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Barbara Hare schlug den Weg in die fragliche Richtung mit unaussprechlicher Furcht ein, mit einem unbestimmten Gefühl des Bösen, das ihr sinkendes Herz erfüllte. Darunter mischte sich eine Welle des Entsetzens, eine Angst vor jenem anderen unbestimmten Bösen – dem Bösen, von dem Mrs. Hare behauptet hatte, es sei durch ihren Traum angekündigt worden.
Kapitel 4 Ein Gespräch im Mondschein
Kalt und still lag das alte Haus im Mondlicht. Der Mond hatte nie heller geschienen; er erleuchtete den weitläufigen Garten, erleuchtete sogar hoch oben den Wetterhahn, warf seinen Schein auf die Terrasse und auf jeden, der sich dort zeigte. Barbara Hare hatte sich vom Haus zur Veranda geschlichen, den Blick angestrengt und voller Furcht auf das Gehölz am Ende des Gartens gerichtet. Was war dort zwischen den Bäumen hervorgetreten und hatte ihr rätselhafte Zeichen gegeben, als sie am Fenster stand und starrte, bis ihr Herz krank wurde? War es ein Mensch, der noch mehr Unheil in das Haus bringen würde, wo doch schon so viel Unheil geschehen war? War es ein übernatürlicher Besucher oder hatte nur ihr eigenes Sehvermögen sie getäuscht? Letzteres sicher nicht, denn jetzt trat die Gestalt wieder hervor und machte ihr die gleichen Zeichen wie zuvor; mit bleichem Gesicht und zitternden Gliedern zog Barbara den Schal enger um sich und ging im Mondlicht den Weg hinunter. Als sie näher kam, zog sich die winkende Gestalt in den dunklen Schatten zurück. Barbara blieb stehen.
„Wer oder was sind Sie?“, fragte sie atemlos. „Was wollen Sie?“
„Barbara“, lautete die geflüsterte, eifrige Antwort, „erkennst du mich nicht?“
Sie erkannte ihn nur allzu gut – auf jeden Fall die Stimme. Ihr entschlüpfte ein Schrei, der mehr von Kummer als von Sorge sprach, aber beides verriet. Sie trat zwischen die Bäume und brach in Tränen aus, als jemand in der Kleidung eines Landarbeiters sie in die Arme schloss. Trotz des Bauernkittels, des strohumrandeten Hutes und des falschen, rabenschwarzen Schnurrbartes erkannte sie ihren Bruder.
„Ach, Richard! Woher kommst du? Was führt dich hierher?“
„Hast du mich erkannt, Barbara?“, lautete seine Antwort.
„Wie konnte ich – in dieser Verkleidung? Mir ist der Gedanke durch den Kopf gegangen, es könne jemand in deinem Auftrag sein, und schon dabei wurde mir vor Entsetzen ganz schlecht. Wie kannst du ein solches Risiko eingehen und hierher kommen?“ Sie rang die Hände. „Wenn du entdeckt wirst, ist es dein sicherer Tod; der Tod am … du weißt schon!“
„Am Galgen“, gab Richard Hare zurück. „Das weiß ich, Barbara.“
„Warum riskierst du es dann? Wenn Mama dich sieht, bringt es sie regelrecht um.“
„Ich kann nicht immer so leben, wie ich jetzt lebe“, antwortete er düster. „Ich habe seither in London gearbeitet …“
„In London!“, unterbrach Barbara.
„In London, und ich habe mich nie aus der Stadt gewagt. Aber es ist harte Arbeit, und jetzt besteht die Aussicht, dass es mir besser geht, wenn ich ein wenig Geld auftreiben kann. Vielleicht kann meine Mutter dafür sorgen, dass ich es bekomme; ich bin hier, um darum zu bitten.“
„Wie arbeitest du? Und wo?“
„In einem Pferdestall.“
„Einem Pferdestall!“, stieß sie mit zutiefst erschrockener Stimme hervor. „Richard!“
„Hast du erwartet, dass ich als Kaufmann komme, oder als Bankier, oder vielleicht als Sekretär eines Ministers ihrer Majestät – oder dass ich im Großen und Ganzen ein Gentleman bin und von meinem Vermögen lebe?“, gab Richard Hare in einem Ton des bekümmerten Überdrusses zurück, den zu hören schmerzhaft war. „Ich bekomme zwölf Schilling die Woche, und das muss mir für alles reichen!“
„Armer Richard, armer Richard!“, wimmerte sie, wobei sie seine Hand streichelte und darüber Tränen vergoss. „Ach, was war das für ein Werk einer grauenvollen Nacht! Wir haben nur einen Trost, Richard: Du musst die Tat im Wahn begangen haben.“
„Ich habe sie überhaupt nicht begangen“, erwiderte er.
„Was?“, rief sie aus.
„Barbara, ich schwöre, dass ich unschuldig bin; ich schwöre, dass ich nicht anwesend war, als der Mann ermordet wurde; ich schwöre, dass ich aufgrund meiner eigenen Kenntnis und dessen, was ich gesehen habe, nicht besser weiß als du, wer es getan hat. Es reicht mir, eine Vermutung zu haben; und meine Vermutung ist so sicher und wahr wie die, dass der Mond am Himmel steht.“
Barbara schauderte, als sie näher zu ihm trat. Es war ein Thema zum Schaudern. „Du willst doch sicher nicht die Schuld auf Bethel schieben?“
„Bethel!“, gab Richard Hare leichthin zurück. „Er hatte nichts damit zu tun. Er war in dieser Nacht nur auf seine Fallen und Schlingen aus, Wilderer, der er ist!“
„Bethel ist kein Wilderer, Richard.“
„Ach nein?“, gab Richard vielsagend zurück. „Die Wahrheit darüber, was er ist, könnte irgendwann ans Licht kommen. Ich wünsche mir nicht, dass sie ans Licht kommt; der Mann hat mir nichts getan, und wenn es nach mir geht, kann er bis zum jüngsten Gericht ungestraft weiter wildern. Er und Locksley …“
„Richard“, unterbrach ihn seine Schwester im Flüsterton, „Mama hat eine fixe Idee, und die kann sie nicht loswerden. Sie ist sicher, dass Bethel etwas mit dem Mord zu tun hat.“
„Dann hat sie Unrecht. Warum glaubt sie das?“
„Wie die Überzeugung ursprünglich entstanden ist, kann ich dir nicht sagen; ich glaube, das weiß sie selbst nicht. Aber denke daran, wie schwach und fantasievoll sie ist, und seit jener entsetzlichen Nacht hat sie immer wieder ‚Träume‘, wie sie es nennt – das heißt, sie träumt von dem Mord. In allen diesen Träumen spielt Bethel die Hauptrolle; und sie sagt, sie spürt mit absoluter Sicherheit, dass er auf diese oder jene Weise darin verwickelt war.“
„Barbara, er war darin nicht mehr verwickelt als du.“
„Und … du sagst, du warst es nicht?“
„Ich war zu der Zeit nicht einmal in dem Häuschen; das schwöre ich dir. Der Mann, der es getan hat, war Thorn.“
„Thorn!“, gab Barbara zurück, wobei sie den Kopf hob. „Wer ist Thorn?“
„Das weiß ich nicht. Ich wüsste es auch gern; ich würde ihn gern ausfindig machen. Er war ein Freund von Afy.“
Barbara warf mit einer hochfahrenden Bewegung den Kopf zurück. „Richard!“
„Was?“
„Du vergisst dich, wenn du mir gegenüber diesen Namen erwähnst.“
„Nun ja“, gab Richard zurück, „ich wollte nicht über diese Dinge sprechen, mit denen ich mich selbst in Gefahr gebracht habe; und meine Unschuld zu beteuern, nützt nichts; das Urteil des Coroners – ‚vorsätzlicher Mord durch Richard Hare, den Jüngeren‘– kann ich nicht beiseite schieben. Ist mein Vater über mich immer noch so verbittert wie früher?“
„Ganz und gar. Er erwähnt deinen Namen nie und erträgt es auch nicht, dass er genannt wird; den Dienstboten hat er die Anweisung gegeben, ihn in seinem Haus nie wieder auszusprechen. Eliza konnte oder wollte sich nicht erinnern und bestand darauf, dein Zimmer als ‚das von Mr. Richard‘ zu bezeichnen. Ich glaube, die Frau hat es nicht boshaft, sondern nur achtlos gesagt, um Papa zu provozieren; sie war eine gute Dienerin, und wie du weißt, war sie drei Jahre bei uns. Als sie die Übertretung das erste Mal beging, hat Papa sie verwarnt; beim zweiten Mal hat er sie ausgeschimpft, wie sonst niemand in der Welt jemanden ausschimpfen kann; und beim dritten Mal hat er sie vor die Tür gesetzt und ihr nicht einmal erlaubt, ihre Haube aufzusetzen; einer der anderen hat ihr Haube und Schal ans Tor gebracht, und ihre Koffer wurden noch am gleichen Tag abgeschickt. Papa hat einen Eid geschworen – hast du davon gehört?“
„Was für einen Eid? Er hat viele Eide geleistet.“
„Dieser war sehr feierlich, Richard. Nachdem das Urteil gesprochen war, schwor er noch im Gerichtssaal in Gegenwart seiner Magistratskollegen, wenn er dich jemals finden würde, würde er dich der Justiz übergeben, und das würde er auf jeden Fall tun, auch wenn du vielleicht in den kommenden zehn Jahren nicht wieder auftauchst. Du kennst seinen Charakter, Richard, und deshalb kannst du sicher sein, dass er sein Versprechen halten wird. Es ist wirklich sehr gefährlich für dich, hier zu sein.“
„Ich weiß, er hat mich nie behandelt, wie er mich hätte behandeln sollen“, sagte Richard verbittert. „Vielleicht war meine Gesundheit empfindlich, sodass meine arme Mutter mich verhätschelt hat, aber war das ein Grund, mich bei jeder nur denkbaren Gelegenheit öffentlich und privat lächerlich zu machen? Hätte ich ein glücklicheres Zuhause gehabt, ich hätte mir nicht anderswo Gesellschaft suchen müssen. Barbara, es muss mir ermöglicht werden, ein Gespräch mit meiner Mutter zu führen.“
Barbara dachte nach, bevor sie antwortete. „Ich wüsste nicht, wie sich das einrichten ließe.“
„Warum kann sie nicht herauskommen wie du? Ist sie auf den Beinen, oder liegt sie im Bett?“
„Heute Abend ist daran nicht zu denken“, gab Barbara mit beunruhigtem Tonfall zurück. „Vater kann jeden Augenblick kommen; er hat den Abend bei Beauchamp verbracht.“
„Es ist schwer, achtzehn Monate von ihr getrennt zu sein und dann zurückzufahren, ohne sie zu sehen“, erwiderte Richard. „Und wie steht es mit dem Geld? Ich hätte gern hundert Pfund.“
„Du musst morgen Abend wieder hier sein, Richard; das Geld kannst du bekommen, das steht außer Zweifel, aber was das Treffen mit Mama angeht, bin ich nicht sicher. Ich habe entsetzliche Angst um deine Sicherheit. Aber wenn es so ist, wie du sagst, und wenn du unschuldig bist“, fügte sie nach einer Pause hinzu, „ließe sich das nicht beweisen?“
„Wer sollte es beweisen? Die Indizien sprechen eindeutig gegen mich; und wenn ich Thorn erwähne, wäre er für alle anderen ein Mythos; niemand wusste etwas über ihn.“
„Ist er ein Mythos?“, fragte Barbara leise.
„Sind du und ich Mythen?“, gab Richard zurück. „Zweifelst also sogar du an mir?“
„Richard“, rief sie plötzlich, „warum sprechen wir nicht mit Archibald Carlyle über die ganze Angelegenheit? Wenn irgendjemand dir helfen oder etwas unternehmen kann, um deine Unschuld zu beweisen, dann er. Und du weißt, dass er so aufrichtig ist wie Gold.“
„Das Geheimnis, dass ich hier bin, sollte man keinem lebenden Menschen anvertrauen außer Carlyle. Was glauben die anderen eigentlich, wo ich bin, Barbara?“
„Manche meinen, du seist tot; andere nehmen an, dass du in Australien bist; schon die Unsicherheit hat Mama beinahe umgebracht. Ein Gerücht machte die Runde, du seist in Liverpool auf einem Schiff gesehen worden, das nach Australien auslaufen sollte, aber wir konnten dahinter keinen wahren Kern finden.“
„Es hatte keinen. Ich habe mich nach London durchgeschlagen, und dort bin ich geblieben.“
„Und du arbeitest in einem Pferdestall?“
„Etwas Besseres hatte ich nicht. Ich habe keine Ausbildung, aber von Pferden verstehe ich etwas. Außerdem ist ein Mann, hinter dem die Polizeispitzel her sind und den sie für einen Gentleman halten, im Verborgenen sicherer als …“
Barbara drehte sich plötzlich um und legte ihrem Bruder die Hand auf den Mund. „Still, um Gottes willen“, flüsterte sie. „Papa kommt.“
Man hörte, wie sich Stimmen dem Gartentor näherten – es waren die Stimmen des Richters Hare und des Squire Pinner. Letzterer ging weiter, Hare kam herein. Bruder und Schwester kauerten sich zusammen und wagten kaum zu atmen; beinahe hätte man Barbaras Herz pochen hören. Mr. Hare schloss das Gartentor und ging den Kiesweg hinauf.
„Ich muss gehen, Richard“, sagte Barbara hastig. „Ich wage es nicht, auch nur noch eine Minute zu bleiben. Kommʼ morgen Abend wieder hierher; in der Zwischenzeit werde ich sehen, was ich tun kann.“
Sie wollte davoneilen, aber Richard hielt sie zurück. „Es scheint, als würdest du mir meine Versicherung, dass ich unschuldig bin, nicht glauben. Barbara, wir sind hier allein in der stillen Nacht, und über uns ist nur Gott; so wahr du und ich Ihm eines Tages gegenübertreten müssen: Ich habe die Wahrheit gesagt. Thorn hat Hallijohn ermordet, und ich hatte nicht das Geringste damit zu tun.“
Barbara eilte aus dem Gehölz davon, aber Mr. Hare war bereits im Haus und verriegelte die Tür. „Lass mich hinein, Papa“, rief sie.
Der Richter öffnete die Tür noch einmal, streckte seine flachsblonde Perücke und die Adlernase hinaus und starrte Barbara mit verblüfften Blicken an.
„Hallo! Was führt dich in dieser nächtlichen Stunde ins Freie, junge Dame?“
„Ich bin zum Gartentor gegangen und habe Ausschau nach dir gehalten, und dann bin ich … bin ich … den Seitenweg entlang gegangen. Hast du mich nicht gesehen?“
Barbara war in Wesen und Gewohnheiten aufrichtig; aber wie konnte sie es in einem solchen Fall die Heimlichtuerei vermeiden?
„Danke, Papa“, sagte sie, während sie eintrat.
„Du solltest schon seit einer Stunde im Bett sein“, lautete die verärgerte Antwort des Richters Hare.
Kapitel 5 Mr. Carlyles Kanzlei
Im Zentrum von West Lynne standen zwei aneinander gebaute Häuser, das eine groß, das andere viel kleiner. Das große Haus war der Wohnsitz der Carlyles, das kleinere beherbergte die Carlyle-Büros. Der Name genoss in der Grafschaft einen hervorragenden Ruf; Carlyle und Davidson waren als erstklassige Vertreter ihres Berufsstandes bekannt; kleinliche Winkeladvokaten waren sie nicht. Carlyle und Davidson hatten sie in vergangenen Tagen geheißen; jetzt war es Archibald Carlyle. Die alten Inhaber waren Schwäger gewesen – die erste Mrs. Carlyle war Mr. Davidsons Schwester. Sie war gestorben und hatte ein Kind hinterlassen. Die zweite Mrs. Carlyle starb bei der Geburt ihres Sohnes Archibald; seine Halbschwester zog ihn groß, liebte ihn und bestimmte über ihn. Sie hatte für ihn die ganze Autorität einer Mutter; eine andere hatte der Junge nicht gekannt, und als kleines Kind hatte er sie Mama Corny genannt. Mama Corny hatte ihm gegenüber ihre Pflicht getan, das stand außer Zweifel; aber Mama Corny hatte auch ihre Herrschaft nie gelockert: Noch heute herrschte sie in großen wie in kleinen Dingen mit eiserner Faust über ihn, wie sie es in den Tagen seines Säuglingsalters getan hatte. Und Archibald fügte sich im Allgemeinen, denn die Macht der Gewohnheit ist stark. Corny war eine Frau von energischem Gespür, aber in manchen Dingen mit schwachem Urteilsvermögen; die beherrschenden Leidenschaften ihres Lebens waren die Liebe zu Archibald und die Liebe zum sparsamen Umgang mit Geld. Mr. Davidson war früher gestorben als Mr. Carlyle, und sein Vermögen – geheiratet hatte er nie – wurde zu gleichen Teilen unter Cornelia und Archibald geteilt. Archibald war für ihn kein Blutsverwandter, aber er liebte den aufgeschlossenen Jungen mehr als seine Nichte. Von Mr. Carlyles großem Besitz ging ein kleiner Teil an seine Tochter, der Rest an seinen Sohn; darin lag vielleicht eine gewisse Gerechtigkeit, denn die zwanzigtausend Pfund, die Mr. Carlyles zweite Frau mit in die Ehe gebracht hatte, waren der wesentliche Grundstock für die Anhäufung seines großen Vermögens gewesen.
Miss Carlyle oder Miss Corny, wie sie im Ort genannt wurde, hatte nie geheiratet; es war ziemlich sicher, dass sie auch nie heiraten würde; man glaubte, die innige Liebe zu ihrem jüngeren Bruder habe dazu geführt, dass sie allein geblieben war, aber dass es der Tochter des reichen Mr. Carlyle an Angeboten gemangelt hätte, war unwahrscheinlich. Andere junge Frauen bekennen sich zu weichen, zärtlichen Gefühlen. Nicht so Miss Carlyle. Alle, die sich ihr mit liebeskranken Worten genähert hatten, waren schnell zur Kehrtwende veranlasst worden.
An dem Morgen, nachdem Mr. Carlyle aus London zurückgekehrt war, saß er in seinem privaten Zimmer der Kanzlei. Neben ihm stand sein vertrauter Bürovorsteher und Verwalter. Mr. Dill war ein kleiner, bescheiden wirkender Mann mit kahlem Kopf. Er hatte schon vor vielen Jahren die Zulassung als Anwalt erhalten, aber nie selbst eine Kanzlei gegründet; vielleicht war der Posten des Vorstehers im Büro von Carlyle & Davidson mit seinem beträchtlichen Gehalt für seinen Ehrgeiz ausreichend; und Vorsteher war er schon, als der jetzige Mr. Carlyle noch Babykleidchen trug. Mr. Dill war unverheiratet und bewohnte in der Nähe eine hübsche Wohnung.
Zwischen Mr. Carlyles Zimmer und den Räumen der Angestellten lag ein kleiner, quadratischer Raum, eine Art Diele, die ebenfalls von der Haustür aus zugänglich war; von ihr ging ein weiteres schmales Zimmer ab, das Allerheiligste von Mr. Dill. Hier empfing er die Mandanten, wenn Mr. Carlyle außer Haus oder beschäftigt war, und von hier aus gab er private Anweisungen. Ein kleines Fenster, nicht größer als eine Glasscheibe, ging vom Büro des Vorstehers nach draußen; die Leute nannten es das Guckloch des alten Dill und wünschten es wer weiß wohin, denn seine Brille war dort häufiger zu erkennen als es angenehm war. Der alte Gentleman hatte in seinem Büro ebenfalls einen Schreibtisch, und dort saß er häufig. Hier hielt er sich auch würdevoll an eben jenem Morgen auf und sah sich mit scharfem Blick um, als sich plötzlich schüchtern die Tür öffnete und das hübsche Gesicht von Barbara Hare erschien. Es war rosa mit roten Flecken.
„Kann ich Mr. Carlyle sprechen?“
Mr. Dill erhob sich von seinem Platz und gab ihr die Hand. Sie zog ihn in den Eingang, und er schloss die Tür. Vielleicht war er überrascht, denn eigentlich war es nicht die Sitte junger, alleinstehender Damen, hierher zu kommen und nach Mr. Carlyle zu fragen.
„In Kürze, Miss Barbara. Er ist gerade beschäftigt. Die Richter sind bei ihm.“
„Die Richter!“, stieß Barbara beunruhigt hervor. „Und einer davon ist Papa? Was soll ich nur tun? Er darf mich nicht sehen. Ich möchte um nichts in der Welt, dass er mich hier sieht.“
Man hörte unheilvolle Geräusche; offensichtlich kamen die Richter näher. Mr. Dill hielt Barbara fest, schob sie durch das Zimmer der Angestellten – sie in die andere Richtung zu ziehen, wagte er nicht, damit sie ihnen nicht begegnete – und schloss sie in seinem Büro ein. „Was zum Teufel hat Papa ausgerechnet in diesem Augenblick hierhergeführt?“, dachte Barbara. Ihr Gesicht war puterrot.
Einige Minuten später öffnete Mr. Dill die Tür erneut. „Sie sind jetzt weg, die Luft ist rein, Miss Barbara.“
„Ich weiß nicht, was Sie sich für eine Meinung über mich bilden müssen, Mr. Dill“, flüsterte sie, „aber ich will Ihnen im Vertrauen sagen, dass ich in einer privaten Angelegenheit für Mama hier bin, weil sie sich nicht so wohl fühlt, dass sie selbst kommen könnte. Es ist eine kleine private Sache, und sie möchte nicht, dass Papa davon etwas weiß.“
„Mein Kind“, erwiderte der Bürovorsteher, „ein Anwalt bekommt viel Besuch; zu ‚denken‘ ist für die Menschen in seiner Umgebung nicht angebracht.“
Während er noch sprach, öffnete er die Tür, führte sie zu Mr. Carlyle und verließ sie. Der Anwalt erhob sich voller Erstaunen.
„Sie müssen mich als Mandantin betrachten, und entschuldigen Sie, dass ich hier eingedrungen bin“, sagte Barbara mit einem gezwungenen Lachen, mit dem sie ihre Aufregung verbergen wollte. „Ich bin im Auftrag von Mama hier – und fast hätte ich Papa in Ihrem Eingang getroffen, was mir vor Angst fast den Verstand geraubt hat. Mr. Dill hat mich in seinem Zimmer versteckt.“
Mr. Carlye bedeutete Barbara mit einer Bewegung, sich zu setzen, und nahm dann selbst seinen Platz am Tisch wieder ein. Barbara konnte sich nicht der Feststellung erwehren, dass er sich hier im Büro ganz anders benahm als an dem Abend, als er „außer Dienst“ war. Hier war er der seriöse, ruhige Geschäftsmann.
„Ich muss Ihnen etwas Seltsames erzählen“, begann sie im Flüsterton, „aber … kann uns hier wirklich niemand hören?“ Mit angstvollem Blick hielt sie inne. „Es würde … es könnte … den Tod bedeuten!“
„Das ist vollkommen unmöglich“, erwiderte Mr. Carlyle in aller Ruhe. „Die Türen sind Doppeltüren; ist Ihnen das nicht aufgefallen?“
Dennoch stand sie von ihrem Stuhl auf, stellte sich nahe zu Mr. Carlyle und legte ihre Hand auf den Tisch. Natürlich erhob er sich ebenfalls.
„Richard ist hier!“
„Richard!“, wiederholte Mr. Carlyle. „In West Lynne!“
„Er ist gestern Abend verkleidet beim Haus aufgetaucht und hat mir von dem Gehölz aus Zeichen gegeben. Sie können sich vorstellen, wie beunruhigt ich war. Er hat die ganze Zeit halb verhungert in London gewohnt und – ich schäme mich fast, es Ihnen zu sagen – in einem Pferdestall gearbeitet. Und ach, Archibald! Er sagt, er sei unschuldig.“
Mr. Carlyle gab keine Antwort. Vermutlich schenkte er der Behauptung keinen Glauben. „Setzen Sie sich, Barbara“, sagte er und zog ihren Stuhl näher zu sich.
Barbara nahm wieder Pltz, aber ihr Betragen war hektisch und nervös. „Ist ganz sicher, dass kein Fremder hereinkommt? Es wäre seltsam, wenn jemand mich hier sehen würde; aber Mama ging es so schlecht, dass sie nicht selbst kommen konnte – oder eigentlich hat sie Papas Fragen gefürchtet, wenn er herausgefunden hätte, dass sie gekommen ist.“
„Seien Sie unbesorgt“, erwiderte Mr. Carlyle. „Dieses Zimmer ist vor eindringenden Fremden sicher. Wie steht es mit Richard?“
„Er sagt, er sei zu der Zeit, als der Mord begangen wurde, nicht in dem Häuschen gewesen; die Person, die es wirklich getan hätte, sei ein Mann namens Thorn gewesen.“
„Was für ein Thorn?“, fragte Mr. Carlyle, wobei er alle Anzeichen der Skepsis unterdrückte.
„Das weiß ich nicht; ein Freund von Afy, hat er gesagt. Archibald, er hat es höchst feierlich beschworen; und ich glaube, so wahr ich es hier Ihnen gegenüber wiederhole, dass er die Wahrheit gesagt hat. Ich möchte, dass Sie sich mit Richard treffen, wenn es möglich ist; er kommt heute Abend wieder an die gleiche Stelle. Wenn er Ihnen selbst seine Geschichte erzählen kann, finden Sie vielleicht einen Weg, wie seine Unschuld offenbar gemacht werden kann. Sie sind so schlau, Sie können alles.“
Mr. Carlyle lächelte. „Alles nicht gerade, Barbara. War das der Zweck von Richards Besuch – Ihnen das zu sagen?“
„Oh nein! Er glaubt, es zu sagen, sei zu nichts nütze, weil ihm niemand entgegen den Indizien glauben würde. Er ist gekommen, weil er um hundert Pfund bitten wollte; er sagt, er hat eine Möglichkeit, wie es ihm besser gehen könne, wenn er diese Summe hat. Mama hat mich zu Ihnen geschickt; sie selbst hat das Geld nicht, und sie wagt auch nicht, Papa darum zu bitten, denn es ist ja für Richard. Ich soll Ihnen sagen, wenn Sie ihr das Geld heute freundlicherweise vorstrecken würden, wird sie sich mit Ihnen über die Rückzahlung einigen.“
„Wollen Sie es jetzt haben?“, fragte Mr. Carlyle. „Dann muss ich jemanden zur Bank schicken. Dill hat nie viel Geld im Haus, wenn ich unterwegs bin.“
„Erst heute Abend. Können Sie es einrichten, sich mit Richard zu treffen?“
„Das ist gefährlich“, grübelte Mr. Carlyle. „Für ihn, meine ich. Aber wenn er heute Abend in dem Gehölz ist, kann ich ebenso gut dort sein. Was hat er für eine Verkleidung?“
„Die eines Landarbeiters. Es war das Beste, was er sich hier zulegen konnte, mit einem großen schwarzen Schnauzbart. Er hat gesagt, er lebt ungefähr drei Meilen entfernt in irgendeinem geheimnisvollen Versteck. Und jetzt“, fuhr Barbara fort, „möchte ich Sie um einen Rat bitten; sollte ich Mama darüber in Kenntnis setzen, dass Richard hier ist, oder besser nicht?“
Mr. Carlyle verstand sie nicht und sagte es auch.
„Ich gestehe, dass ich verwirrt bin“, rief sie. „Ich hätte vorausschicken sollen, dass ich Mama noch nicht gesagt habe, dass Richard hier ist; ich habe so getan, als hätte er einen Boten geschickt, der um das Geld bittet. Wäre es ratsam, sie einzuweihen?“
„Warum nicht? Ich finde, Sie sollten es tun.“
„Dann tue ich es auch; ich habe nur die Gefahr gefürchtet, denn sie wird sicher darauf bestehen, ihn zu sehen. Und auch Richard wünscht sich ein Gespräch.“
„Das ist nur natürlich. Mrs. Hare muss dankbar sein zu hören, dass er bisher in Sicherheit ist.“
„So habe ich es noch nie gesehen“, gab Barbara zurück. „Die Veränderung ist geradezu ein Wunder; sie sagt, es habe ihr neues Leben eingeflößt. Und nun zu der letzten Schwierigkeit: Wie können wir dafür sorgen, dass Papa heute Abend nicht zu Hause ist? Das muss auf irgendeine Weise bewerkstelligt werden. Sie kennen sein Temperament: Wenn ich oder Mama ihm vorschlagen würden, er solle einen Freund besuchen oder in den Club gehen, würde er in jedem Fall zu Hause bleiben. Können Sie einen Plan schmieden? Sie sehen, ich wende mich mit allen meinen Schwierigkeiten an Sie“, fügte sie hinzu, „genau wie Anne und ich es gemacht haben, als wir noch Kinder waren.“