir heimlich zu Gemüte führen.» Das hatte er nicht einmal erfinden müssen, es stimmte Wort für Wort. Ein Mitschüler hatte ihm gesteckt, dass die Bücher von Oscar Wilde obszön seien, da hatte er natürlich eines lesen müssen. Phil deutete zum Schaufenster hinüber. Dort lag, auf einem kleinen Podest aus der Fülle der übrigen Bücher hervorgehoben, ein abgegriffener, in Leder gebundener Dorian Gray. Er hatte sich am Vortag die Auslagen des Antiquariats angesehen und zur Sicherheit auf Wikipedia sein Wissen etwas aufgefrischt. «Wunderschönes Exemplar», murmelte er respektvoll. «Neunzehnhundertzehn? Oder fünfzehn?»
«Neunzehnhundertzwanzig», hatte Seidenbast geantwortet und ihn nachdenklich angesehen. «Wann können Sie denn anfangen, Herr Wexler?»
8.
Sonst hatte es Zangger stets genossen, als Strohwitwer für einige Tage allein zu sein. Oder auch für ein, zwei oder drei Wochen ein Junggesellenleben zu führen, wenn Tina in Weiterbildung oder mit einer Freundin auf Reisen war.
Jetzt nicht.
Er ass Pasta direkt aus der Pfanne, aber nicht weil es Spass machte, sondern weil er die Energie nicht aufbrachte, anständig zu kochen und den Tisch zu decken. Er trank abends mehr Wein als sonst, manchmal zu viel Whisky. Aber nicht aus Freude an einem edlen Tropfen, sondern weil er sich herunterfahren musste. Er dimmte, entgegen seiner Gewohnheit, abends zuhause alle Lichter, in seiner Praxis zog er tagsüber die Vorhänge, denn helles Licht schmerzte ihn in den Augen. Er ärgerte sich über jede Kleinigkeit. Musik vertrug er keine, nicht einmal einen Blues von Billie Holiday. Auch die Händelsonaten nicht, die ihn sonst in eine meditative Ruhe versetzten. Eine Brahmssinfonie schon gar nicht. Er empfand jedes Geräusch als Lärm. Genervt hiess er Tom, gefälligst seine Stereoanlage leiser zu stellen. Eine Schelte, die sonst nur Mona zu hören bekam. Mona war die meiste Zeit gar nicht zuhause, und wenn sie da war, gab es unweigerlich Krach. Aus schlechtem Gewissen schlug Zangger ihr und den Söhnen vor, am Samstagabend draussen zu grillen. Er kaufte grosszügig Fleisch ein, für Mona drei üppige Vegispiesse, besorgte den Söhnen zuliebe Bier statt Wein, für Mona Leichtbier mit Fruchtgeschmack, aber die Stimmung war längst nicht so entspannt wie sonst. Zangger spürte, dass seine Söhne ein bisschen auf Distanz gingen. Von Mona war er nichts anderes gewohnt – sie tauchte an dem Abend gar nicht auf und behauptete später, er habe sie nicht eingeladen -, aber dass es jetzt auch mit Tom und Fabian schwierig wurde, gab ihm zu denken.
«Was stimmt eigentlich nicht mit Mama und dir?», wollte Fabian wissen. Er stand am Grill und wendete die Lammkoteletts.
«Wieso?», fragte Zangger. Hatte er seine Missstimmung wirklich so schlecht verbergen können?
«Nur so», machte Fabian. «Das spürt man doch.»
Zangger erwiderte, es mache ihm zu schaffen, dass Tina ohne ihn nach Afrika reise. Und möglicherweise mehrere Wochen wegbleibe.
«Ach so. Na ja, wenn es das ist.»
«Dir gehts nicht gut», meinte Tom. «Bist du krank?»
Zangger sah ihn überrascht an. Die Frage rührte ihn.
«Ich glaube nicht.»
«Aber überarbeitet, nicht wahr? Das hat Ma jedenfalls gesagt. Oder bist du sauer, weil sie so plötzlich verreist ist?»
«Von allem ein bisschen», gab Zangger zu. «Aber es wird bald besser», fuhr er fort, bemüht, die Sorgen der Söhne zu zerstreuen. «Noch eine Woche, dann habe ich Ferien.»
«Wann fährst du?», fragte Tom.
«Weiss ich noch nicht. Sobald alles fertig ist: die Arbeit in der Praxis, das Seminar, der Camper. Ausgerüstet bin ich ja», lachte Zangger. Die Erinnerung an den gemeinsamen Einkauf im Snow-n-Sand schmerzte zwar ein wenig. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen.
«Ich reise am Sonntag», stellte Fabian fest.
«Du meine Güte!», rief Zangger erschreckt: «Also morgen?» Das hatte noch gefehlt, dass er um ein Haar die Abreise seines Sohns verpasste. Er hatte sich gar nicht mehr gross um Fabians Pläne gekümmert, Tina war da engagierter gewesen. Fabian hatte sich entschieden, nicht erst auf Semesterbeginn nach Montpellier zu reisen, sondern schon den Sommer dort zu verbringen und mit Louis einen Sprachkurs zu besuchen, um sein Französisch aufzupolieren. Danach begann das dritte Jahr seines Medizinstudiums.
«Nein, erst in einer Woche natürlich.»
«Klappt denn auch alles? Mit dem Zimmer? Mit der Uni?»
«Ja, ja. Keine Sorge.»
«Brauchst du noch etwas?»
«Nein, nein.»
Es wäre Zangger lieber gewesen, Fabian hätte irgendeine Frage gehabt oder konkrete Hilfe benötigt. Er fühlte sich fast ein wenig abgewimmelt.
Immerhin hatte er seine Arbeit. Doch die bereitete ihm nicht mehr die gleiche Freude wie auch schon. Im Gegenteil, es wurde ihm – zum ersten Mal in seinem beruflichen Leben – alles zu viel. Die letzten zehn Tage vor den Ferien waren gerüttelt voll. Krankengeschichten mussten nachgetragen, ein, zwei Gutachten zu Ende gebracht, Zeugnisse und Atteste verfasst und Honorarrechnungen geschrieben werden. Das letzte Seminar vor seinen Ferien stand noch an. Das alles neben der randvollen Sprechstunde, denn die meisten seiner Patienten wollten kurz vor seiner Abreise noch eine letzte Konsultation. Zangger musste sich über die Runden kämpfen und sehnte den Tag herbei, an dem er alle Patientenakten schliessen und abhauen konnte.
Frau Zindel beschwerte sich über Löcher, die man ihr in die Strümpfe gemacht habe. Nein, die Strümpfe seien nicht durchgescheuert, die Löcher seien hineingemacht worden. Ausserdem habe sich jemand in ihrer Abwesenheit aus dem Töpfchen mit ihrer Gesichtscrème im Spiegelschränkchen bedient. Wie die Person in ihr Badezimmer hineingelangt sei, das könne sie sich auch nicht erklären, aber Tatsache sei, dass jemand mit einem kleinen Löffelchen Gesichtscrème aus dem Töpfchen gestohlen habe. Zangger unternahm einen weiteren Versuch, Frau Zindel zur Einnahme ihrer Medikamente zu bewegen. Aber er hatte fast damit gerechnet, dass sie seine Empfehlung in den Wind schlagen würde.
An einem der letzten Tage vor seinen Ferien rief eine Frau an – Krugmann mit Namen –, die an seinem letzten Nerv zerrte. Nach wenigen Sätzen war Zangger nämlich klar, dass sie einen alkoholkranken Ehemann hatte, der sich in einem bedenklichen Zustand befand. Im Augenblick handle es sich nicht um ein psychiatrisches, sondern um ein medizinisches Problem, versuchte Zangger ihr klar zu machen. Sie müsse den Hausarzt rufen, der ihren Mann ins Spital einweisen werde. Doch dafür war Frau Krugmann nicht zu haben. Zangger hatte nicht die Kraft, gegen Windmühlen zu kämpfen. Über kurz oder lang würden die Dinge ihren Lauf nehmen, dachte er. Spätestens, wenn der Notarzt kommen musste, weil der Patient im Delirium landete. Mit nur halbwegs gutem Gewissen hatte er das Telefongespräch beendet.
Frau Stoller, eine alte Dame, war nach der akuten Verschlechterung einer seit langem bestehenden Leukämie in eine tiefe Depression gefallen. Ihr Hausarzt und der Hämatologe hatten ihr, da sie es ausdrücklich verlangte, reinen Wein eingeschenkt. Sie wusste, dass die Chemotherapie keinen Erfolg gebracht hatte und dass ihre Lebensuhr bald ablaufen würde. Sie war untröstlich darüber, dass sie das bevorstehende grosse Familienfest nicht mehr werde erleben können. Und dass sie mit ihrem vorhersehbaren Sterben den Angehörigen die Festfreude verderben könnte. Zangger hatte nach den Regeln der Kunst mit ihr gearbeitet, mit Psychotherapie in einer Form, wie sie für Todkranke angemessen war, und mit Antidepressiva, aber aufgehellt hatte sich ihr Zustand nicht wirklich. Er hatte Frau Stoller geraten, während seiner Abwesenheit die Behandlung bei einem seiner Praxisvertreter weiterzuführen. Frau Stoller hatte sich bedankt, ihm aber zu verstehen gegeben, dass sie das nicht wolle.
Lichtblicke gab es nur wenige. Linda Larsson war so ein Lichtblick gewesen. Aber ihre Behandlung hatte er schon vor einigen Wochen abschliessen können. Das kam vor, wenn doch auch eher selten: dass die Therapie einer ernsthaften Störung nach wenigen Sitzungen erfolgreich zu Ende ging, und erst noch ohne Medikamente. Die aufgeweckte junge Frau war ihre Probleme zielstrebig angegangen und hatte sie in kürzester Zeit in den Griff bekommen. Zangger bedauerte es fast ein wenig, sie so rasch geheilt zu haben. Sie war in seiner Praxis A Breath of Fresh Air gewesen.
Der Sunnyboy unter seinen Patienten, Gion Caduff, kam in dieser Zeit ein paar weitere Male zum Gespräch. Es war jedes Mal eine erfrischende Stunde. Der Patient beichtete offenherzig, was er Zangger in der vorherigen Stunde vorgeflunkert hatte. Es waren keine weltbewegenden Geständnisse: Er habe gar keine Freundin, er habe sich bloss in die Hotelpraktikantin Nicole verknallt. Die Stelle bei der Bank habe er nicht gekündigt, sondern er sei wegen Verstössen gegen interne Vorschriften entlassen worden. In Tat und Wahrheit sei er noch kein Informatikstudent, er werde das Studium erst im Herbst aufnehmen. Und ein paar weitere Dinge dieses Kalibers. Sie hatten gemeinsam herausgearbeitet, dass es sich bei seinen Schwindeleien um ein altes, in der Kindheit angeeignetes Muster handelte, das ursprünglich dazu gedient hatte, Prügel zu vermeiden. Mit der Zeit hatte sich das Motiv verändert, heute ging es Caduff in erster Linie darum, in den Augen der andern besser dazustehen. Schwindeln aus Geltungsdrang, so lautete die vom Patienten selbst erlangte Erkenntnis.
Sobald Zangger allein war – in den Pausen zwischen den Patientenstunden, am Schreibtisch, im Auto oder zuhause –, musste er an Tina denken. Und an Afrika. Tina in Afrika und ich in Schottland, das gibts doch nicht!, haderte er.
Jahrelang war er Tina damit in den Ohren gelegen, dass sie ihn auf eine Afrikareise begleite. Er hatte sie auf einer Studentenreise nach Marokko kennen gelernt, aber danach hatte es Tina immer anderswohin gezogen. Nach Skandinavien, Russland und Japan. In Städte, nicht in die Wildnis. Kultur- und Bildungsreisen waren nach ihrem Geschmack, nicht Freiluftabenteuer. Natürlich wusste er, dass Tina in Afrika war, um zu arbeiten, nicht um in die Wildnis zu fahren. Es wurmte ihn trotzdem. Maputo kannte er nicht, er war noch nie in Mosambik gewesen. Dafür in vielen andern Ländern Afrikas: Als junger Mann hatte er Ostafrika bereist, bis nach Ruanda und hinauf nach Äthiopien und Eritrea. Ein paar Jahre später war er in seinem Camper nach Nordafrika gefahren, hatte die Sahara durchquert und den Sahel und war an der Elfenbeinküste gestrandet. Nach seiner Heirat hatte er immer wieder von jenen Reisen geschwärmt, aber Tina hatte nie angebissen. Das sei etwas für Pfadfinder, hatte sie stets gesagt, nichts für sie. Sie sei keine Abenteuerin. Afrika zu zweit blieb ein Traum.
Vor einigen Jahren, als Zangger eine Midlife-Krise durchmachte, fand Tina plötzlich, er müsse einmal richtig ausspannen. Er brauche mehr als eine Städtereise oder ein Wochenende im Hotel Therme, um sich zu erholen. Was er denn gern tun würde, um aufzutanken und auf andere Gedanken zu kommen? Vielleicht hoffte sie, er würde sich eine Reise mit der transsibirischen Eisenbahn wünschen oder ein Time-out in Japan. Aber er sagte, ohne zu zögern: das südliche Afrika bereisen. Sie sah, wie seine Augen leuchteten, und schlug ihm vor, eine Männerreise zu planen. Zuerst zögerte Zangger, aber als er merkte, dass Tina es ernst meinte und dass sie es ihm nicht übel nehmen würde, wenn er ohne sie reisen würde, ging er auf ihren Vorschlag ein. Er tat sich mit zwei alten Freunden aus dem Militär zusammen und reiste mit diesen wochenlang durch die Wildnis. Auf eigene Faust, immer auf freier Wildbahn, fernab von Safaritouristen und Luxuslodges. Mit einem robusten alten Landrover, den sie vor Ort gemietet hatten, mit Zelt und Campingausrüstung. Für mehrere Wochen Wasser, Lebensmittel und Sprit an Bord. Nacht für Nacht unter freiem Himmel. Sie folgten den Elefantenherden am Chobe, pirschten sich auf Hemingways Spuren an die Löwen von Savuti heran. Und an die Flusspferde am Unterlauf des Sambesi. Sie durchquerten die Salzwüsten Botswanas, in denen man sich hoffnungslos verirren konnte, fuhren dem Rand der Namibwüste entlang und, wo es ging, in diese hinein. Dann quer durch die Kalahari. Sie campierten unter riesigen Baobabs, scharf beobachtet von frechen Pavianen, von Erdmännchen und Gelbschnabeltukanen.
Das alte Feuer loderte wieder auf.
«Du hast das Afrikafieber», sagte Seidenbast nach jener Abenteuerreise. Und wirklich, der Virus hatte ihn wieder befallen. Periodisch erlitt er einen Rückfall und spürte ein unwiderstehliches Reissen. Im vergangenen Winter startete er einen neuen Versuch, Tina für eine Afrikareise zu gewinnen. Er suchte heimlich Flüge heraus, liess einen geländegängigen Camper reservieren und heckte eine nicht zu abenteuerliche Route durch Südafrika aus. Am Neujahrstag legte er Tina seine Reisepläne vor. Sie strich ihm liebevoll mit dem Handrücken über die Wange und sagte, sie wolle es sich überlegen. «Du hast recht», sagte sie am Dreikönigstag, «wir sollten wieder einmal eine Camperreise machen. Aber um ehrlich zu sein: Ich würde lieber nicht auf einen andern Kontinent fliegen, sondern von hier aus starten. Ich habe eine Idee», rief sie: «wir fahren nach Schottland! Dort ist es auch wild, das wird dir bestimmt gefallen.»
Schottland kann mir gestohlen bleiben!, dachte Zangger. Das Afrikafieber schüttelte ihn.
Im Alter von neun Jahren war er infiziert worden. Durch ein Buch, das er vom Grossvater geschenkt bekommen hatte. Hingerissen hatte Lukas die Bilder betrachtet, Schwarzweissfotografien von Rundhütten und Lehmbauten, Bilder von Palmen, Kamelen und Krokodilen. Und von schwarzen Menschen, schwarzen Kindern. Diese Gesichter! Die grossen schwarzen Augen. Die schwarze Haut. Die weissen Zähne. Die grossen, lachenden Münder. Nichts konnte ihn mehr faszinieren und mehr anziehen als diese Gesichter und die nackten oder halbnackten dunkelhäutigen Körper. Er entwickelte eine unbändige Sehnsucht nach dem Kontinent, auf dem solche Menschen lebten. Es war die Zeit, als man Schwarzer statt Neger zu sagen begann, aber davon wusste Lukas nichts. Für ihn war Neger der Inbegriff eines wundersamen Wesens aus einer fremden, zauberhaften Welt. Wie Indianer. Wie Krieger oder Jäger. Nur noch abenteuerlicher: Neger!