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„Dr. Baldini? Ja, der ist hoch angesehen und wirklich ein Spezialist auf seinem Gebiet.“
„Könnte der sich Clarissa und das Baby wohl einmal anschauen?“
„Sicher, wenn der werdenden Mutter diese lange Reise zuzumuten ist, warum nicht?“
„Dann werde ich veranlassen, dass sie zu Euch kommt.“
„Wunder vollbringen kann allerdings auch Dottore Baldini nicht, Guiseppe.“
„Das weiß ich. Und deshalb habe ich noch eine Bitte.“
„Nur zu.“
„Wenn er nichts für das Kind tun kann...“, Guiseppe stockt.
„Ja?“
„Rafael, Du weißt um unseren Familienstolz, um unser Ansehen in Norditalien, um die Rivalität zwischen den Familienclans.“
„Schon, obgleich ich nichts damit anfangen und Euer Gehabe kaum nachvollziehen kann.“
„Ein behindertes Kind darf nicht mit uns in Zusammenhang gebracht werden.“
„Was willst Du von mir, Guiseppe?“
„Wenn Dottore Baldini nichts für das ungeborene Kind tun kann, dann...dann möchte ich, dass es in ein Pflegeheim kommt. Dort ist es gut aufgehoben.“
„Das sollten die Eltern entscheiden, Guiseppe.“
„Nein, die dürfen gar nichts davon wissen. Sie würden es kaum akzeptieren. Wahrscheinlich würden sie das Kind behalten und alle Welt würde davon erfahren.“
„Noch einmal, Guiseppe: Was willst Du von mir?“
„Ich möchte, dass ihr das Kind im Fall der Fälle nach der Geburt vor den Eltern für tot erklärt.“
„Was?! Das ist nicht Dein Ernst, Guiseppe.“
„Das ist mein voller Ernst, Rafael!“
„Das kann ich nicht machen. Impossibile!“
„Ich bitte Dich, Rafael. Dem Kleinen wird es an nichts fehlen, es ist ein neues, modernes Pflegeheim, in dem das Kind rund um die Uhr betreut wird.“
„Darum geht es nicht, Guiseppe. Das kannst Du den Eltern nicht antun.“
„Ich muss, Rafael, ich muss.“
„Ich spiele da nicht mit, Guiseppe. Nein!“
„Du weißt, wie sehr unsere Familie das Krankenhaus unterstützt. Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass ihr mehr öffentliche Gelder erhaltet. Wir haben einige der besten Ärzte des Landes nach Firenze geholt. Wir haben den Stadtrat dazu bewogen, Euch steuerlich zu entlasten.“
„Ich weiß, Guiseppe, aber das kannst Du nicht verlangen.“
„Wo ist das Problem, Rafael? Meinst Du, den Eltern geht es besser, wenn Sie ein behindertes Kind aufziehen?“
„Das weiß ich nicht. Aber die Entscheidung, ob sie dies tun oder aber das Kind in ein Pflegeheim geben, sollten sie selbst treffen.“
„Das dürfen sie eben nicht. Stell' Dir vor, sie behalten es. Welch' eine Schmach für die Famiglia.“
„Ich kann kaum glauben, wie Du redest, Guiseppe. Was ist mit Dir passiert?“
„Ich sorge mich nur um die Ehre der Familie.“
„Auf eine Art und Weise, die mir Angst macht, Guiseppe.“
„Ich werde veranlassen, dass Clarissa bereits nächste Woche zu Euch kommt.“
„Das geht klar.“
„Und sollte sich herausstellen, dass Dottore Baldini nichts für das Kind tun kann.“
„Nein, Guiseppe, bitte nicht.“
„Dann bleibt Clarissa bis zur Geburt in Italien und das Kind kommt direkt nach dem es das Licht der Welt erblickt hat in die Casa Cura nach Bergamo.“
„Du bist ja verrückt.“
„Und den Eltern teilt man mit, dass es bei der Geburt verstorben ist.“
„Ich bete zu Gott, dass es nicht so kommen wird.“
„Da sind wir uns einig, das tue ich auch.“
„Du betest zu Gott? Nachdem, was ich heute von Dir gehört habe, kann ich mir kaum vorstellen, dass Du noch einen Draht nach oben hast.“
„Lass das mal meine Sorge sein, Rafael.“
Guiseppe Scirelli legt den Hörer auf. Im Krankenhaus Santa Maria Nuova sinkt Rafael di Rossi in seinem Bürosessel zusammen, schlägt die Hände vors Gesicht und schüttelt fassungslos den Kopf.
28
Als Clarissa Werner Schmitz vom Anruf Guiseppes erzählt, lässt dieser sofort alle Drähte glühen.
Er bittet Dr. Freudenberg, darum, sich über das Santa Maria Nuova und den dort praktizierenden Neugeborenenchirurg Dr. Baldini schlauzumachen.
Clarissa ist wild entschlossen, dem Rat der Familie zu folgen und die restlichen Schwangerschaftsmonate sowie möglicherweise auch die Geburt unter der Obhut von Dr. Baldini in Angriff zu nehmen.
Werner ist eher skeptisch.
„Hier in Deutschland haben wir doch so ziemlich die besten Ärzte in Europa.“
„Ja, aber trotzdem kann es doch auf bestimmten Gebieten Spezialisten in anderen Ländern geben, der sich besser auskennen.“
„Das kann ich mir kaum vorstellen.“
„Warten wir ab, was Dr. Freudenberg uns über das Krankenhaus und den Arzt zu berichten weiß, dann sehen wir weiter.“
„In Ordnung, Werner.“
Wenige Tage später ruft Dr. Freudenberg im Santa Maria Nuova an und möchte den Klinikdirektor sprechen.
„Ich verbinde Sie mit Dr. Trafalgo, Dottore Freudenberg.“
„Grazie, Signora.“
„Dottore Freudenberg, werter Kollege aus Deutschland, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Tag Dr. Trafalgo. Es geht um Folgendes: Ich habe bei einer schwangeren Patientin aus Köln im Ultraschall Verdachtsmomente für Gehirnwasser im Fötus entdeckt.“
„Sie benutzen bereits Ultraschallgeräte zur Diagnostik?“
„Wir...nun ja, wir setzen im Rahmen von Studien manchmal bereits...also wir experimentieren ein wenig mit den Geräten.“
„Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Meine Patientin hat Verwandte in Italien. Diese haben ihr von einem an Ihrem Hospital praktizierenden Arzt erzählt, der wohl insbesondere in der Fetalchirurgie und -medikation zu den besten Ärzten in Europa gehören soll.“
„Sie sprechen von Dr. Baldini. Ja, der ist seit knapp zwei Jahren an unserer Klinik.“
„Können Sie mir Genaueres über seine Arbeit erzählen?“
„Nun, es gibt Neurochirurgen, die zunehmend den Ansatz verfolgen, schon vor der Geburt das Leben und die Gesundheit kranker Babys mit gewagten Eingriffen zu retten. Diese Operationen können Behinderungen vorbeugen und...“
„Genau darum geht es, Dr. Trafalgo!“
„Lassen Sie mich bitte ausreden, Dr. Freudenberg.“
„Gewiss.“
„Das Baby wird aus dem Bauch der Mutter ans Tageslicht geholt, um Gefahren, die seine Gesundheit bedrohen, durch eine Operation abzuwenden. Danach geht es zurück in den Mutterleib. Solch' eine Operation birgt allerdings auch große Risiken. Es kann zu einer Fehlgeburt kommen.“
„Aber es besteht auch die Chance, dass das Kind nach einer Operation gesund zur Welt kommt?“
„Theoretisch schon. Ich möchte mich da nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, Sie, beziehungsweise Ihre Patientin, sollte das mit Dr. Baldini diskutieren.“
„Sie wären also bereit, Clarissa Schmitz, so heißt die Patientin, in Ihrer Klinik aufzunehmen?“
„Erst einmal wäre ich bereit, ihr ein Gespräch mit Dr. Baldini zu vermitteln.“
„Wann kann sie kommen?“
„Jederzeit, ich vereinbare gern einen Termin für die Patientin aus Deutschland.“
„Ich danke Ihnen sehr, Dr. Trafalgo. Wir kontaktieren Sie dann wieder, um einen Termin zu vereinbaren.“
„Sehr gern, Dottore Freudenberg.“
29
Nach gut zweieinhalb Stunden Flugzeit landet die JAT-Maschine auf dem Flughafen in Belgrad.
„Ist schon was anderes als die Reise mit dem Zug, was, kleiner Bruder?“, Borna Krupcic gibt seinem Bruder einen Klaps auf die Schulter.
„Das kann man wohl sagen. Es ist unglaublich, wie schnell das geht.“
„Schön, dass wir uns so etwas jetzt leisten können.“
„Ich hatte Schuldgefühle wegen dem Flugpreis, Borna. Du nicht? Ich meine, wir wollten doch sparsam sein und das Geld, das am Monatsende übrig ist, ins Haus der Familie stecken.“
„Das tun wir doch auch. Wir leisten uns ja sonst kaum etwas, da brauchen wir uns wirklich nicht zu schämen, wenn wir uns den Flug in die Heimat gönnen. Schließlich arbeiten wir hart für unser Geld.“
„Du hast ja Recht, Borna. Schau mal, da vorne steht Cousin Ante.“
„Wollte nicht Vater uns abholen?“, wundert sich Davor.
„Dachte ich auch. Egal, Hauptsache, wir sind bald bei der Familie.“
„Zdravo Ante!“, Borna umarmt seinen Cousin.
„Willkommen in der Heimat, Ihr zwei Halunken. Gut seht ihr aus.“
„Und Du bist richtig erwachsen geworden, Ante. Mann, wie die Zeit vergeht“, auch Davor umarmt Ante.
„Warum ist Vater nicht gekommen?“
„Er hat sich beim Arbeiten am Haus verhoben und kann sich im Moment kaum bewegen.“
„Hat er sich mal wieder übernommen, was?“
„Möglich, ja. Dank Eures Geldes ist ja viel zu tun am Haus, Ihr werdet Euch wundern, wie weit wir mit dem Anbau schon sind.“
„Da sind wir ja mal gespannt, Ante“, sagt Davor mit leuchtenden Augen.
Die drei Männer erreichen den Ausgang des Belgrader Flughafens.
„Euer Vater hat mir sein Auto geliehen. Ich stehe direkt da vorne“, Ante deutet auf eine kleine Abbiegung rechts vom Flughafengebäude.
„Wollen wir zunächst irgendwo etwas essen gehen? Es ist schon Abend und wir haben noch gute anderthalb Stunden zu fahren.“
„Gern, Ante. Fahren wir einfach los Richtung Heimat und wenn wir ein nettes Lokal sehen, machen wir Stopp. Davor, Du bist doch sicherlich auch hungrig?“
„Ja, und wie.“
„Dann mal los, Ante. Volle Kraft voraus...“
30
Hedwig Schmitz sitzt teilnahmslos im Wohnzimmer vor dem Fernseher, als ihr Mann Paul von seinem verlängerten Angelwochenende in der Vulkaneifel zurückkehrt. An Pauls Entschluss, seine Ehe zu beenden, hat auch die knapp zweistündige Rückfahrt nichts geändert. So kann, so will er nicht weiterleben.
„Hallo Hedwig.“
„Hallo Paul. Und: Hast Du Dich gut erholt?“
„Ein wenig, Hedwig, nur ein wenig.“
„Warum nur ein wenig?“
„Weißt Du, Hedwig, mir gingen viele Dinge durch den Kopf. Wenn man da stundenlang so ganz allein am See sitzt, wird einem vieles klarer.“
„Ja, ist das so?“
„Das ist so, Hedwig.“
„Willst Du ein Bier? Steht im Kühlschrank.“
„Ja, ich will ein Bier“, Paul begibt sich in die Küche und kommt mit einer Flasche Bier in der Hand ins Wohnzimmer zurück.
„Hedwig, wir...“
„Ja?“
„Hedwig, mit uns ist es nicht mehr so, wie es einmal war, findest Du nicht auch?“
„Nichts ist mehr so, wie es einmal war, Paul. Nach diesem Krieg ist nichts mehr so, wie es einmal war.“
„Natürlich nicht, Hedwig. Das brauchst Du mir am Allerwenigsten zu sagen...“
„Entschuldige, Paul.“
„Ist schon in Ordnung. Nur: Hedwig, der Krieg ist jetzt beinahe zwanzig Jahre vorbei.“
„Nein, Paul, dieser Krieg geht nie vorbei. Nicht für die, die ihn miterlebt haben.“
„Sicher nicht, da hast Du Recht. Aber irgendwann muss man auch nach vorne schauen..
„Wie meinst Du das?“
„Hedwig, ich denke, wir haben uns beide verändert. Und zwar in Richtungen, die uns eher voneinander entfernen als das sie uns vereinen.“
„Wenn Du das so siehst.“
„Wie siehst Du es denn?“
„Ich weiß es nicht, Paul. Ich weiß es einfach nicht.“
„Ich denke, nein, ich weiß, Hedwig, dass ich noch einmal neu anfangen möchte. Unbelastet von den Kriegserlebnissen. Vielleicht ist es einfacher für uns beide, wenn wir erst einmal eine Zeit alleine leben.“
„Eine Zeit?“
„Ich möchte die Scheidung, Hedwig. Bitte sei mir nicht böse.“
„Ich bin Dir nicht böse, Paul. Ich habe in den letzten Monaten auch das ein' oder andere Mal in diese Richtung gedacht.“
„Bleiben wir Freunde?“
„Ach, Paul, das wird kaum funktionieren, glaubst Du nicht? Dafür haben wir mittlerweile einfach nicht mehr genug Gemeinsamkeiten. Dafür denken wir in vielerlei Hinsicht zu unterschiedlich.“
„Mag sein, Hedwig. Möchtest Du hier wohnen bleiben?“
„Nein. Bleib' Du hier wohnen.“
„Und wo willst Du hin?“
„Du kennst doch Tante Gerda. Sie bewohnt ein Häuschen an der Ahr. Ihre Mieterin ist gerade ausgezogen.“
„Es tut mir leid, dass es so gekommen ist, Hedwig.“
„Mir auch, Paul. Mir auch.“
31
Noch am Tag des Anrufes von Giuseppe Scirelli lässt Dr. Rafael di Rossi seine Sekretärin einen Termin bei Klinikdirektor Dr. Maurizio Trafalgo vereinbaren.
Dr. di Rossi kann es gar nicht erwarten, die Last, die seit dem Telefonat auf seinen Schultern liegt, loszuwerden und Dr. Trafalgo das Anliegen des Gönners vom Krankenhaus Santa Maria Nuova zu offenbaren.
„Ciao, Dr. Trafalgo. Schön, dass Sie Zeit für mich haben.“
„Was liegt Ihnen auf dem Herzen, Dr. di Rossi? Sie sehen sehr besorgt aus.“
„Ich hatte einen Anruf von einem der Scirellis, von Guiseppe.“
„Guiseppe Scirelli – ein flotter Bursche.“
„Ein bisschen zu flott, würde ich sagen. Sie ahnen nicht, worum er mich gebeten hat.“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Eine entfernte Verwandte der Scirellis ist schwanger, das Kind wird aller Voraussicht nach behindert zur Welt kommen.“
„Traurig.“
„Guiseppe möchte es ohne das Wissen der Mutter ins Pflegeheim geben.“
„Der Familienstolz...“
„Genau. Unglaublich, finden Sie nicht?“
„Was will Scirelli denn von uns? Er braucht doch das Einverständnis der Eltern, wenn das Kind in ein Heim kommen soll.“
„Die Eltern sollen nichts davon wissen.“
„Bitte?!“
„Er will das, ohne das die Eltern davon etwas mitbekommen, in die Wege leiten.“
„Wie will er das denn anstellen?“
„Indem er den Eltern sagt, das Kind sei bei der Geburt gestorben.“
„Das kann er nicht machen. Denkt er nicht an das Leid der Eltern?“
„Offensichtlich nicht.“
„Ich weiß nicht, ob wir den Scirellis diesen Gefallen tun können. Ich muss darüber nachdenken.“
„Darüber nachdenken? Das heißt: Sie ziehen es in Erwägung, auf Guiseppes Forderung einzugehen?“
Dr. Trafalgo rutscht ein wenig in seinem Sessel hin und her und lässt den Kopf auf die Brust sinken.
Ohne Rafael di Rossi anzuschauen sagt er leise:
„Wissen Sie eigentlich, wie viel Geld die Scirellis uns über verschiedene Wege haben zukommen lassen? Wie sehr sie Behörden und Ämter zu unseren Gunsten beeinflusst haben?“
„Die Details kenne ich nicht, nein.“
„Würden Sie sie kennen, würden Sie vielleicht anders denken.“
„Das glaube ich mitnichten.“
„Ohne die Unterstützung der Scirellis würden viele Arbeitsplätze hier im Krankenhaus gar nicht existieren. Vielleicht auch Ihrer nicht, Dr. di Rossi.“
„Das rechtfertigt es nicht, einer Mutter ihr Kind wegzunehmen und es für tot zu erklären.“
„Dem Kind passiert doch nichts.“
„Dem Kind passiert nichts, nein?! Nur der bedauerliche Umstand, dass es ohne seine Eltern aufwächst. Und haben Sie auch einmal an die Mutter gedacht, die man glauben macht, das Kind sei verstorben? Können Sie sich vorstellen, wie das die junge Frau trifft? Wahrscheinlich ist ihr ganzes Leben zerstört.“
„Sie ist blutjung und kann ohne Probleme wieder Mutter werden.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es so.“
„Dr. Trafalgo, mich werden Sie von der Sache nicht überzeugen können, soviel steht fest.“
„Das brauche ich auch nicht, Dr. di Rossi.“
„Ich weiß.“
32
Nachdem die Krupcic-Brüder und ihr Cousin sich in einem kleinen Lokal etwas abseits der Hauptstraße gestärkt haben, treten sie den Rest des Heimweges an.
Es ist schon dunkel, als sie mit Ante das Elternhaus bei Novi Sad erreichen. Trotzdem ist deutlich zu erkennen, was hier in den letzten Monaten passiert ist.
„Ich kann nicht glauben, was ich da sehe, Ante. Wie um Himmels Willen seid Ihr denn so schnell vorangekommen?“, Borna schaut mit großen Augen auf das Haus der Eltern.
„Die ganze Familie hat geholfen. Und dank Eurem Geld konnten wir viel mehr Baumaterial kaufen, als wir gedacht hatten.“
„Aber dass es so schnell geht, hätte ich nie gedacht. Der Rohbau für das Nebenhaus steht ja schon.“
„Nicht nur das. Sogar der Fußboden ist schon gelegt. Und der Wasseranschluss ist auch schon geplant.“
Borna kommen die Tränen. Er hat die Kriegsjahre noch nicht vergessen, in denen Armut überall im Land herrschte und sich die Krupcics in diesem Haus mehr schlecht als recht über Wasser hielten.
„Ist denn unser Kinderzimmer noch so, wie es war?“ fragt Davor.
„Selbstverständlich. Eure Mutter haut doch jedem, der in Eurem Zimmer etwas verändern will, auf die Finger...“
„Unsere Majka...“, sagt Borna lächelnd und schüttelt den Kopf.
Am nächsten Morgen gönnt sich die Familie ein ausgiebiges Frühstück, bevor sich alle am Haus zu schaffen machen.
Enver Krupcic führt seine Söhne durch das gesamte Haus. Vieles ist bereits renoviert und modernisiert.
„Das haben wir alles Euch beiden zu verdanken.“
„Red' nicht so einen Blödsinn, tata“, entgegnet Borna.
„Aber es ist doch so. Ohne Euer Geld wären die Arbeiten am Haus kaum möglich gewesen.“
„Es ist doch selbstverständlich, dass wir die Familie unterstützen“, sagt Davor.
„Ihr seid zwei tolle Jungs. Ich bin mächtig stolz darauf, dass Ihr es in Deutschland geschafft habt.“
„Und wir sind stolz auf Dich, Papa. Wie Du hier in der Heimat den Laden zusammenhältst – bist ja auch nicht mehr der Jüngste...“, Borna lächelt.
„Im Anbau werden drei neue Zimmer entstehen. Genug Platz für uns alle, wenn alles fertig ist. Vorausgesetzt, Ihr wollt überhaupt zurückkehren.“
„Sicher wollen wir das, nicht wahr, Borna?“, entgegnet Davor.
Borna schweigt.
„Mein ältester Sohn scheint sich da nicht so sicher zu sein“, mutmaßt Enver.
„Ach, Papa, was soll ich sagen? Natürlich vermisse ich die Heimat, vermisse ich Euch.“
„Aber?“
„In Deutschland haben wir halt viel mehr Möglichkeiten.“
„Heißt das etwa, Du willst nicht wieder zurück, großer Bruder?“, fragt Davor erstaunt.
„Ich weiß es nicht. Die Zeit wird es zeigen. Zunächst einmal jedenfalls möchte ich Ana und die Kinder nachholen, wenn die beiden die Grundschule absolviert haben.“
„Das sollst Du auch, mein Sohn. Und wenn Du danach das Gefühl hat, in Deutschland bleiben zu wollen, hast Du auch meinen Segen.“
„Du bist der gütigste Mensch, den ich kenne, Papa.“
„Hör' auf, sonst werde ich noch rot im Gesicht.“
„Aber ich meine das genauso, wie ich es gesagt habe.“
„Und ich schließe mich dieser Meinung an“, schaltet sich Davor ein.
Enver umarmt seine Söhne.
„Es ist ein großes Glück, Kinder wie Euch zu haben. Ich liebe Euch.“
„Wir lieben Dich auch, Papa. Und nun lass uns ans Werk gehen. Schließlich sind wir nicht nur in die Heimat gekommen, um es uns gut gehen zu lassen.“
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Guiseppe Scirellis Plan steht. Er hat sowohl im Ospedale die Maria Santa Maria Nueva als als auch im Casa di Cura alles in die Wege geleitet, damit das Kind von Clarissa Schmitz, sollte es behindert zur Welt kommen, unmittelbar nachdem es das Krankenhaus verlassen kann, im Pflegeheim untergebracht wird.
Nun bedarf es nur noch der Zustimmung des Familienclans.
Guiseppe lädt alle wichtigen Personen ins Haus seines Vaters Andrea ein, um von seinem Plan zu berichten.
Gianni Scirelli, sein Sohn Paolo und dessen neue Freundin Raffaella sind die Ersten, die im Hause Andreas eintreffen.
„Ciao, zio Gianni, ciao Paolo. Und wer ist diese reizende junge Dame?“, Guiseppe lächelt Raffaella an.
„Versuch' es erst gar nicht, Guiseppe. Die gehört mir“, entgegnet Paolo. „Weißt Du, Raffaella, mein Cousin hält sich für unwiderstehlich und macht auch nicht davor halt, in der Familie zu wildern.“
Alle lachen.
„So, so“, Raffaella schüttelt den Kopf.
Mittlerweile sind auch Francesca Tardea, ihre Tochter Luisa sowie Luigi und Alberta Tardea eingetroffen.
Die Familie lässt sich im Garten des großzügigen Hauses nieder. Romina Scirelli hat den Tisch reichlich gedeckt, eine Minestrone, allerlei Antipasti, später soll noch Pasta gereicht werden.
Die Hausherrin schenkt allen Wein ein und setzt sich zu der Familie an den Tisch.
„Schön, dass Ihr alle gekommen seid“, ergreift Andrea Scirelli das Wort.
„Ihr wisst ja, worum es geht. Mein Sohn Guiseppe hat sich darum gekümmert, was aus dem kleinen Jungen werden soll, den Clarissa Schmitz erwartet.“
„Es wird ein Junge?“, fragt Francesca überrascht.
„Ja. Der deutsche Arzt, der Clarissa mit einem Ultraschallgerät untersucht hat, hat das seinem italienischen Kollegen erzählt. Clarissa weiß es noch nicht.“
„Der Kleine kommt aller Voraussicht nach behindert zur Welt.“
„Oh nein, ist das traurig“, sagt Luisa Tardea mit leiser Stimme.
„Aber nicht zu ändern“, entgegnet Guiseppe.
„Und wir wissen alle, dass die Famiglia es sich nicht leisten kann, Schwäche zu zeigen.“
„Schlimm genug, dass trotz der Ereignisse im Zweiten Weltkrieg in den mächtigen Familien immer noch dieses Denken existiert“, sagt Luigi.
„Aber so ist es halt“, kontert Guiseppe. „Es gibt in den einflussreichen Familien gewisse Regeln und an diese muss man sich halten.“
„Das wissen wir, mein Sohn. Und jetzt berichte uns von Deinem Plan, den Jungen betreffend“, fordert Andrea seinen Sohn auf.
„Clarissa und Werner Schmitz kommen schon bald nach Italien. Wir werden dafür sorgen, dass Clarissa das Kind im Santa Maria Nuova zur Welt bringt. Nach der Geburt kommt der Junge ins Casa di Cura in Bergamo, ein Zimmer im Pflegeheim wird bereits eingerichtet, eine Krankenschwester, die sich mit Neugeborenen gut auskennt, ist schon engagiert. Dem Kind wird es dort an nichts fehlen.“
„Und die Schmitzens haben ihr Einverständnis gegeben?“, fragt Gianni seinen Neffen.
„Das brauchen sie nicht. Sie werden von alledem nichts erfahren.“
„Was?“, schreit Francesca
„Sie werden nicht wissen, wo der Junge ist. So ist es besser für alle.“
„Du willst das Kind den Eltern wegnehmen? Das kann ich nicht glauben“, ereifert sich Luigi.
„Es geht nicht anders. Mir ist auch nicht wohl bei dem Gedanken und ich habe schlaflose Nächte wegen der Angelegenheit. Aber Guiseppe hat recht. Wir können dieses Kind nicht in der Famiglia aufnehmen“, pflichtet Andrea Scirelli seinem Sohn bei.
Für einige Momente herrscht Schweigen an der großen Tafel.
„Und dem Kleinen wird es dort an nichts fehlen?“, fragt Francesca.
„An gar nichts. Ich habe sogar extra einen Kinderspielplatz bauen lassen“, versucht Guiseppe, seine Tante zu beruhigen.
„Aber denkst Du denn gar nicht an die Eltern?“, fragt Raffaella.
„Für die ist es doch auch besser. Was ist das denn für ein Leben mit einem behinderten Kind“, sagt Guiseppe.
„Guiseppe!“, weist ihn seine Mutter zurecht.
„Ich werde regelmäßig hinfahren. Ich werde den Kleinen besuchen und mich um ihn kümmern“, betont Francesca.
„Das sollst Du auch, Tante, das sollst Du auch.“
„Ich weiß nicht, ob wir das Richtige tun. Gehen wir da nicht ein bisschen zu weit?“, sagt Gianni nachdenklich.
„Wir haben keine Wahl“, entgegnet Andrea.
„Doch, die hätten wir. Wenn wir diesen antiquierten Familienstolz endlich einmal in vernünftige Bahnen lenken würden“, wirft Luigi ein.
„Antiquiert nennst Du das also, Luigi, ja? Schau Dich mal um, was unsere Prinzipien, was unser Familienstolz uns alles gebracht hat an Macht, an Wohlstand und Ansehen.“
„Schon, aber...“.
„Da gibt es kein aber, kleiner Cousin.“
„Hört jetzt auf zu streiten“, unterbricht Gianni die beiden.
„Genau“, pflichtet Hausherrin Romina ihm bei.
„Ich hole jetzt die Pasta, Andrea, mach' Du uns noch zwei Fläschchen Vino auf. Und lasst uns für den Rest des Abends über angenehmere Themen sprechen.“