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„Und dann haben Sie sich in der gleichen Nacht davongemacht, Richard; das war ein verheerender Schritt.“
„Ja, ich war ein Dummkopf. Ich hätte in aller Stille bleiben und abwarten sollen, wie sich die Dinge entwickeln; aber Sie wissen noch nicht alles. Drei oder vier Stunden später ging ich noch einmal zu dem Häuschen, und es gelang mir, eine Minute mit Afy zu sprechen. Das werde ich nie vergessen; bevor ich auch nur eine Silbe sagen konnte, flüchtete sie vor mir, beschuldigte mich, ich sei der Mörder ihres Vaters, und stürzte draußen hysterisch ins Gras. Der Lärm lockte die Leute aus dem Haus an – inzwischen waren viele dort – und ich zog mich zurück. ‚Wenn sie mich für schuldig halten kann, wird die ganze Welt mich für schuldig halten‘, das war meine Überlegung; in dieser Nacht bin ich sofort verschwunden. Ich wollte einen oder zwei Tage in einem Versteck bleiben, bis mir mein weiterer Weg klar war, aber er wurde mir niemals klar; die Untersuchung des Coroners fand statt, und nach dem Urteil war ich am Boden zerstört. Und Afy – aber ich will sie nicht verfluchen – fachte die Flamme weiter an, indem sie leugnete, dass in jener Nacht jemand bei ihr gewesen war. Sie sagte, sie sei zu Hause gewesen und aus der Hintertür auf den Weg von West Lynne gegangen; dort habe sie herumgelungert, als sie den Schuss hörte. Fünf Minuten später kehrte sie ins Haus zurück fand Locksley vor, der über ihrem toten Vater stand.“
Mr. Carlyle schwieg immer noch. Im Kopf ging er schnell die wichtigsten Punkte von Richard Hares Bericht durch. „Wenn ich es richtig verstehe, waren Sie insgesamt zu viert in der Nähe der Hütte, und zweifellos hat einer davon geschossen. Sie sagen, sie wären ein Stück entfernt gewesen, Richard; auch Bethel konnte nicht …“
„Bethel hat es nicht getan“, unterbrach ihn Richard. „Das wäre unmöglich. Wie ich Ihnen gesagt habe, habe ich ihn in dem gleichen Augenblick gesehen, in dem das Gewehr abgefeuert wurde.“
„Aber wo war Locksley?“
„Dass Locksley es war, ist ebenfalls unmöglich. Er stand zur gleichen Zeit in meinem Blickfeld im rechten Winkel von mir tief im Wald, weit entfernt von den Wegen. Die Tat wurde von Thorn begangen, das steht ohne jeden Zweifel fest, und das Urteil gegen ihn hätte auf vorsätzlichen Mord lauten müssen. Carlyle, ich sehe schon, Sie glauben mir meine Geschichte nicht.“
„Was Sie sagen, hat mich erschreckt; ich muss mir Zeit nehmen und überlegen, ob ich es glaube oder nicht“, sagte Mr. Carlyle in seiner unverblümten Art. „Vor allem lautet die Frage: Wenn Sie Zeuge geworden sind, wie Thorn in der von Ihnen beschriebenen Weise von der Hütte weglief, warum haben Sie sich dann nicht gemeldet und ihn angezeigt?“
„Das habe ich nicht getan, weil ich ein Dummkopf war, ein schwacher Feigling, wie schon immer in meinem Leben“, gab Richard zurück. „Ich kann nicht anders; ich bin so geboren und werde so ins Grab sinken. Was hätte ich mit meiner Aussage, dass es Thorn war, ausrichten können, wenn es niemanden gab, der es bestätigt hätte? Und das abgeschossene Gewehr – mein Gewehr – war ein vernichtender Beweis gegen mich.“
„Mir kommt etwas anderes seltsam vor“, rief Mr. Carlyle. „Wenn dieser Mann, dieser Thorn, die Gewohnheit hatte, Abend für Abend nach West Lynne zu kommen, wie kann es dann sein, dass er nie beobachtet wurde? Ich höre jetzt zum ersten Mal den Namen eines Fremden im Zusammenhang mit der ganzen Angelegenheit oder mit Afy.“
„Thorn wählte Nebenstraßen und mit einer einzigen Ausnahme kam er immer in der Abenddämmerung und im Dunkeln. Für mich lag damals auf der Hand, dass er bestrebt war, es geheim zu halten. Das sagte ich auch Afy und dass es kein gutes Vorzeichen für sie war. Sie werden dem, was ich sage, keine Glaubwürdigkeit beimessen, und ich hatte auch nichts anderes erwartet; dennoch schwöre ich, dass ich die Tatsachen berichtet habe. So sicher wie wir alle – ich, Thorn, Afy und Hallijohn – eines Tages gemeinsam vor unseren Schöpfer treten müssen, so sicher habe ich Ihnen die Wahrheit gesagt.“
Es waren feierliche Worte, ihr Ton war ernst. Mr. Carlyle blieb stumm, den Kopf voller Gedanken.
„Zu welchem Zweck soll ich es sonst überhaupt sagen?“, fuhr Richard fort. „Es wird mir nichts nützen; alle Behauptungen, die ich vorbringen könnte, würden kein bisschen dazu beitragen, mich reinzuwaschen.“
„Nein, das würden sie nicht“, stimmte Mr. Carlyle zu. „Wenn Sie überhaupt reingewaschen werden können, dann nur durch Beweise. Aber … ich werde die Angelegenheit weiterhin im Kopf behalten, und wenn sich irgendetwas ergibt … Was für ein Mann war dieser Thorn eigentlich?“
„Vielleicht dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt, groß und schlank; ein Aristokrat durch und durch.“
„Und seine Verhältnisse? Wo wohnte er?“
„Das habe ich nie erfahren. Afy sagte auf ihre prahlerische Weise, er komme aus Swainson, ein Ritt von zehn Meilen.“
„Aus Swainson?“ unterbrach Mr. Carlyle ihn schnell. „Könnte er einer der Thorns von Swainson sein?“
„Keiner von den Thorns, die ich kenne. Er war ein ganz anderer Typ von Mann mit seinen parfümierten Händen, den Ringen und den eleganten Handschuhen. Dass er ein Aristokrat war, glaube ich, allerdings einer von schlechtem Geschmack und Stil, denn er stellte eine Fülle von Schmuckstücken zur Schau.“
Ein verstohlenes Lächeln glitt über Carlyles Gesicht.
„War der Schmuck echt, Richard?“
„Allerdings. Er trug Manschettenknöpfe mit Diamanten, Diamantringe, Diamantennadeln; Brillanten, alle vom reinsten Wasser. Ich hatte den Eindruck, er legte sie an, um Afy den Kopf zu verdrehen. Einmal sagte sie mir, wenn sie wolle, könne sie eine große Lady sein, größer als ich sie jemals machen könnte. ‚Eine Gaunerlady vielleicht, aber eine Dame niemals‘, habe ich geantwortet. Thorn war nicht der Mann, der gegenüber einer Frau in Afy Hallijohns Stellung ehrliche Absichten gehabt hätte; aber Mädchen sind so einfältig wie Gänse.“
„Nach Ihrer Beschreibung kann es keiner von den Thorns aus Swainson gewesen sein. Das sind wohlhabende Kaufleute, Väter junger Familien, klein, stämmig, schwer wie Holländer, solide und höchst angesehen. Sehr unwahrscheinlich, dass sie eine solche Unternehmung in Angriff nehmen.“
„Was für eine Unternehmung?“, fragte Richard. „Den Mord?“
„Hinter Afy her zu sein. Richard, wo ist eigentlich Afy?“
Richard Hare hob überrascht den Blick. „Woher soll ich das wissen? Das wollte ich Sie gerade fragen.“
Mr. Carlyle hielt inne. Er hielt Richards Antwort für eine Ausflucht. „Sie ist unmittelbar nach der Beerdigung verschwunden; und man glaubte – kurz gesagt, Richard, in der Nachbarschaft hat man ihr zugetraut, dass sie Ihnen gefolgt ist und sich mit Ihnen zusammengetan hat.“
„Nein! Haben die Leute das wirklich geglaubt? Was für ein Haufen Idioten! Carlyle, ich habe seit dieser unglückseligen Nacht nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Wenn sie überhaupt hinter jemandem her war, dann hinter Thorn.“
„Sah der Mann gut aus?“
„Ich nehme an, alle Welt würde es so nennen. Afy meinte, so einen Adonis habe es außer im Märchen noch nie gegeben. Er hatte glänzende schwarze Haare und einen schwarzen Schnurrbart, dunkle Augen und ebenmäßige Gesichtszüge. Aber seine eitle Stutzerhaftigkeit verdarb alles; würden Sie glauben, dass seine Taschentücher mit Parfum getränkt waren? Sie waren aus dem feinsten Batist, seidig wie Haare und so fein wie das, was Barbara in Lynneborough für eine Guinee gekauft hat. Nur hatte ihres noch eine gestickte Borte rundherum.“
Weitere Einzelheiten konnte Mr. Carlyle nicht in Erfahrung bringen, und es wurde Zeit, dass Richard sich ins Haus begab. Sie gingen den Weg hinauf. „Was ist es doch für ein Segen, dass die Fenster der Dienstboten nicht in diese Richtung weisen“, schauderte Richard, der sich dicht an Mr. Carlyles Fersen geheftet hatte. „Wenn die oben aus dem Fenster schauen würden!“
Seine Befürchtungen waren unbegründet, und er gelangte ungesehen hinein.
Damit war Mr. Carlyles Aufgabe erfüllt; er überließ den armen, verbannten Flüchtling dem kurzen Gespräch mit seiner hysterischen, in Tränen aufgelösten Mutter. Richard war nahezu ebenso hysterisch wie sie und tat auf dem Heimweg das Beste, was er tun konnte: Er grübelte über alles nach, was er gehört hatte.
Die Friedensrichter machten sich einen schönen Abend. Mr. Carlyle bewirtete sie mit einem Abendessen – Hammelkoteletts, Brot und Käse. Als die Mahlzeit vorüber war, nahmen sie noch einmal die Pfeifen zur Hand, aber Miss Carlyle zog sich zurück und ging zu Bett. Sie war seit dem Tod des Vaters nicht mehr an Rauch gewöhnt; jetzt hatte sie Kopfschmerzen, und ihre Augen tränten. Gegen elf Uhr wünschten alle Mr. Carlyle eine gute Nacht und gingen; nur Mr. Dill gehorchte einem Nicken seines Vorgesetzten und blieb.
„Setzen Sie sich einen Augenblick, Dill; ich möchte Sie etwas fragen. Sie sind doch gut mit den Thorns aus Swainson bekannt; haben die zufällig einen Verwandten, einen Neffen oder Cousin vielleicht, der ein geckenhafter junger Bursche ist?“
„Ich war letzten Sonntag vor zwei Wochen drüben und habe den Tag mit dem jungen Jacob verbracht“, lautete Mr. Dills Antwort, die etwas ausführlicher war als sonst üblich. Mr. Carlyle lächelte.
„Mit dem jungen Jacob! Ich nehme an, er ist mindestens vierzig.“
„So ungefähr. Sie und ich, wir schätzen das Alter unterschiedlich ein, Mr. Archibald. Aber einen Neffen haben sie nicht; der alte Herr hatte nie mehr als diese zwei Kinder Jacob und Edward. Und einen Cousin haben sie auch nicht. Allmählich werden sie zu reichen Männern. Jacob hat sein Schäfchen im Trockenen.“
Mr. Carlyle grübelte. Er hatte mit der Antwort gerechnet, hatte er doch nie davon gehört, dass die Brüder Thorn – Gerber, Lederzurichter und Sattler – einen Verwandten gleichen Namens hätten. „Dill“, sagte er, „es hat sich etwas ergeben, was nach meinem Dafürhalten einen Zweifel auf Richard Hares Schuld wirft. Ich frage mich, ob er überhaupt etwas mit dem Mord zu tun hat.“
Mr. Dill riss die Augen auf. „Aber seine Flucht, Mr. Archibald, und die Tatsache, dass er sich abgesetzt hat?“
„Verdächtige Umstände, zugegeben. Dennoch habe ich stichhaltige Gründe, zu zweifeln. Zu der Zeit, als es geschah, kam regelmäßig irgendein Stutzer und machte Afy Hallijohn heimlich den Hof; er wird als großer, schlanker Mann beschrieben, der den Namen Thorn trug und in Swainson wohnte. Könnte das jemand aus der Familie Thorn gewesen sein?“
„Mr. Archibald!“, protestierte der alte Bürovorsteher. „Als ob diese beiden angesehenen Gentlemen mit ihren Ehefrauen und Babys dieser flatterhaften Afy nachgestellt hätten!“
„An sie habe ich nicht gedacht“, gab Mr. Carlyle zurück. „Das war ein junger Mann, dreiundzwanzig oder vierundzwanzig und einen Kopf größer als die beiden. Ich hatte geglaubt, es könne vielleicht ein Verwandter sein.“
„Ich habe sie wiederholt sagen hören, sie seien allein auf der Welt und die beiden Letzten mit diesem Namen. Mit denen stand niemand in Verbindung, darauf können Sie sich verlassen.“ Er wünschte Mr. Carlyle eine gute Nacht und ging hinaus.
Ein Diener räumte die Gläser und die stinkenden Pfeifen weg. Mr. Carlyle war in Gedanken versunken; schließlich blickte er zu dem Mann hinüber.
„Ist Joyce zu Bett gegangen?“
„Nein, Sir. Sie steht gerade erst im Begriff.“
„Schicken Sie sie her, wenn sie diese Dinge weggebracht haben.“
Joyce – die oberste Dienerin von Miss Carlyle – kam herein. Sie war von mittlerer Größe und würde das fünfunddreißigste Lebensjahr nicht mehr wiedersehen; ihre Stirn war breit, die grauen Augen lagen tief, und das Gesicht war blass. Insgesamt sah sie einfach, aber vernünftig aus. Sie war die Halbschwester von Afy Hallijohn.
„Schließen Sie die Tür, Joyce.“
Joyce tat wie geheißen, trat vor und stellte sich neben den Tisch.
„Haben Sie irgendetwas von Ihrer Schwester gehört, Joyce?“, begann Mr. Carlyle ein wenig abrupt.
„Nein, Sir“ antwortete sie. „Ich denke, es wäre auch ein Wunder, wenn ich etwas von ihr hören würde.“
„Warum das?“
„Wenn sie hinter Richard Hare her wäre, der ihren Vater ins Grab gebracht hat, würde sie sich und alles, was sie tut, wahrscheinlich verstecken und mir nicht bekannt machen, Sir.“
„Wer war der andere, dieser elegante Gentleman, der hinter ihr her war?“
Die Farbe wich aus Joyces Wangen, und sie senkte die Stimme.
„Sir! Sie haben davon gehört?“
„Damals nicht, aber später. Er kam aus Swainson, nicht wahr?“
„Ich glaube schon, Sir. Afy hat nie viel über ihn erzählt. In dem Punkt waren wir uns nicht einig. Ich habe gesagt, eine Person von seinem Rang wäre nicht gut für sie; und wenn ich etwas gegen ihn gesagt habe, ist Afy weggelaufen.“
Mr. Carlyle fragte weiter. „Sein Rang. Was für einen Rang bekleidete er?“
„Afy hat geprahlt, er sei fast so etwas wie ein Lord; und so sah er auch aus. Ich habe ihn nur einmal gesehen; ich war früher nach Hause gekommen, und da saß er mit Afy. Seine weißen Hände glitzerten von den ganzen Ringen, und sein Hemd war mit prächtigen Steinen besetzt, wo eigentlich die Knöpfe sein müssten.“
„Haben Sie ihn seitdem noch einmal gesehen?“
„Seitdem nicht mehr, außer einmal; und ich glaube, ich würde ihn auch nicht wiedererkennen, wenn ich ihn sehen würde. Sir, er ist aufgestanden, sobald ich in den Salon getreten bin, hat Afy die Hand gegeben und ist gegangen. Ein nobler, aufrechter Mann war er, fast so groß wie Sie, Sir, aber sehr schlank. Diese Soldaten halten sich immer sehr gut.“
„Woher wissen Sie, dass er Soldat war?“, fragte Mr. Carlyle.
„Das hat Afy mir gesagt. Sie hat ihn den ‚Captain‘ genannt; aber sie hat gesagt, er sei noch nicht ganz Captain, sondern … der nächste Rang, ein … ein …“
„Lieutenant?“, schlug Mr. Carlyle vor.
„Ja, Sir, das war es – Lieutenant Thorn.“
„Joyce“, sagte Mr. Carlyle, „ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass Afy vielleicht nicht Richard Hare gefolgt ist, sondern dem Lieutenant Thorn?“
„Nein, Sir“, antwortete Joyce. „Ich war mir immer sicher, dass sie mit Richard Hare zusammen war, und davon kann mich nichts abbringen. Ganz West Lynne ist davon überzeugt.“
Mr. Carlyle unternahm nicht den Versuch, sie „davon abzubringen“. Er entließ sie, blieb allein sitzen und drehte den Fall mit allen seinen Aspekten in Gedanken hin und her.
Das kurze Gespräch zwischen Richard Hare und seiner Mutter war schnell zu Ende. Es dauerte nur ungefähr eine Viertelstunde, denn beide fürchteten Unterbrechungen durch die Dienstboten; mit hundert Pfund in der Tasche und Verzweiflung im Herzen verließ der unglückselige junge Mann wieder einmal das Zuhause seiner Kindheit. Mrs. Hare und Barbara sahen zu, wie er sich im verräterischen Mondlicht den Pfad entlangschlich und schließlich die Straße erreichte. Beide hatten das Gefühl, die Abschiedsküsse, die sie ihm auf die Lippen gedrückt hatten, würden jahrelang nicht erneuert werden, ja vielleicht sogar überhaupt nicht mehr.
Kapitel 7 Hausherrin Miss Carlyle
An einem schönen Morgen im Juli schlug die Kirchturmuhr von West Lynne acht. Dann erklangen die Glocken und verkündeten, dass Sonntag war.
East Lynne hatte den Besitzer gewechselt und war jetzt das Eigentum von Mr. Carlyle. Er hatte es im Ist-Zustand gekauft, mit Möbeln und allem anderen; die Transaktion war aber heimlich vollzogen worden, und abgesehen von denen, die an den Verhandlungen beteiligt waren, hatte niemand einen Verdacht. Ob Lord Mount Severn nun glaubte, es könne verhindern, dass jemand Wind davon bekam, oder ob er Abschied von einem Ort nehmen wollte, den er früher geliebt hatte, eines ist sicher: Er war bestrebt, es eine oder zwei Wochen zu besuchen. Mr. Carlyle hatte höchst bereitwillig und wohlwollend zugestimmt; und so waren der Earl, seine Tochter und ihre Entourage am Tag zuvor eingetroffen.
West Lynne war in Aufruhr. Es bezeichnete sich als aristokratischen Ort und hegte die Hoffnung, der Earl könne die Absicht haben, ihm auf Dauer das Licht seiner Gegenwart zu schenken, indem er seinen Wohnsitz wiederum in East Lynne nahm. Man hatte üppig Toilette gemacht, um seinem bewundernden Blick zu begegnen, und die hübsche Barbara Hare war nicht die einzige junge Dame, die deshalb auf elterliche Entrüstung stieß.
Miss Carlyle hatte sich zur üblichen Zeit auf den Kirchgang vorbereitet und war einfach, aber gut gekleidet. Als sie und Archibald das Haus verließen, sahen sie auf der Straße etwas in der Sonne blitzen und glitzern. Zuerst kam ein rosa Sonnenschirm; es folgten eine rosa Haube, eine rosa Feder, ein graues, in Brokat gefasstes Kleid und weiße Handschuhe.
„Die eitle kleine Närrin!“, stieß Miss Carlyle hervor. Aber Barbara, die sich der Beschimpfung nicht bewusst war, lächelte ihnen auf der Straße entgegen.
„Gut gemacht, Barbara!“, sagte Miss Carlyle zur Begrüßung. „Alles, was Recht ist – Sie sind schöner als ein Sonnenstrahl!“
„Nicht halb so schön wie viele andere in der Kirche heute sein werden“, antwortete Barbara, während sie die schüchternen blauen Augen hob und mit errötendem Gesicht den Gruß von Mr. Carlyle erwiderte. „West Lynne scheint es darauf anzulegen, sich besser zu kleiden als Lady Isabel. Sie hätten gestern Morgen bei der Modistin sein müssen, Miss Carlyle.“
„Wird heute der Sonntagsstaat ausgeführt?“, erkundigte sich Mr. Carlyle gewichtig, als Barbara sich mit ihnen zur Kirche wandte. Er ging neben ihr und seiner Schwester, denn er hatte eine fast ebenso unbezwingbare Abneigung wie ein Franzose dagegen, zwei Damen seine Arme anzubieten.
„Natürlich“, erwiderte Barbara. „Wissen Sie, der erste Eindruck ist alles, und der Earl und seine Tochter werden in die Kirche kommen.“
„Und wenn sie nun nicht in einem Pfauengefieder erscheint?“, rief Miss Carlyle mit unbewegter Miene.
„Ach! Aber sie wird sicher so kommen – wenn Sie damit meinen, dass sie fein angezogen ist“, sagte Barbara hastig.
„Und wenn sie überhaupt nicht in die Kirche kommen?“, lachte Mr. Carlyle. „Was für eine Enttäuschung wäre das für die Hauben und Federn!“
„Schließlich, Barbara, was bedeuten sie uns oder wir ihnen?“, nahm Miss Carlyle das Gespräch wieder auf. „Wir werden vielleicht nie zusammentreffen. Wir unbedeutenden Bürger von West Lynne sollten uns in East Lynne nicht aufdrängen. Das wäre wohl kaum passend – und würde auch vom Earl oder Lady Isabel nicht so betrachtet.“
„Genau so hat auch Papa geredet“, murrte Barbara. „Er hat gestern diese Haube zu Gesicht bekommen, und als ich zur Entschuldigung sagte, ich müsse bei Ihnen vorsprechen, hat er mich gefragt, ob ich glaubte, die unbedeutenden Familien von West Lynne könnten es wagen, dem Lord Mount Severn ihre Aufwartung zu machen, als gehörten sie zum Landadel. Was ihn so verärgert hat, war die Feder.“
„Sie ist auch wirklich lang“, bemerkte Miss Carlyle und musterte sie mürrisch.
Barbara sollte an diesem Tag in der Kirchenbank der Carlyles sitzen, denn sie dachte, je weiter sie von dem Richter entfernt war, desto besser sei es; man konnte es nicht wissen, aber vielleicht würde er an der Feder inmitten des Gottesdienstes aus Rache einen heimtückischen Schnitt anbringen und so ihre Schönheit ruinieren. Sie hatten sich kaum gesetzt, da kamen zwei Fremde leise durch den Mittelgang: ein Gentleman mit gefurchter Stirn und grauen Haaren, der beim Gehen hinkte, und eine junge Dame. Barbara drehte sich eifrig um, blickte aber dann wieder weg; es konnten nicht die erwarteten Besucher sein, dazu war das Kleid der jungen Dame zu einfach – ein schlichtes Musselinkleid für einen heißen Sommertag. Aber der alte Kirchendiener mit seinem wallenden Mantel ging mit seinem Marschallstab seitlich vor ihnen her und führte sie zur Kirchenbank von East Lynne, in der so viele Jahre niemand gesessen hatte.
„Wer um alles in der Welt kann das sein?“, sagte Barbara im Flüsterton zu Miss Carlyle. „Dieser alte Dummkopf macht immer Fehler und setzt Leute an die falschen Stellen.“
„Der Earl und Lady Isabel.“
Die Farbe schoss Barbara ins Gesicht, und sie starrte Miss Corny an. „Was, aber sie hat keine Seide, keine Federn, gar nichts!“, rief Barbara. „Sie ist schlichter als alle anderen in der Kirche!“
„Schlichter als die Herausgeputzten – als Sie zum Beispiel. Der Earl hat sich stark verändert, aber ich hätte beide überall wiedererkannt. Sie haben große Ähnlichkeit mit ihrer armen Mutter – genau die gleichen Augen und der gleiche liebreizende Gesichtsausdruck.“
Ja, diese braunen Augen voller Liebreiz und Melancholie; wohl kaum jemand, der sie einmal gesehen hatte, konnte sie verwechseln oder vergessen; Barbara Hare vergaß, wo sie war, und blickte sie an diesem Tag immer wieder an.
„Sie ist sehr anmutig“, dachte Barbara, „und ihre Kleidung ist sicher die einer Lady. Hätte ich doch nur nicht diese flatterige rosa Feder aufgesteckt! Sie muss uns alle für ganz schön putzsüchtig halten!“
Der Wagen des Earl, ein offener Landauer, wartete am Ende des Gottesdienstes vor dem Tor. Der Lord half seiner Tochter beim Einsteigen und stand gerade im Begriff, ihr zu folgen und seinen Gichtfuß auf das Trittbrett zu setzen, da sah er Mr. Carlyle. Der Earl drehte sich um und streckte die Hand aus. Ein Mann, der East Lynne kaufen konnte, war es wert, als gleichrangig behandelt zu werden, auch wenn er nur ein Landanwalt war.
Mr. Carlyle gab dem Earl die Hand, näherte sich dem Wagen und lüftete in Richtung von Lady Isabel den Hut. Sie beugte sich mit ihrem angenehmen Lächeln nach vorn und legte ihre Hand in seine.„Ich habe Ihnen vieles zu sagen“, bemerkte der Earl. „Ich würde es begrüßen, wenn Sie mit zu uns nach Hause fahren würden. Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, seien Sie doch für den Rest des Tages Gast auf East Lynne.“
Dabei lächelte er verschmitzt, und Mr. Carlyle tat es ihm gleich. Als Gast auf East Lynne! Das war derzeit der Earl. Mr. Carlyle wandte sich zur Seite und setzte seine Schwester in Kenntnis.
„Cornelia, ich werde zum Abendessen nicht zu Hause sein; ich fahre mit Lord Mount Severn. Guten Tag, Barbara.“
Mr. Carlyle stieg in die Kutsche, der Earl folgte ihm, und sie fuhren davon. Die Sonne schien noch, aber für Barbara Hare war die Helligkeit des Tages dahin.
„Woher kennt er den Earl so gut? Woher kennt er Lady Isabel?“, fragte sie sich in ihrer Verwunderung immer wieder.
„Archibald weiß über die meisten Menschen etwas“, erwiderte Miss Corny. „Als er im Frühjahr in London war, ist er oft mit dem Earl zusammengetroffen, und ein- oder zweimal auch mit Lady Isabel. Was für ein hübsches Gesicht sie hat!“
Barbara antwortete nicht. Sie fuhr mit Miss Carlyle nach Hause, aber ihr Benehmen war ebenso abwesend wie ihr Herz, denn das war nach East Lynne davongelaufen.
Kapitel 8 Mr. Kanes Konzert
Bevor der vierzehntägige Aufenthalt von Lord Mount Severn zu Ende gehen sollte, nahm die Gicht einen ernsten Verlauf. Aus East Lynne abzureisen, war ihm unmöglich. Mr. Carlyle versicherte ihm, er sei nur allzu erfreut, wenn der Gast bleiben würde, solange es ihm beliebte, und der Earl brachte seinen Dank zum Ausdruck; er hoffte, bald wieder auf den Beinen zu sein.
Aber das war er nicht. Die Gicht kam, und die Gicht ging – sie zwang ihn zwar nicht gerade, im Bett zu bleiben, raubte ihm aber die Fähigkeit, seine Räumlichkeiten zu verlassen; der Zustand dauerte bis zum Oktober, aber dann ging es ihm viel besser. Die Landbewohner waren gute Nachbarn gewesen, hatten den gebrechlichen Earl besucht und Lady Isabel gelegentlich mitgenommen, aber sein wichtigster und beständiger Besucher war Mr. Carlyle gewesen. Mittlerweile mochte der Earl ihn auf mehr als nur gewöhnliche Weise und war enttäuscht, wenn der Anwalt einen Abend nicht bei ihm verbrachte; so kam es, dass er mit dem Earl und Lady Isabel irgendwann auf vertrautem Fuß stand. „Ich bin der allgemeinen Gesellschaft nicht ganz gewachsen“, sagte der alte Herr zu seiner Tochter, „und es ist sehr rücksichtsvoll und freundlich von Carlyle, hierher zu kommen und mich in meiner Einsamkeit aufzuheitern.“
„Äußerst freundlich“, sagte Isabel. „Ich mag ihn sehr, Papa.“
„Ich kenne niemanden, den ich nur halb so sehr mögen würde“, war die Antwort des Earl.
Am gleichen Abend kam Mr. Carlyle wie gewöhnlich zu Besuch, und im weiteren Verlauf bat der Earl seine Tochter, zu singen.