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Ob Mr. Carlyle die letzte Bemerkung hörte, ist fraglich. Er hatte in tiefem Nachdenken die Augenlider gesenkt. „Haben Sie mir jetzt alles berichtet?“, fragte er schließlich und hob sie wieder.
„Ich glaube schon.“
„Dann werde ich darüber nachdenken und …“
„Ich werde wahrscheinlich nicht noch einmal herkommen“, unterbrach ihn Barbara. „Es … es könnte Verdacht erwecken; es könnte mich auch jemand sehen und es gegenüber Papa erwähnen. Sie sollten auch niemanden zu unserem Haus schicken.“
„Nun ja … Richten Sie es so ein, dass Sie heute Nachmittag um vier auf der Straße sind. Einen Augenblick, das ist ja Ihre Essenszeit; gehen sie um drei Uhr auf der Straße spazieren, genau um drei; wir werden uns dort treffen.“
Er erhob sich, gab ihr die Hand und begleitete sie durch die kleine Diele und den Korridor zur Haustür – eine Höflichkeit, die Mr. Carlye vermutlich nicht jedem Mandanten erwies. Die Haustür schloss sich hinter ihr, und Barbara hatte sich kaum einen Schritt von ihr entfernt, als plötzlich etwas Großes über ihr dräute wie ein Schiff unter vollen Segeln.
Sie war sicher die größte Dame der Welt. Eine schöne Frau zu ihrer Zeit, jetzt aber kantig und knochig. Und doch lag trotz der Kanten und Knochen etwas Majestätisches in der Erscheinung von Miss Carlyle.
„Warum … Wozu um alles auf der Welt“, setzte sie an, „sind Sie bei Archibald gewesen?“
Barbara Hare wünschte sich, Miss Carlyle wäre weit weg in Asien, und brachte stammelnd die Ausrede vor, die sie auch bei Mr. Dill gebraucht hatte.
„Ihre Mama hat Sie zu geschäftlichen Besorgungen geschickt! So etwas habe ich noch nie gehört. Zweimal war ich hier, um mit Archibald zu sprechen, und zweimal hat Dill mir gesagt, er sei beschäftigt und dürfe nicht gestört werden. Der alte Dill wird mir erklären müssen, was es bedeutet, dass er mir gegenüber Geheimnisse hat.“
„Es gibt kein Geheimnis“, antwortete Barbara; ihr wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, Miss Carlye könne gegenüber den Angestellten oder ihrem Vater behaupten, es gebe eines. „Mama wollte Mr. Carlyle in einer kleinen Privatangelegenheit um seine Meinung fragen, und da sie sich nicht wohl genug fühlte, um selbst zu kommen, hat sie mich geschickt.“
Miss Carlyle glaubte ihr kein Wort. „Was für eine Angelegenheit?“, fragte sie unverblümt.
„Es ist nichts, was Sie interessieren könnte. Eine Kleinigkeit, die mit ein wenig Geld zu tun hat. Es ist wirklich nichts.“
„Und wenn es nichts ist, warum haben Sie sich dann so lange mit Archibald eingeschlossen?“
„Er hat nach den Einzelheiten gefragt“, erwiderte Barbara, wobei sie ihre Gelassenheit wiederfand.
Miss Carlyle schniefte, wie sie es immer tat, wenn sie in einer Sache anderer Meinung war. Da lag doch sicher irgendein Geheimnis in der Luft. Sie wandte sich um und ging mit Barbara die Straße entlang, aber das führte nicht dazu, dass sie mehr herausbekommen hätte.
Mr. Carlyle kehrte in sein Büro zurück, überlegte kurz, und läutete dann. Ein Angestellter kam herein.
„Gehen Sie zum Buckʼs Head. Wenn Mr. Hare und die anderen Friedensrichter dort sind, sagen Sie ihnen, sie möchten zu mir herüberkommen.“
Der junge Mann tat wie geheißen und kam mit den ehrwürdigen Richtern auf den Fersen zurück. Sie folgten der Einladung bereitwillig, glaubten sie doch, sie seien in eine juristische Meinungsverschiedenheit verwickelt, und nur Mr. Carlyle könne sie daraus befreien.
„Ich bitte Sie nicht, Platz zu nehmen“, begann Mr. Carlyle, „denn ich werde Sie nur einen kurzen Augenblick aufhalten. Je mehr ich darüber nachdenke, dass dieser Mann ins Gefängnis gebracht wurde, desto weniger gefällt es mir; ich habe mir gedacht, es ist vielleicht besser, wenn Sie alle fünf heute Abend zu mir kommen und gemeinsam in meinem Haus eine Pfeife rauchen; dann haben wir Zeit und können besprechen, was zu tun ist. Kommen Sie nicht später als sieben, dann werden Sie die alte Tabaksdose meines Vaters gut gefüllt mit dem besten Breitschnitt finden, außerdem ein halbes Dutzend Lesepfeifen. Einverstanden?“
Die fünf nahmen die Einladung eifrig an. Als sie im Gänsemarsch hinausgingen, berührte Mr. Carlyle den Arm des Richters Hare.
„Sie kommen doch sicher auch, Hare“, flüsterte er. „Ohne Sie kommen wir nicht zurecht; nicht alle Köpfe“ – wobei er eine leichte Bewegung in Richtung der Hinausgehenden machte – „sind so mit klarem Verstand begabt wie Sie.“
„Ich komme ganz sicher“, erwiderte der Richter erfreut. „Feuer und Wasser sollen mich nicht abhalten.“
Kurz nachdem Mr. Carlyle wieder allein war, trat ein anderer Bediensteter ein.
„Miss Carlyle würde Sie gerne sprechen, Sir, und auch Colonel Bethel ist wieder da.“
„Schicken Sie zuerst Miss Carlyle herein“, lautete die Antwort. „Worum geht es, Cornelia?“
„Ach, das fragst du noch? Heute Morgen sagst du, du könntest nicht wie üblich um sechs Uhr zu Abend essen, und dann marschierst du hinaus und legst die Zeit nicht fest. Wie soll ich meine Anweisungen geben?“
„Ich dachte, die Geschäfte würden mich abhalten, aber nun gehe ich doch nicht aus. Dennoch werden wir ein wenig früher essen, Cornelia, sagen wir um Viertel vor sechs. Ich habe jemanden eingeladen!“
„Was ist los, Archibald?“, unterbrach ihn Miss Carlyle.
„Los! Nichts, soweit ich weiß. Ich bin sehr beschäftigt, Cornelia, und Colonel Bethel wartet; ich spreche beim Essen mit dir. Ich habe für heute Abend eine kleine Gesellschaft eingeladen.“
„Eine kleine Gesellschaft!“, wiederholte Miss Carlyle.
„Ja, vier oder fünf Richter kommen zum Pfeiferauchen. Du musst die Blei-Tabaksdose deines Vaters herausholen, und …“
„Sie werden nicht kommen!“, kreischte Miss Carlyle. „Meinst du, ich will mich mit dem Tabakrauch aus einem Dutzend Pfeifen vergiften?“
„Du brauchst nicht im Zimmer zu sitzen.“
„Die auch nicht. Im ganzen Haus wurden gerade saubere Gardinen aufgehängt, und ich will nicht, dass sie von schrecklichen Pfeifen schwarz werden.“
„Ich kaufe dir ein paar neue Gardinen, Cornelia, wenn diese durch die Pfeifen verdorben werden“, erwiderte er in aller Ruhe. „Und jetzt, Cornelia, muss ich dich wirklich bitten, mich zu verlassen.“
„Wenn ich dieser Angelegenheit mit Barbara Hare auf den Grund gegangen bin“, gab Miss Corny energisch zurück, womit sie den Streit um die Pfeifen fallen ließ. „Du bist sehr schlau, Archie, aber mich führst du nicht hinters Licht. Ich habe Barbara gefragt, weshalb sie hier war. Ein Anliegen ihrer Mama, das mit Geldangelegenheiten zu tun hat – so lautete ihre Antwort. Ich frage dich: Dir die Meinung über die Meinungsverschiedenheiten der Richter anzuhören, ist deine Angelegenheit. Aber das hier ist weder das eine noch das andere, und ich sage dir, Archibald, ich werde es erfahren. Ich wüsste gern, was das für ein Geheimnis zwischen dir und Barbara ist.“
Mr. Carlyle kannte ihre energische Ausdrucksweise nur allzu gut und entschied sich, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie war, um die Worte zu übernehmen, die Barbara gegenüber ihrem Bruder in Bezug auf ihn gebraucht hatte, wahrhaftig wie Gold. Vertraute man Miss Carlyle ein Geheimnis an, war sie so vertrauenswürdig und verschwiegen wie er; ließ man in ihr aber die Vermutung aufkommen, ihr werde ein Geheimnis vorenthalten, würde sie wie ein Frettchen an die Arbeit gehen und nicht aufhören, bis es gelüftet war.
Mr. Carlyle beugte sich nach vorn und sagte im Flüsterton: „Ich werde es dir sagen, wenn du willst, Cornelia, aber es ist keine angenehme Sache. Richard Hare ist zurückgekehrt.“
Miss Carlyle blickte vollkommen entgeistert drein. „Richard Hare! Ist er verrückt geworden?“
„Eine sehr vernünftige Vorgehensweise ist es nicht. Er will Geld von seiner Mutter, und Mrs. Hare hat Barbara zu mir geschickt, damit ich das für sie arrangiere. Kein Wunder, dass die arme Barbara hektisch und nervös war – schließlich droht Gefahr von allen Seiten.“
„Ist er in ihrem Haus?“
„Wie könnte er, wo sein Vater dort wohnt? Er versteckt sich zwei oder drei Meilen entfernt als Arbeiter verkleidet und wird heute Abend zu dem Gehölz kommen, um sein Geld in Empfang zu nehmen. Ich habe die Richter eingeladen, damit Mr. Hare in sicherer Entfernung von seinem Haus ist. Würde er Richard sehen, er würde ihn zweifellos der Justiz übergeben, und das wäre – wenn man ernstere Erwägungen einmal beiseite lässt – weder für dich noch für mich sehr angenehm. Eine Verbindung zu jemandem, der wegen vorsätzlichen Mordes gehenkt wurde, wäre ein hässlicher Fleck auf dem Wappen der Carlyles, Cornelia.“
Miss Carlyle saß schweigend, ein Runzeln zwischen den üppigen Augenbrauen, und verarbeitete die Neuigkeiten.
„Jetzt weißt du alles, Cornelia, und ich bitte dich, zu gehen. Ich bin heute mit Arbeit überlastet.“
Kapitel 6 Richard Hare, der Jüngere
Das Richtergremium versäumte es nicht, die Verabredung einzuhalten. Um sieben Uhr trafen sie bei Miss Carlyle ein, wobei der eine dem anderen auf dem Fuße folgte. Der Leser mag sich vielleicht an dem Ausdruck „bei Miss Carlyle“ stören, aber er ist richtig: Das Haus gehörte nicht ihrem Bruder, sondern ihr; es war zwar wie schon zu seines Vaters Zeiten sein Zuhause, gehörte aber zu dem Anwesen, das Miss Carlyle geerbt hatte.
Miss Carlyle entschloss sich, trotz der Pfeifen und des Rauches anwesend zu sein, und wenig später war sie ebenso ins Gespräch vertieft wie die Richter. In der Stadt sagte man, sie sei ein so guter Anwalt wie ihr Vater; zweifellos besaß sie in juristischen Angelegenheiten ein gesundes Urteilsvermögen und eine schnelle Auffassungsgabe. Um acht Uhr trat ein Diener ins Zimmer und wandte sich an seinen Herrn.
„Mr. Dill bittet darum, mit Ihnen zu sprechen, Sir.“
Mr. Carlyle erhob sich und kam mit einem offenen Notizzettel in der Hand zurück.
„Ich bedaure, Sie für eine halbe Stunde verlassen zu müssen; eine wichtige geschäftliche Angelegenheit hat sich ergeben, aber ich komme zurück, so schnell ich kann.“
„Wer hat nach dir geschickt?“, verlangte Miss Corny sofort zu wissen.
Er warf ihr einen unauffälligen Blick zu, den sie als Warnung interpretierte, nicht zu fragen. „Mr. Dill ist hier und wird sich zu Ihnen gesellen, um über die Sache zu sprechen“, sagte er zu seinen Gästen. „Er kennt die Gesetze besser als ich; aber es wird nicht lange dauern.“
Er trat aus dem Haus und begab sich mit schnellen Schritten zu dem Gehölz. Der Mond schien ebenso hell wie am Abend zuvor. Nachdem er West Lynne hinter sich hatte und an den bereits erwähnten, einzeln stehenden Villen vorüberkam, warf er unwillkürlich einen Blick auf den Wald, der sich zu seiner Linken hinter den Häusern erhob. Er wurde Abbey Wood genannt, weil in alten Zeiten eine Abtei in seiner Nähe gestanden hatte, aber davon waren alle Spuren mit Ausnahme der Überlieferung verschwunden. Mitten im Wald gab es ein einziges kleines Haus oder eine Hütte, und dort war der Mord geschehen, dessentwegen Richard Hares Leben in Gefahr war. Es war jetzt nicht mehr bewohnt, denn niemand wollte es mieten oder darin leben.
Mr. Carlyle öffnete das Gartentor bei The Grove und musterte die Bäume rechts und links von ihm, aber weder sah noch hörte er irgendwelche Anzeichen dafür, dass Richard sich darin versteckte. Barbara stand am Fenster, blickte hinaus und kam dann selbst herunter, um Mr. Carlyle die Tür zu öffnen.
„Mama ist in einem höchst aufgeregten Zustand“, flüsterte sie ihm zu, als er eintrat. „Das wusste ich im Voraus.“
„Ist er schon gekommen?“
„Daran habe ich keinen Zweifel; aber er hat noch kein Zeichen gegeben.“
Mrs. Hare stand, fieberhaft erregt und mit roten Flecken auf den zarten Wangen, neben dem Stuhl, statt darauf zu sitzen. Mr. Carlyle drückte ihr eine Brieftasche in die Hand. „Ich habe es überwiegend in Banknoten mitgebracht“, sagte er. „Die sind für ihn leichter zu tragen als Gold.“
Mrs. Hare antwortete nur mit einem dankbaren Blick und umklammerte Mr. Carlyles Hand. „Archibald, ich muss meinen Jungen sehen; wie können wir das einrichten? Muss ich zu ihm in den Garten gehen, oder kann er hereinkommen?“
„Ich denke, er kann hereinkommen; Sie wissen, wie schlecht Ihnen die Nachtluft bekommt. Sind die Dienstboten heute Abend auf den Beinen?“
„Es scheint, als hätten sich die Dinge sehr freundlich entwickelt“, warf Barbara ein. „Zufällig hat Anne heute Geburtstag, und deshalb hat Mama mich gerade mit einem Kuchen und einer Flasche Wein in die Küche geschickt und sie aufgefordert, auf ihre Gesundheit zu trinken. Ich habe die Tür geschlossen und ihnen gesagt, sie sollten es sich gemütlich machen; wenn wir irgendetwas brauchen, würden wir läuten.“
„Dann sind sie ungefährlich“, erklärte Mr. Carlyle, „und Richard kann hereinkommen.“
„Ich gehe hinaus und sehe nach, ob er gekommen ist“, sagte Barbara.
„Bleiben Sie, wo Sie sind, Barbara; ich werde selbst gehen“, warf Mr. Carlyle ein. „Sorgen Sie dafür, dass die Tür offen ist, wenn Sie uns den Weg heraufkommen sehen.“
Barbara stieß einen schwachen Schrei aus und umklammerte zitternd Mr. Carlyles Arm. „Da ist er! Sehen Sie nur! Er steht vor den Bäumen genau gegenüber von diesem Fenster.“
Mr. Carlyle wandte sich an Mrs. Hare. „Ich werde ihn nicht sofort hereinbringen; ich muss mit ihm sprechen, das muss zuerst erledigt werden, damit ich wieder zu den Richtern gehen und Mr. Hare fernhalten kann.“
Er ging den Weg hinunter, erreichte die Bäume und tauchte zwischen ihnen ein. An einem davon lehnte Richard Hare. Ohne die Verkleidung mit den falschen, wilden schwarzen Schnurrbarthaaren war er ein blauäugiger, flotter, angenehm aussehender junger Mann, schlank, von mittlerer Größe und ebenso nachgiebig und sanft wie seine Mutter. Bei ihr war die milde, nachgiebige Haltung eine recht anmutige Eigenschaft; bei Richard musste man sie als verachtenswertes Unglück bezeichnen. Als Junge hatte er den Spitznamen Blätter-Dick getragen, und wenn sich ein Fremder nach dem Grund erkundigte, lautete die Antwort: So, wie ein Blatt vom Wind hin und her bewegt wird, so wird er von jedem in seiner Umgebung hin und her bewegt. Einen eigenen Willen besaß er nie. Kurz gesagt, war Richard Hare zwar ein liebenswürdiger, freundlicher Charakter, aber er war nicht übermäßig gut mit dem ausgestattet, was die Welt als Verstand bezeichnet. Verstand hatte er sicher, aber keinen besonders scharfen.
„Kommt meine Mutter zu mir heraus?“, fragte Richard, nachdem er ein paar Sätze mit Mr. Carlyle gewechselt hatte.
„Nein. Sie gehen hinein. Ihr Vater ist außer Haus, und die Dienstboten sind in der Küche eingeschlossen und werden Sie nicht sehen. Und wenn sie es täten, würden sie Sie in dieser Aufmachung niemals erkennen. Ein hübscher Schnauzbart, Richard.“
„Also gehen wir hinein. Ich bin sehr nervös, bis ich wieder fort bin. Werde ich das Geld bekommen?“
„Ja, ja. Aber Richard, Ihre Schwester sagt, Sie wollten mir die wahre Geschichte jener beklagenswerten Nacht erzählen. Sie sprechen besser, solange wir hier sind.“
„Barbara selbst wollte, dass Sie es hören. Ich halte es nicht für bedeutsam. Auch wenn alle von mir die Wahrheit hören würden, es würde mir nichts nützen, denn mir würde niemand Glauben schenken – nicht einmal Sie.“
„Stellen Sie mich auf die Probe, Richard, und das mit so wenigen Worten wie möglich.“
„Nun, zu Hause gab es Krach, weil ich so oft zu Hallijohn gegangen bin. Der Gouverneur und meine Mutter glaubten, ich sei hinter Afy her; vielleicht war ich das auch, vielleicht auch nicht. Hallijohn hatte mich gebeten, ihm mein Gewehr zu leihen, und an diesem Abend, als ich mich mit Af… als ich mich mit irgendjemandem treffen wollte … Ganz gleich …“
„Richard“, unterbrach ihn Mr. Carlyle, „es gibt ein altes Sprichwort, und das ist ein vernünftiger Rat: ‚Deinem Anwalt und deinem Arzt musst du die Wahrheit sagen.‘ Wenn ich beurteilen soll, ob man irgendetwas für Sie tun kann, müssen Sie mir alles sagen; ansonsten höre ich lieber gar nichts. Es geschieht im heiligen Vertrauen.“
„Also dann – was sein muss, muss sein“, gab Richard nachgiebig zurück. „Ich habe das Mädchen wirklich geliebt. Ich hätte gewartet, bis ich mein eigener Herr bin, und sie dann zu meiner Ehefrau gemacht, auch wenn es noch Jahre und Jahre gedauert hätte. Sie wissen schon, angesichts des Widerspruchs meines Vaters konnte ich es nicht.“
„Ihre Ehefrau?“, fragte Mr. Carlyle mit einem gewissen Nachdruck.
Richard blickte überrascht drein. „Warum, Sie nehmen doch nicht an, ich hätte etwas anderes gewollt! So ein Schuft wäre ich nicht gewesen.“
„Gut, Richard, fahren Sie fort. Hat sie Ihre Liebe erwidert?“
„Da kann ich mir nicht sicher sein. Manchmal habe ich es gedacht, manchmal nicht; sie hat oft gespielt und Ausflüchte gebraucht, und sie war zu gern mit – ihm – zusammen. Ich hielt sie für launisch – sie sagte mir, ich dürfte diesen Abend nicht kommen und jenen Abend nicht kommen; aber ich fand heraus, dass das die Abende waren, an denen sie ihn erwartete. Wir waren nie beide dort.“
„Sie vergessen, dass sie ‚ihn‘ noch nicht mit einem Namen versehen haben, Richard. Ich weiß nicht, wen sie meinen.“
Richard Hare beugte sich nach vorn, bis seine schwarzen Barthaare Mr. Carlyles Schulter berührten. „Es war dieser verfluchte Thorn.“
Mr. Carlyle erinnerte sich, dass Barbara den gleichen Namen genannt hatte. „Wer war Thorn? Ich habe nie von ihm gehört.“
„Das hat auch sonst niemand in West Lynne, nehme ich an. Darauf hat er geflissentlich geachtet. Er wohnte ein paar Meilen entfernt und pflegte insgeheim herüberzukommen.“
„Um Afy den Hof zu machen?“
„Ja, er ist gekommen, um ihr den Hof zu machen“ gab Richard in wildem Ton zurück. „Die Entfernung war kein Hindernis. Er kam in der Abenddämmerung im Galopp angeritten, band sein Pferd im Wald an einen Baum und verbrachte eine oder zwei Stunden mit Afy. Im Haus, wenn ihr Vater nicht zu Hause war; und wenn er zu Hause war, streifte er mit ihr durch den Wald.
„Kommen Sie zum Kern der Sache, Richard – zu dem Abend.“
„Hallijohns Gewehr war nicht in Ordnung, und er fragte, ob er meines leihen könne. Ich hatte mich an jenem Abend mit Afy bei ihrem Haus verabredet und ging nach dem Essen hin. Das Gewehr hatte ich bei mir. Mein Vater rief mir nach und wollte wissen, wohin ich wollte; ich sagte, ich gehe mit dem jungen Beauchamp aus, weil ich seinen Widerspruch nicht herausfordern wollte; aber die Lüge sprach bei der Untersuchung gegen mich. Als ich bei Hallijohn ankam, ging ich den ganzen Nebenweg an den Feldern entlang und auf dem Pfad durch den Wald, wie ich es üblicherweise tat. Afy kam heraus; sie war wie so manches Mal die Zurückhaltung selbst und sagte mir, sie könne mich nicht empfangen, sondern ich solle wieder nach Hause gehen. Wir hatten darüber einen kleinen Wortwechsel; während wir noch sprachen, kam Locksley vorbei und sah mich mit dem Gewehr in der Hand. Am Ende gab ich nach. Sie konnte mit mir machen, was sie wollte, denn ich betete den Boden an, über den sie ging. Ich gab ihr das Gewehr und sagte ihr, dass es geladen war; sie brachte es nach drinnen und schloss mich aus. Ich ging nicht weg; ich hatte den Verdacht, dass Thorn dort bei ihr war, obwohl sie es mir gegenüber abgestritten hatte; also versteckte ich mich in der Nähe des Hauses zwischen ein paar Bäumen. Wieder kam Locksley vorüber, sah mich dort und wollte lautstark wissen, warum ich mich versteckte. Ich antwortete nicht, sondern zog mich noch weiter zurück – was gingen ihn meine privaten Bewegungen an? Aber auch das sprach bei der Untersuchung gegen mich. Nicht lange danach – vielleicht nach zwanzig Minuten – hörte ich einen Schuss, der aus der Richtung der Hütte zu kommen schien. ‚Da geht jemand noch spät auf Rebhuhnjagd‘, dachte ich. Die Sonne ging nämlich schon unter, und im gleichen Augenblick sah ich Bethel zwischen den Bäumen herauskommen und in Richtung der Hütte laufen. Das war der Schuss, der Hallijohn tötete.“
Eine Pause trat ein. Mr. Carlyle sah Richard im Mondlicht durchdringend an.
„Kurz danach, fast im gleichen Augenblick, so schien es mir, kam jemand keuchend und gehetzt den Weg von der Hütte entlanggelaufen. Es war Thorn. Bei seinem Anblick bin ich erschrocken: Ich hatte nie einen Menschen gesehen, der mehr schieres Entsetzen zeigte. Sein Gesicht wirkte fuchsteufelswild, der Blick durchdringend, und die Lippen waren über die Zähne zurückgezogen. Wäre ich ein kräftiger Mann gewesen, ich hätte ihn sicher angegriffen. Ich war verrückt vor Eifersucht, denn jetzt sah ich, dass Afy mich weggeschickt hatte, um sich mit ihm zu vergnügen.“
„Sie haben doch gesagt, dieser Thorn wäre immer nur in der Abenddämmerung gekommen“, warf Mr. Carlyle ein.
„Das wusste ich bis zu diesem Abend nicht. Ich kann nur sagen, dass er damals dort war. Er lief schnell vorüber, und anschließend hörte ich das Geräusch der Hufe, als sein Pferd davongaloppierte. Ich fragte mich, was geschehen war, dass er so verängstigt aussah und davonrannte, als wäre der Teufel hinter ihm her; ich dachte, er hätte sich vielleicht mit Afy gestritten. Also lief ich zum Haus, sprang die zwei Stufen hoch, und – Carlyle – ich stolperte über Hallijohns hingestreckte Leiche! Er lag auf dem Küchenfußboden – tot. Überall um ihn herum war Blut, und mein kurz zuvor abgefeuertes Gewehr hatte man daneben hingeworfen. Er war in die Seite geschossen worden.“
Richard hielt inne und holte Luft. Mr. Carlyle sagte nichts.
„Ich habe nach Afy gerufen, aber es kam keine Antwort. In dem unteren Zimmer war niemand, und es schien, als wäre auch niemand im oberen. Mich überfiel eine Art Panik, eine Angst. Wissen Sie, zu Hause haben sie immer gesagt, ich sei ein Feigling: Ich hätte keine Minute länger bei dem toten Mann bleiben können, selbst wenn es mir das Leben gerettet hätte. Ich griff nach dem Gewehr und lief davon, da …“
„Warum haben Sie das Gewehr aufgehoben?“, unterbrach ihn Mr. Carlyle.
„Gedanken schießen einem schneller durch den Kopf, als man sie aussprechen kann, insbesondere in solchen Augenblicken“, lautete die Antwort von Richard Hare. „In meinem Kopf blitzte eine unbestimmte Vorstellung auf, dass man mein Gewehr nicht in der Nähe des ermordeten Hallijohn finden sollte. Wie gesagt, ich flüchtete aus der Tür, da kam Locksley genau in meinem Blickfeld aus dem Wald; ich weiß nicht mehr, was mich geritten hat, aber ich tat das Schlimmste, was ich tun konnte: Ich warf das Gewehr wieder nach drinnen und lief davon, obwohl Locksley mir nachrief, ich solle stehen bleiben.“
„Das spricht stärker gegen Sie als alles andere“, bemerkte Mr. Carlyle. „Locksley hat ausgesagt, er hätte gesehen, wie Sie mit dem Gewehr in der Hand die Hütte verlassen haben, und zwar anscheinend in großer Aufregung; und in dem Augenblick, als Sie ihn gesehen haben, hätten sie gezögert wie aus Angst; dann hätten Sie das Gewehr hinter sich geworfen und seien geflohen.“
Richard stampfte mit dem Fuß auf. „Ja; und alles nur wegen meiner verfluchten Feigheit. Sie hätten besser eine Frau aus mir gemacht und mich in Röcken groß gezogen. Aber lassen Sie mich weiter erzählen. Ich traf auf Bethel. Er stand in dem Halbkreis, in dem man die Bäume gefällt hatte. Eines weiß ich jetzt: Wenn Bethel geradewegs in Richtung der Hütte gegangen wäre, hätte er Thorn treffen müssen, als der sie verließ. ‚Haben Sie diesen Hund nicht gesehen?‘, fragte ich ihn. ‚Was für einen Hund?‘, erwiderte Bethel. ‚Diesen sauberen Burschen, diesen Thorn, der hinter Afy her ist‘, antwortete ich, denn in meiner Leidenschaft machte es mir nichts aus, ihren Namen zu erwähnen. ‚Ich kenne keinen Thorn‘, sagte Bethel, ‚und ich kenne auch außer Ihnen niemanden, der hinter Afy her wäre.‘ ‚Haben Sie einen Schuss gehört?‘, fragte ich weiter. ‚Ja, das schon‘, antwortete er; ‚ich nehme an, es war Locksley, denn der treibt sich heute Abend hier herum.‘ ‚Und ich habe gesehen‘, fuhr ich fort, ‚wie Sie gerade in dem Augenblick, als der Schuss abgefeuert wurde, um die Ecke in Richtung von Hallijohn gebogen sind.‘ ‚Das stimmt‘, sagte er, ‚aber nur um ein paar Schritte in den Wald zu gehen. Worauf wollen Sie hinaus?‘ ‚Ist Thorn Ihnen nicht begegnet, wie er von der Hütte weggelaufen ist?“, beharrte ich. ‚Mir ist niemand begegnet‘, sagte er, ‚und ich glaube auch nicht, dass außer uns und Locksley jemand in der Nähe ist.‘ Ich habe ihn stehen lassen und mich aus dem Staub gemacht“, schloss Richard Hare. „Er hatte Thorn offensichtlich nicht gesehen und wusste nichts.“