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Das wollte er lieber nicht. Bei ihm stand demnächst der 20. Hochzeitstag an. Er antwortete abermals mit einem kurzen »Hm.«
»Ende 1967 haben wir uns kennengelernt. Da waren Sie wahrscheinlich noch nicht einmal geboren.« Sie musterte ihn neugierig von der Seite.
Frank nickte. »Stimmt, ich bin Jahrgang 1970.«
»Dann haben Sie ja noch fast ihr ganzes Leben vor sich. Haben Sie Kinder?«
Frank seufzte. Seit einer knappen Woche waren er und seine Frau nun täglich mit ihren Freunden unterwegs, die aus Norddeutschland zu Besuch bei ihnen weilten. Das war zwar auf der einen Seite sehr schön, auf der anderen aber auch anstrengend, denn hier in Baden-Württemberg waren noch Sommerferien. Sie mussten also neben dem Programm für ihre Gäste auch für Unterhaltung ihrer Zwillinge Meike und Martha sorgen. Und es war nicht immer einfach, die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bekommen. Der Vorschlag eines Klosterbesuchs hier bei Wertheim war glücklicherweise bei allen auf Zustimmung gestoßen. Seine Frau hatte ihren Töchtern nämlich im Frühjahr eine kleine Ecke ihres heimischen Gartens zur Verfügung gestellt, welche die beiden seither mit großer Begeisterung bewirtschafteten. Ein Hinweis auf den Kräutergarten des Klosters und die Aussicht auf eine Führung hatte genügt. Für später war ein gemeinsames Essen im Restaurant in der Orangerie geplant. Da wäre Frank dann gerne wieder mit von der Partie und würde den munteren Gesellschafter mimen. Aber jetzt brauchte er einfach mal eine Pause.
Die Oma neben ihm ließ jedoch nicht locker. »Oder hat es bis jetzt noch nicht geklappt mit dem Nachwuchs?«, setzte sie mit der Indiskretion nach, die manch älteren Herrschaften zu eigen ist.
»Doch«, gab er schließlich zur Antwort. Und weil sie sogleich mit einem interessierten »Aha!« reagierte und es sowieso mit der Ruhe vorbei war, setzte er hinzu: »Zwei Mädchen, Zwillinge. Sieben Jahre alt.« Die Frage wäre sicher ohnehin gleich gekommen.
»Oh, da ist ja einiges los bei Ihnen. Unser Sohn ist in Ihrem Alter. Der ist natürlich schon seit Jahren aus dem Haus. 1992 ist er ausgezogen. Er lebt in Kassel. Er ist nicht verheiratet und Enkel habe ich leider auch keine.« Sie seufzte.
Frank trommelte mit seinen Fingern auf die Sitzfläche neben sich. Na und?, dachte er herzlos. Das war die übliche Geschichte, wahrscheinlich war es der Frau einfach langweilig. Der Sohn war weit weg und kümmerte sich vermutlich nicht um seine Eltern. Frank selber hatte sich auch schon lange nicht mehr bei seinen Erzeugern gemeldet. Und die wohnten in Wertheim, also quasi um die Ecke.
Der Gedanke an die beiden alten Leutchen und sein damit verbundenes schlechtes Gewissen stimmten ihn gnädiger. »Und Ihr Mann?«, fragte er. Warum der Alten nicht ein bisschen die Zeit mit belanglosem Geplauder vertreiben?
»Der ist tot.«
Mist, Fettnäpfchen zielgenau getroffen. »Das tut mir leid«, antwortete er lahm.
»Ach, das braucht es nicht. Ich bin froh, dass ich ihn loshabe. Er war ein Despot! Ein Tyrann!«
Oha! Was für Töne aus dem Mund dieser reizenden älteren Dame? »Das tut mir leid«, fiel ihm auch darauf keine bessere Antwort ein.
»Ach, mir tut es leid. Und zwar, dass ich mir das alles so lange habe gefallen lassen«, schlug die freundliche Seniorin selbstkritische Töne an. »Aber, wissen Sie …« Sie wandte sich zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich bin noch eine andere Generation als Sie. Da lässt man sich nicht gleich scheiden.« Ihre Knopfäuglein blickten geistesabwesend in die Ferne. »Tja, früher war nicht alles besser. Mein Vater wollte damals, dass ich Friedrich heirate. Wir hatten eine kleine Schreinerei. Familienbetrieb. Friedrichs Sippe war unser größter Lieferant. Die haben, oder besser gesagt hatten, riesige Grundstücke. Auch viel Wald. Friedrich war der einzige Sohn und handwerklich begabt. Der ideale Schwiegersohn.« Jetzt drehte sie sich wieder ihm zu und musterte ihn aufmerksam. »Meine Eltern hatten beide etwas dagegen, dass ich unseren Betrieb übernehme. Das sollte ihrer Meinung nach ein Mann machen. So waren die Zeiten damals. Eine unverheiratete Frau als Chefin in einem Schreinereibetrieb? Wer würde denn da Aufträge vergeben? Das hat mir mein Vater gleich klargemacht.« Sie ballte ihre runzeligen Hände zu Fäusten. »Ich sollte also heiraten und der passende Kandidat, Friedrich, war ja schon gefunden. Er war im richtigen Alter und brachte gleich Ländereien mit in die Ehe. Und – so schlecht sah er schließlich gar nicht aus – ›der könnte jede haben mit seinem Geld‹.« Sie atmete zitternd aus. »Das hat meine Mutter zu mir gesagt. Von wegen Solidarität unter Frauen!« Nun funkelten ihre dunklen Augen wütend. Ich hätte Nein sagen sollen. Einfach durchbrennen. Aber ich habe mich nicht getraut. Viel musste ich ja nicht tun, außer Ja sagen und möglichst bald für einen Stammhalter sorgen. Nun, wenigstens das ist mir dann gelungen.« Plötzlich klang sie, als sei sie den Tränen nahe.
»Hm.« Mehr fiel Frank nicht dazu ein. Er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Hoffentlich fing die Frau jetzt nicht an zu heulen. Er sah zu der Touristengruppe hinüber, die sich langsam durch den Abteigarten bewegte. Ein Klostermitarbeiter erklärte wild gestikulierend die dort wachsenden Pflanzen.
Der Blick der alten Dame folgte dem seinen, ihre Schultern strafften sich. »Ich hätte mein Schicksal viel früher in die eigene Hand nehmen sollen«, bedauerte sie, nun wieder mit festerer Stimme.
Ein paar Meter entfernt zupfte der Führer im Klostergarten soeben eine Nadel von einem üppigen Rosmarinbusch, zerrieb sie zwischen seinen Fingern und schnupperte daran. Dann forderte er seine Schäfchen um sich herum auf, es ihm gleichzutun.
Einen Moment schwiegen Frank und seine Sitznachbarin, während sie den Fortgang der Gartenführung beobachteten. Dann ging ein Ruck durch die Seniorin. »Wer hätte gedacht, dass das Kloster mit seinem wundervollen Garten die Lösung meines Problems sein könnte.«
Frank räusperte sich. So ganz war ihm nicht klar, worauf die Alte mit diesem Themenwechsel hinauswollte. War sie eben noch ein weinerliches Häufchen Elend gewesen, hörte sie sich nun sehr entschlossen an. Vielleicht war sie ja auch dement? Kam es da nicht immer wieder zu Stimmungsschwankungen? »Äh, sind Sie allein hier?«, fragte er nach. Womöglich war sie aus einem Pflegeheim ausgebüxt und wurde bereits verzweifelt gesucht!
»Nein, nein. Mein Sohn hat mich gefahren. Sonst bin ich ja immer mit der Bahn hierhergekommen und das Stückchen vom Bahnhof gelaufen, aber ich bin nicht mehr die Jüngste.«
»Und wo ist Ihr Sohn jetzt? Besichtigt er das Kloster?« Hoffentlich stimmte die Geschichte.
»Ja, er wollte sich die Kirche anschauen und anschließend in den Klosterladen gehen. Wissen Sie, er lebt in Kassel und kommt nicht so oft dazu, hier einzukaufen.«
Das mit Kassel hatte sie schon erwähnt.
»Er ist der Letzte, der mir von der Familie geblieben ist. Meine Eltern und Schwiegereltern sind schon lange tot. Und mein Mann musste den Betrieb schließlich verkaufen, weil Friedrich junior ihn nicht übernehmen wollte. Tja, da hat ihm sein Stammhalter nichts genutzt. Er hat ihn mit seinem Jähzorn aus dem Haus getrieben.«
Frank hatte inzwischen hinreichend mitbekommen, dass die Ehe der Dame wohl nicht glücklich gewesen war. Dann konnte sie ja froh sein, dass der werte Gatte das Zeitliche gesegnet hatte.
»Ich bin erleichtert, dass er endlich tot ist«, erklärte sie prompt und musterte ihn abermals neugierig: »Sind Sie glücklich verheiratet?«
Frank wand sich. »Was heißt schon glücklich …«
»Sie können sich scheiden lassen. Oder eine Trennung auf Probe vollziehen. Heutzutage geht das alles viel einfacher. Nicht, dass es zu meiner Zeit gar nicht möglich gewesen wäre, aber ich habe da irgendwie den richtigen Zeitpunkt verpasst.« Sie seufzte erneut tief. »Irgendwann saß ich dann da. Mit einem unzufriedenen Ehemann, den ich nie geliebt habe und der aufgrund seiner Herzprobleme unseren Betrieb verkaufen musste, weil er vorher unseren Sohn als möglichen Nachfolger mit seiner Unbeherrschtheit vertrieben hatte.«
Was sollte er dazu noch sagen? Frank schwieg. Seine eigene Ehe wollte er hier und jetzt lieber nicht diskutieren. Schon gar nicht mit einer leicht verwirrten Alten. Denn durcheinander schien seine Sitznachbarin ihm schon zu sein. Zumindest ein kleines bisschen.
»Ich saß also da«, wiederholte sie. »Mit einem unzufriedenen kranken Mann, der außer mir niemanden hatte, den er mit seinen Launen quälen konnte. Was sollte ich da tun?« Das war natürlich eine rhetorische Frage. Wieder vergingen ein paar Sekunden des Schweigens, bevor sie sich ein weiteres Mal Frank zuwandte. Ihr Gesicht näherte sich seinem Ohr. Ihr Atem kitzelte seine Wange. »Wissen Sie, was ich getan habe?«
»N… nein.« Er versuchte auszuweichen.
Pause.
»Ich hab ihn umgebracht.« Sie lehnte sich wieder zurück und verschränkte selbstzufrieden die Arme vor der Brust.
»Aha.« Also war sie doch ein wenig mehr als nur ein bisschen verwirrt. Er rutschte weiter weg von ihr.
»Das war wirklich ganz einfach. Er war ja herzkrank. Hatte ich das schon erwähnt? Schon seit vielen Jahren, aber er ist einfach nicht gestorben.« Jetzt lachte sie leise und es klang durchaus fröhlich. »Und da kam es mir zugute, dass ich mich schon immer für Pflanzenkunde interessiert habe.« Sie deutete in Richtung der Besuchergruppe, die sich wie aufs Stichwort um eine blau blühende Blume gruppierte. »Eisenhut.«
Frank saß bereits auf der äußersten Kante der Bank, weiter konnte er nicht von ihr abrücken. Die Alte war nicht nur ein wenig, nein, sie war komplett durchgeknallt!
»Der Eisenhut ist die giftigste Pflanze Europas«, referierte sie vermutlich dasselbe, was der Führer drüben soeben seinen interessierten Zuhörern erzählte. »Aufgrund ihres extrem hohen Giftgehalts darf sie gar nicht als normales Heilkraut verwendet werden. Nur in der Homöopathie findet sie Anwendung.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie sprach.
Ob das Anzeichen von Demenz waren? Oder war sie einfach »nur« verrückt?
»Alle Teile des Eisenhuts sind giftig. Hochgiftig!«, wusste die mörderische Seniorin weiter. »Vor allem aber die Wurzel und die Samen. Deshalb habe ich auch eine Wurzel von der Pflanze dort drüben ausgegraben.« Sie kicherte, während sie in Richtung der schönen blauen Blütenstauden wies. »Und wissen Sie, was dabei passiert ist?«, juchzte sie.
»Äh, nein.« Sie wurde dabei erwischt? Bekam Hausverbot? Man hat sie festgesetzt und im Kloster eingesperrt, um sie zur Vernunft zu bringen? Franks Gedanken rasten. Er konnte einfach nicht glauben, was er da gerade hörte.
»Stellen Sie sich vor: Ich habe meinen Ehering verloren. Ein schmaler goldener Ring ohne Steine, mehr war ich meinem Mann wohl nicht wert.« Triumphierend zeigte sie ihm ihre runzelige, leicht verkrümmte und vor allem unberingte Hand. »Das muss beim Ausgraben der Wurzel passiert sein. Wenn das kein Zeichen ist!«
»Dann weiß ich es auch nicht«, murmelte Frank verstört. Er sah sich um. Waren hier irgendwo Krankenpfleger unterwegs, die nach ihrer verloren gegangenen Patientin suchten?
Die Alte neben ihm lachte derweil vergnügt weiter. »Und dann war es ganz einfach. Friedrich hat schon immer alles aufgegessen, was ich ihm vorgesetzt habe. Deshalb hatte er auch ein bisschen Übergewicht. Er hat zwar, als ich ihm sein Essen vorgesetzt habe, rumgenörgelt. So wie sonst auch immer. Dass es ihm nicht schmeckt, dass es zu kalt oder zu heiß wäre. Aber gegessen hat er es trotzdem. Immer. Dieses Mal auch. Und endlich«, sie machte eine Kunstpause, »ist mein geliebter Gatte nach langer und schwerer Krankheit von uns gegangen!«
»Oh!« Die hatte definitiv nicht mehr alle Tassen im Schrank. Die erzählte ihm doch Märchen! Gut möglich, dass sie selber an das glaubte, was sie von sich gab, aber so ein Giftmord würde doch niemals unentdeckt bleiben.
»Ich musste Friedrich nur ein kleines bisschen sauber machen und herrichten, bevor ich unseren langjährigen Hausarzt angerufen habe. Der hat dann gar nicht lange gefackelt und einen natürlichen Tod attestiert. Mein Mann war ja auch schon lange herzkrank – was sollte er ihn dann noch großartig untersuchen. Zumal Friedrich, was die Ernährung anging, immer schon so unvernünftig war. Ich hatte dem alten Doktor öfter mein Leid deshalb geklagt.« Die dunklen Knopfaugen funkelten ihn an. »Sie sehen, ich habe an alles gedacht!«
Frank nickte langsam.
»Und ich bereue nichts«, fuhr die Alte fort. »Außer vielleicht, dass ich es nicht schon früher getan habe.«
»Dass du was nicht schon früher getan hast?«
Frank schrak zusammen. Ein modisch gekleideter Mann in etwa seinem Alter war hinter sie getreten und legte nun eine Hand auf die Schulter seiner Gesprächspartnerin.
»Das ist mein Sohn«, stellte die Frau den Fremden vor und legte ihrerseits eine Hand auf seine. »Hast du etwas Schönes gekauft?«, fragte sie.
»Eine Kiste Wein. Die ist schon im Auto.« Der Mann umrundete die Bank und bot seiner Mutter den Arm. »Hat Sie Ihnen wieder Schauermärchen erzählt, wie Sie meinen Vater angeblich um die Ecke gebracht hat?«, wandte er sich an den sichtlich verstörten Frank, der kaum merklich zustimmend den Kopf neigte.
»Rede nicht über mich, als wäre ich nicht da«, begehrte seine Mutter auf. »Oder als sei ich nicht zurechnungsfähig! Pah! Ich habe dem netten jungen Herrn nur erzählt, wie ich mein Schicksal endlich selbst in die Hand genommen habe. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Sie erhob sich ächzend und sah ein letztes Mal zu den blauen Blumenstauden hinüber, die ganz unschuldig dastanden. Die Gartenführung war inzwischen beendet, die Besuchergruppe zerstreute sich gerade. »Machen Sie es gut«, verabschiedete sich die alte Dame von Frank.
Ihr Sohn warf einen entschuldigenden Blick über seine Schulter zurück. Dann führte er seine Mutter in Richtung Ausgang davon.
Frank atmete auf und lehnte sich zurück. Dabei entspannte er sich endlich. Einen Moment lang hatte er doch tatsächlich geglaubt, neben einer Giftmörderin zu sitzen. Jetzt musste er über sich selbst lachen.
»Na, was gibt es so Lustiges?« Diesmal war es seine Frau, die zu ihm trat, dicht gefolgt von ihren Freunden aus Bremerhaven.
»Ach, nichts«, antwortete Frank. »Wie war die Führung durch den Klostergarten?«
Begeistert hüpften die Zwillinge heran. »Spitzenmäßig obercool!«, meinte Meike.
»Supertoll!«, ergänzte Martha. »Und schau mal, was wir gefunden haben!« Sie streckte ihrem Vater ihre Faust entgegen und öffnete sie mit großer Geste, um einen schmalen goldenen Ring zu offenbaren. »Der lag in der Erde, bei der schönen blauen Pflanze. Dürfen wir den behalten?«
»Auf keinen Fall«, schaltete Franks Frau sich ein und nahm das Schmuckstück an sich. »Wir gehen jetzt sofort Hände waschen. Diese schöne blaue Pflanze ist nämlich hochgiftig. Kommt!«, forderte sie die murrenden Zwillinge auf. Sie trieb die beiden Mädchen in Richtung der Verwaltungsgebäude. Die Freunde aus Norddeutschland schlossen sich mit einem Nicken an.
»Passt du bitte solange darauf auf? Ich gebe ihn nachher bei der Verwaltung ab – der wird sicher schon vermisst.« Seine Frau war noch einmal zurückgelaufen und übergab Frank den Ring. Dann eilte sie ihren Töchtern nach, die schon wieder vom Weg abkamen.
Frank blickte dem kleinen Grüppchen hinterher. Er besah sich das Schmuckstück in seiner Hand genauer. Trotz der sommerlichen Temperaturen fröstelte ihn plötzlich, als er die Gravur im Inneren las: »Maria und Friedrich, 19.07.1968«.
03 – Es lebe die Freundschaft
(Tauberbischofsheim;
Kurmainzisches Schloss)
»Hallo, liebe Hörerinnen und Hörer, die sich gerade zugeschaltet haben. Sie hören Radio Te-Be-Be auf UKW, die frische Welle aus dem Taubertal. Heute feiern wir den Tag der Freundschaft. Und da habe ich auch gleich einen ganz besonderen Ohrwurm für Sie: ›Friends Will Be Friends‹ von Queen.«
Er schaltete das Radio aus. Freunde! Dass er nicht lachte! Wenn man einen brauchte, war eh keiner da. Das hatte er in den letzten Monaten schmerzlich erfahren müssen. Als sein Vater gestorben war und er plötzlich allein mit dem Laden dastand.
Ein guter Geschäftsmann war er nie gewesen und auch das Handwerkliche lag ihm nicht besonders. Letzteres hatte immer sein Vater erledigt, für die Buchführung war seine eigene Frau zuständig gewesen. Seine Ex-Frau, um genau zu sein. Sie hatte ihn verlassen, nachdem es mit dem Geschäft immer schlechter gelaufen war. Ihm selber lag eher die künstlerische Seite des Juwelierberufs, und eben leider nur die. Er entwarf exquisite Einzelstücke. Bedauerlicherweise waren die solventen Käufer dafür dünn gesät und würden nicht ausreichen, um ihn vor der drohenden Insolvenz zu bewahren. Die Tage seines Juwelierladens waren gezählt. Nicht mehr lange und er würde ein letztes Mal aus dessen Tür treten, sie abschließen und darauf warten, dass sich endlich das Gitter vor dem Eingang gesenkt hatte. Und dabei würde er ganz allein sein … Von wegen Freunde!
*
»Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt …«, schallte es aus dem Autoradio. Paul-Friedrich Osterwald sang dröhnend und vor allem falsch mit.
»Mach das Gedudel aus und halt die Fresse, das kann man ja nicht mit anhören!«, blaffte sein Kumpel Alfred Haberstroh vom Rücksitz.
»Och, Alfi!«
Der bullige Mittdreißiger hasste es, »Alfi« genannt zu werden. Wenn man seinen Namen schon abkürzen musste, dann »Fred« oder seinetwegen auch »Alf«, aber keinesfalls, unter keinen Umständen »Alfi«! Da hörte die Freundschaft auf, die sein Kumpel Paul und die Comedian Harmonists weiterhin lautstark und unermüdlich besangen.
»… und biiist du auch betrübt, weil dein Schatz dich nicht mehr liebt …«
Sehnsüchtig betrachtete Alfred die beiden Waffen in dem aufgeklappten Aktenkoffer auf dem Rücksitz neben sich. Zwei Walther P5. Es juckte ihn in den Fingern, Paul eine davon an die spärlich behaarte Schläfe zu halten und ihn damit zur Ruhe zu zwingen. Aber er beherrschte sich. Paul-Friedrich war sowieso schon nicht der beste Autofahrer, da wollte er ihn nicht noch weiter aus dem Konzept bringen. Wie zur Bestätigung seiner Gedanken machte der Wagen einen unkontrollierten Schlenker auf die Gegenfahrbahn. Ein sich nähernder Lkw reagierte mit Lichtzeichen.
»Ups!« Paul steuerte gegen und holperte kurz über den Grünstreifen neben dem rechten Fahrbahnrand. Beinahe hätte er einen Leitpfosten mitgenommen.
Alfred Haberstrohs Hand fuhr unwillkürlich an den Haltegriff über der Seitenscheibe. »Pass doch auf!«
Der Lastwagenfahrer passierte sie mit kreischender Hupe. Der Wagen schlingerte.
»Und mach endlich das Gedudel aus!« Inzwischen umklammerte Fred den Griff mit beiden Händen.
»Gute Freunde kann niemand trennen …«, verkündete Franz Beckenbauer derweil aus dem Rundfunkgerät.
»Die haben heute das Thema Freundschaft auf Radio Te-Be-Be«, erklärte Paul. Überflüssigerweise. Anders war die eigenwillige Musikmischung seines Lieblingssenders nicht zu erklären.
Fred stöhnte.
»… gute Freunde sind nie allein …«, wusste der »Kaiser« weiter.
Paul brachte den in die Jahre gekommenen Golf endlich wieder in die Spur und gab sogleich erneut Gas.
Sie näherten sich dem Ortsschild von Tauberbischofsheim.
»Fahr nicht so schnell! 50 sind hier erlaubt«, nörgelte Fred.
Abrupt trat Paul auf die Bremse. Hinter ihnen setzte augenblicklich ein weiteres Hupkonzert ein.
»… füreinander da zu sein!«, pries Beckenbauer unbeeindruckt die Vorteile der Freundschaft.
Bei Alfred war es mit derselben gleich vorbei. »Jetzt stell endlich das Gejammere ab. Das grenzt ja an Körperverletzung!« Seine Hände, die er gerade vorsichtig vom Haltegriff zurückgezogen hatte, zuckten nun wieder in Richtung der beiden Handfeuerwaffen neben sich. Warum hatte er sich auch nicht beherrschen können? Er hatte es immer gewusst, dass Rauchen ungesund war. Trotzdem war er vorletzten Samstag noch mal spätabends losgefahren, um Zigaretten zu holen. Eigentlich hatte er schon lange damit aufgehört, also mit dem Rauchen. Aber nach ein paar Bierchen war er schwach geworden. Und dann hatte er es auf dem Rückweg gar nicht abwarten können: Er hatte sich gleich eine anzustecken versucht. Dabei war er ins Schlingern gekommen, hatte das Polizeifahrzeug zu spät gesehen und … jetzt hatte er keinen Führerschein mehr. Er ärgerte sich über seine Unbeherrschtheit, das hatte er nun davon. »Halt! Siehst du nicht, es ist rot!«, brüllte er seine Wut heraus.
Mit quietschenden Reifen kamen sie zum Stehen. Der Motor erstarb.
»… und scheiß auf ›Freunde bleiben‹«, zog im Radio Revolverheld jetzt andere Saiten auf, bevor Paul endlich ausschaltete.
»Eine bunte Mischung, da ist für jeden was dabei«, lobte er den lokalen Sender unbeirrt.
Die Ampel schaltete auf Grün. Paul nestelte am Zündschlüssel und würgte erneut den Motor ab. Hinter ihnen begann schon wieder jemand zu hupen.
Endlich setzten sie sich in Bewegung. Im Schneckentempo fuhren sie nun durch die Straßen von Tauberbischofsheim. Der ungeduldige Verkehrsteilnehmer von eben zog, immer noch hupend, bei der nächsten Gelegenheit an ihnen vorbei und drohte mit der Faust.
Fred ballte die seinen gleichfalls, allerdings im Schoß. »Was ist, findest du den zweiten Gang nicht?«, knirschte er.
»Äh, ich dachte …«
»Überlass das Denken mir!«, fuhr Fred ihm über den Mund. »Hier, jetzt rechts«, dirigierte er kurz darauf.
Munter setzte Paul den Blinker und bog zügig nach links ab.
Sein Kumpel schnaufte mühsam beherrscht durch. »Ich hätt’ es mir denken können«, murmelte er vor sich hin. »Das andere rechts«, sagte er laut. »Und jetzt mach hinne. Die schließen um sechs.«
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Paul endlich gewendet hatte. Glücklicherweise war in dieser Gegend kein Verkehr mehr. Es waren Sommerferien, die Leute waren verreist oder tummelten sich in der Innenstadt. Die Grundschule, die sie kurz darauf passierten, lag wie ausgestorben da.
»Weißt du noch, damals?«, schwelgte Paul-Friedrich mit Blick auf das Schulgebäude in Erinnerungen.
»Hm«, brummte Alfred Haberstroh. Er wollte lieber nicht daran denken. Sie waren beide Außenseiter gewesen. Er als Wiederholer und Paul als der Neue mit dem komischen Dialekt, zugezogen aus Norddeutschland. Dabei war es geblieben, der vierschrötige Alfred legte keinen Wert auf den Kinderkram der anderen und Paul machte sich durch seine Tollpatschigkeit genauso wenig beliebt. Er ließ kein Fettnäpfchen aus und verriet, wenn auch zumeist unabsichtlich, jedes Geheimnis. Trotzdem hatte Fred ihn immer wieder für seine Zwecke eingespannt. Einfach deshalb, weil er der Einzige war, der seine Betrügereien mitmachte. So hatten sie sich mit vereinten Kräften durch die Schulzeit geschlagen, teilweise im wahrsten Sinne des Wortes, zumindest was Alfred betraf.
Danach waren gemeinsame Aktivitäten seltener geworden. Paul gelang es, einen Ausbildungsplatz zum Landschaftsgärtner zu ergattern. Fred hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Man traf sich manchmal freitagnachts in der Kneipe. Paul berichtete dann immer von seinen diversen weiblichen Internetbekanntschaften. Keiner dieser Flirts hielt lange. Früher oder später kamen die Frauen dahinter, mit was für einem Chaoten sie ausgegangen waren, und beendeten die Beziehung. Und es dauerte ebenfalls nicht allzu lange, bis Pauls Arbeitgeber herausfand, dass der neue Azubi statt über einen grünen Daumen leider nur über zwei linke Hände verfügte, und sich deshalb nach Beendigung der Lehrzeit von ihm trennte.
Die Treffen in der Kneipe nahmen daraufhin zu und Alfred bezog Paul wieder öfter in seine, zum Großteil kriminellen, Machenschaften mit ein. Der war willig, aber nach wie vor geschwätzig. Das brachte Fred schließlich einen sechsmonatigen Gefängnisaufenthalt, aber auch neue Kontakte ein. Und einer dieser neuen Bekannten hatte ihm den Tipp mit dem Juwelier am Schlossplatz gegeben. Der fertigte nämlich in seiner Werkstatt ausgesuchte Einzelstücke an und das Material dazu wurde jeweils montagnachmittags geliefert. Montags war der Inhaber außerdem allein im Laden und der Schlossplatz kaum besucht, da das namensgebende Kurmainzische Schloss samt des darin befindlichen Tauberfränkischen Landschaftsmuseums an diesem Tag für Besucher geschlossen war. Ebenso wie der anliegende Türmersturm, ein weiterer Bestandteil der ehemaligen Wasserburg.






