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Die Arbeit ging gut voran, es hatte keine unangenehmen Vorkommnisse und keinen einzigen nennenswerten Unfall gegeben. Alles lief wie geplant. Es schien fast so, als wenn dieser Kirchenbau unter einem guten Stern stehen würde. Als sich aber eines Tages Rabenvögel auf den umliegenden Bäumen niederließen, um das Geschehen zu beobachten, kam Eberz wieder das »Dutzend des Teufels« in den Sinn. »Heilige Maria Mutter Gottes, erbarm dich unser«, flüsterte er von den anderen unbemerkt in sich hinein, während er hastig das Kreuz schlug. Danach ging ihm die Arbeit wieder ein wenig leichter von der Hand.
Als sie eine gewisse Höhe erreicht hatten, trat Eberz mit seinem Sohn Michael und einem anderen seiner Arbeiter in die Raummitte, streckte beide Arme von sich und sagte: »An diese Stellen hier kommt je ein Fenster, zwei Ellen im Quadrat groß. Dann trat er in den Altarraum vor, den er wie die Apsis einer »richtigen« Kirche etwas schmäler gehalten hatte als den Kirchenraum, der immerhin dreißig Fuß in der Breite maß, während die Länge des Hauptraumes stolze fünfzig Fuß betrug. Das hieß, dass sich zu beiden Seiten eines Mittelgangs jeweils sieben Sitzreihen mit je sieben Plätzen würden einbauen lassen. Dass es genau sieben sein mussten, hatte sich Hermannus Contractus gewünscht, weil dies die heilige Zahl schlechthin war.
»Diesen Teil hier …«, Eberz zeigte auf den festgestampften Lehmboden des Chorraumes, »… erhöhen wir um zwei Treppenstufen! Dann schaut das Ganze imposanter aus und der Pfaffe, der hoffentlich bald kommen wird, kann sich über uns erheben.« Spott schwang in seiner Stimme mit, obwohl er es mit seiner Arbeit im Dienste des Herrn sehr ernst und genau nahm.
Dafür, dass sie das ganze Frühjahr und über den Sommer hinweg bis in den Herbst hinein an der Kirche gefront hatten, waren sie von ihrem Grundherrn außerordentlich gut mit Lebensmitteln für sich selbst und für ihre Familien versorgt worden. Ansonsten hatte der Graf lediglich das Holz für den Kirchenbau gestiftet und sich zwischendurch persönlich nach dem Fortgang der Arbeiten erkundigt. Alles andere war in den Händen von Gerold Eberz und seinen Männern gelegen. Weil sie wussten, dass am Schluss allein der »wohledle« Spender, der Mair und der neue Pfarrer gut dastehen, sie selbst aber keines Lobes gewürdigt würden, gab es immer wieder Situationen, in denen der eine oder andere die Arbeit niederlegen wollte. Aber dem von allen respektierten Vorarbeiter war es immer wieder gelungen, seine maulenden Arbeiter zur Vernunft zu bringen. »Ihr und eure Familien habt doch noch nie so viel zu fressen bekommen wie jetzt, oder?«, hatte er dabei nicht nur einmal als Argument ins Feld geführt und die Männer damit zu Höchstleistungen angetrieben. Geholfen hatte ihm dabei, dass er die Familienväter unter ihnen heimlich auch Holz für ihre eigenen Behausungen hatte schlagen lassen, während er selbst mit dem Abfallholz zufrieden gewesen war. Dabei hatten alle gewusst, dass Eberz damit sein eigenes Todesurteil unterschreiben würde, falls sie denunziert oder beim Holzdiebstahl erwischt würden. Und dies rechneten sie ihrem allseits beliebten Vorarbeiter so hoch an, dass sie ihn auch über den Kirchenbau hinaus niemals im Stich lassen würden.
So war der Rohbau schon bald soweit fertig, dass sie das Dach decken und den Glockenturm errichten konnten.
»Kruzifix! Wo bleibt diese verdammte Glocke, die uns der Graf versprochen hat?«, schimpfte Eberz und handelte sich dadurch eine Rüge des neuen Pfarrers ein, der vor ein paar Tagen wie aus dem Nichts in der Abenddämmerung in villa Ysinensi aufgetaucht war und sich einmal mehr hinter ihn geschlichen hatte, um zu lauschen.
Der Geistliche hatte die gotteslästernde Flucherei mitgehört. »Fünfzehn Vaterunser!«, trug er dem Sargtischler als Sühne auf.
Anstatt darauf einzugehen, blaffte der längst selbstbewusst gewordene Vorarbeiter den Priester in der einfachen Sprache des Volkes an: »Was willst du hier, Pfaffe? Schleich dich und lass uns unsere Arbeit machen!«
»Wahrscheinlich möchte er einen von uns bei der Obrigkeit hinhängen!«, bekam Eberz Schützenhilfe von einem seiner Männer, die allesamt zu lachen begannen.
Der Priester konterte, dass es ihn freuen würde, Eberz und seine Leute bei solch guter Laune vorgefunden zu haben. »Zu eurer und zur Freude Gottes darf ich euch im Auftrag unseres Grundherrn etwas mitteilen!«
Nun war es still und auch die Letzten legten ihre Arbeitsgeräte ab, um nähertreten zu können. Schließlich mochten alle mitbekommen, was ihr noch nicht offiziell eingeführter Pfarrherr zu sagen hatte.
Weil der Pfaffe die Situation und seine vermeintliche Überlegenheit genoss, fuhr er nicht gleich fort.
Gerold Eberz nahm sich wieder das Wort: »Nun sag schon, was gibt es für Neuigkeiten?«
»Du betest deine Vaterunser?« Während er auf Eberz’ Antwort wartete, blitzten die Augen des Pfarrers gefährlich auf. Dann spuckte er eine unverhohlene Drohung aus: »Du weißt, was auf Gotteslästerung steht!«
»Schon gut, nach Feierabend werde ich Zwiesprache mit unserem Herrn halten und das Dreifache der von dir geforderten Gebete sprechen!«, wehrte Eberz mit erhobenen Händen ab. »Aber nun sag schon, was …«
Um coram publico zu demonstrieren, dass sich der studierte Pfarrherr das Wort nicht von einem unbelesenen Sargtischler erteilen lassen musste, unterbrach er dessen Frage und kam endlich zur Sache: »Euer Herr lässt ausrichten, dass … die Glocke noch vor St. Martini hier sein wird!«
Weil er diese frohe Botschaft verkündet hatte, war die kleine Stichelei schlagartig vergessen und es brandete ein solcher Jubel auf, wie es ihn zum letzten Mal in villa Ysinensi gegeben hatte, als die Bevölkerung erfahren hatte, dass ihnen der Graf ein Gotteshaus spendieren würde. Damals hatten die Fronarbeiter ja noch nicht gewusst, dass sie ihre Kirche selbst errichten mussten. Aber das war in diesem Moment des Glücks egal, sie freuten sich derart auf die Glocke, dass es ihnen Antrieb gab, das Gebäude rechtzeitig bis St. Nikolaus fertigzustellen.
Die Zeit drängte, denn über den Kirchenbau hinaus hatte der Graf in Auftrag geben lassen, so viele grob gearbeitete Bänke und Tische herzustellen, dass insgesamt etwa einhundertfünfzig Gäste Platz auf dem Gelände finden konnten, auf dem die Kirchweihe auch weltlich gefeiert werden sollte. »Die könnt ihr dann behalten und von mir aus verfeuern!«, hatte er gleichsam gönnerhaft wie spaßhalber zu Eberz gesagt.
Dabei hatte der Graf offensichtlich gewusst, dass der umsichtig denkende Eberz dafür sorgen würde, die bis dahin bearbeiteten Holzbretter niemals dem Feuer zu übergeben, sondern zum Bau der längst überfälligen Kornscheuer zu verwenden. Schon seit geraumer Zeit besprach der Graf solche Dinge mehr und mehr direkt mit dem Sargtischler, anstatt mit dem Mair, der eigentlich dafür zuständig gewesen wäre. Der Grund mochte wohl darin zu suchen sein, dass Eberz ein ernsthaftes Interesse am Vorwärtskommen seines Dorfes zeigte und die Dinge anpackte, während der Mair bei den meisten anfallenden Arbeiten durch Abwesenheit glänzte und sich mehr für Alkohol als für die Allgemeinheit zu interessieren schien.
Kapitel 2
Es war ein extrem frostiger und deswegen auch ungemütlicher Dezembertag des Jahres 1042. Aber dies hatte den Konstanzer Bischof Eberhard I. nicht davon abgehalten, die schwere Mühsal trotz des schlechten Wetters auf sich zu nehmen, mit großem Gefolge ins noch kältere Allgäu zu reisen, um dort eine wichtige Mission zu erfüllen. Aber kaum in villa Ysinensi angekommen, sollte sein Vorhaben so holprig beginnen, dass er dies sogar als unheilbringendes Omen betrachtete. Denn schon am oberen Tor, durch das er ins Dorf gelangen wollte, musste er aus seiner Kutsche heraus auf ein Pferd steigen – der hölzerne Durchlass war für das breite Gefährt zu schmal gewesen. Wegen seiner durch den Matsch nass gewordenen Beinlinge fluchte der hochrangige Mann Gottes still vor sich hin, anstatt den herzlichen Empfang der hiesigen Bevölkerung zu genießen und ihr würdig zuzuwinken.
»Gott, was sind das nur für einfache Bauern«, grummelte er seinem klugen Adlatus in despektierlichem Tonfall zu.
Der Konstanzer Diakon, der bei Reisen immer an der Seite des Bischofs war, nutzte die Gelegenheit, um seinen Herrn dahingehend aufzuklären, dass er den hiesigen Menschenschlag nicht unterschätzen dürfe. In dieser hügeligen Gegend wuchsen nicht nur Dinkel und Hafer, sondern zudem wurde äußerst erfolgreich Flachs angebaut und verarbeitet, weswegen gerade die Bauern gute Abgabenzahler seien. »Was glaubt Ihr, weswegen deren Grundherr eine Kirche gestiftet hat, obwohl er ein Potentat alter Schule ist?«
»Er wird schon gewusst haben, weshalb er dies getan hat. Wahrscheinlich sind die Abgaben entgegen Eurer Meinung doch nicht so hoch, dass sie ihn zufriedenstellen.«
»Oder die Leute hier begehren gerne auf. Die Allgäuer sind ja bekannt dafür, ein streitbares Völkchen zu sein«, mutmaßte der junge Geistliche, der die braune Kutte der Benediktiner trug.
»Schon gut, mein Freund! Lasst uns lieber dafür sorgen, dass wir uns schnellstens aufwärmen und unseren Hunger stillen können, bevor wir uns zu unseren Schlafstätten begeben. Für die morgige Zeremonie müssen wir ausgeruht sein! Die Reise war lang und anstrengend, außerdem ist es teuflisch kalt!«
»Aber, aber, Euer Exzellenz!«, rügte der treu ergebene Kirchenlehrer, der gleichzeitig auch Domschatzmeister war, den Bischof für das Unwort, das der soeben in den Mund genommen hatte.
*
Die geplante Kirchen- und Glockenweihe hätte eigentlich am Tag des heiligen Nikolaus stattfinden sollen. Aber wegen eines gewaltigen Schneesturms, der über das Mare Brigantium hinweggefegt war, hatte die Delegation des Bischofs von Konstanz ihre Abreise um vier Tage verschieben müssen – für die Bevölkerung von villa Ysinensi eine gefühlte Unendlichkeit. Letztlich waren sie aber froh gewesen, noch etwas Zeit gewonnen zu haben, um ihre Siedlung herausputzen und alles für die Gäste des Grafen vorbereiten zu können. Und dazu hatte gehört, dass über den größten baumlosen Platz der Siedlung Planen gespannt wurden, unter denen die etwa einhundert erwarteten Gäste verköstigt werden konnten. Und für diejenigen, die erst am Tag nach der kirchlichen und weltlichen Feier ihren Rückweg antreten würden, sollte ein Zeltdach zur Verfügung stehen, unter dem sie ihre Häupter niederlegen konnten.
Rundherum hatten reisende Händler aus nah und fern, die im Laufe des Jahres von dieser Kirchenweihe erfahren hatten, ihre rollenden Verkaufsbuden aufgestellt. Weil sich der feierliche Anlass auch unter anderen mehr oder weniger ehrlichen Berufsgruppen herumgesprochen hatte, war neben Gauklern, Komödianten und Musikanten auch ein Heer von Falschspielern und Taschendieben angelockt worden. Sogar ein paar wandernde Gunstgewerblerinnen erhofften sich mit Gottes Hilfe gute Geschäfte, weswegen auch sie dem Tross des Bischofs von Konstanz aus hinterhergereist waren – selbstverständlich in gebührendem Abstand. Um ihrem Gewerbe ungestört nachgehen zu können, hatten sie ihren weich gepolsterten und reichlich mit Schaffellen ausgestatteten Planwagen etwas abseits der anderen Fahrzeuge abgestellt.
So etwas hatten die Einheimischen noch nie miterleben dürfen. Kein Wunder also, dass sie irritiert und völlig aus dem Häuschen waren – insbesondere, weil sich der Himmel gnädig zu zeigen schien und zum ersten Mal seit mehreren Wochen wärmende Sonnenstrahlen durch die sich zunehmend teilende Wolkendecke schickte.
*
Anderntags war es endlich so weit und der kurzerhand zum Mesner bestallte Sargmacher durfte erstmals die von der Insel Reichenau stammende gusseiserne Kirchenglocke läuten, die Hermannus Contractus tatsächlich spendiert hatte. Dass auf der Glocke das Amtswappen des ehemaligen Reichenauer Abtes Pirminius mit eingegossen war, der das Inselkloster vor über dreihundert Jahren gegründet hatte, störte Gerold Eberz nicht im Geringsten. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul! Hauptsache, er wiehert gut«, hatte er zufrieden schmunzelnd von sich gegeben, nachdem ihm die Bedeutung dieses Wappens erklärt worden war.
Alles war vorbereitet, die Menschen hatten sich und ihre Siedlung ins bestmögliche Licht gesetzt und waren guter Laune. Sicherheitshalber hatten sie ihre Nutztiere eingesperrt. Damit wollten sie vermeiden, dass bei den auswärtigen Besuchern Begehrlichkeiten geweckt wurden und sie nach dem Ende dieses Spektakels nicht versehentlich eine Ziege mehr im Stall vorfinden würden.
Als der Bischof von Konstanz zusammen mit vierzehn Klerikern des Ordens vom Heiligen Benedikt feierlich in die Kirche einzog, erstrahlte das Gotteshaus in bescheidenem Glanz. achtundneunzig der wichtigsten Männer des Umlandes hatten die Kirchenbänke bis auf den letzten Platz gefüllt. Die allesamt gespannten Ehrengäste waren nicht nur aus den umliegenden Orten Christazhofen, Eisenharz, Engerazhofen, Enkenhofen, Friesenhofen, Leutkirch, Ratpoticella, Rohrdorf, Trauchburg, Urlau und Wangen gekommen, sondern waren auch aus den etwas ferneren Orten Aulendorf, Baienfurt, Ravensburg, Waldsee, Weingarten, Wurzach und natürlich auch aus Altshausen angereist wie Delegationen aus weiten Teilen des Allgäus und aus Lindau. Vom Grafen ausgesandte Boten zu Ross hatten dafür gesorgt, dass alle seiner Einladung Folge leisteten. Dementsprechend voll war die kleine Kirche, die nun ihre Bewährungsprobe bestehen musste.
Die ersten beiden Bankreihen waren dem Grundherrn, Wolfrad II. Graf von Altshausen und Herrn der Burg sowie des Landes Trauchburg, seiner Familie und deren Gefolgschaft vorbehalten. So war seine Gemahlin Hiltrud das einzige weibliche Wesen in der Kirche. Die Frauen der anderen mussten sich – ebenso wie die hiesige Bevölkerung – damit begnügen, sich vor der Kirchentür zu versammeln, die trotz der Kälte geöffnet war. Auf persönlichen Wunsch des Grafen und seiner gnädigen Gemahlin war die Weihe kurzfristig auf den Tag der Gedächtnisfeier zum Tod ihres kleinen Sohnes Luitpold gelegt worden, weswegen die Kirchenstifter der Zeremonie wohl mit gemischten Gefühlen beiwohnen würden.
Rechter Hand vor dem Altarraum hatte der Bischof einen mitgebrachten Katheder aufstellen lassen, wie ihn die Mönche in den Klöstern benutzten, um im Stehen Schriften zu vervielfältigen. Dieses wunderschöne und wertvolle Pult würde er als sein persönliches Geschenk für die Bevölkerung von villa Ysinensi in dem Gotteshaus zurücklassen, damit der hiesige Dorfpfarrer bei den Liturgien an Sonn- und Feiertagen darauf die Missale platzieren und vor der versammelten Kirchengemeinde daraus lesen oder die Manuskripte für seine Predigten drauflegen konnte.
Dieses Stehpult ist ein von meinem Adlatus wohldurchdachtes Geschenk, dachte sich der Bischof, nachdem er festgestellt hatte, dass das aus seiner Sicht primitive Gotteshaus über keine Kanzel verfügte. Allerdings fiel ihm auch auf, dass der Rest des bescheidenen Kircheninventars nicht zu diesem kunstvoll geschnitzten Katheder passte … oder umgekehrt.
Ungeachtet der Gedanken seines Bischofs hatte Pater Bernardus, einer der bischöflichen Kuttenträger, hinter dem Stehpult Aufstellung genommen, um mit frisch gespitztem Federkiel alles fein säuberlich mitschreiben zu können. Mit Bruder Bernardus hatte der Bischof seinen besten Schreiber ausgewählt, von dem er wusste, dass er alles akribisch Wort für Wort für die Ewigkeit festhalten würde. Seine Aufschriebe würden zur Lagerung in verschiedenen kirchlichen Bibliotheken vervielfältigt werden und er würde sie zudem auch noch eigenhändig mit kunstvoll gemalten Initialen verzieren.
Alle Kirchenbesucher einte, dass sie möglichst viel von dem mitbekommen wollten, was gleich passieren würde. So waren es denn verzaubernde Augenblicke, die sich nicht zuletzt auch Dank der aus Konstanz mitgebrachten Kerzen tief in die Herzen der Gläubigen gruben. Die blütenweiß gebleichte Leinendecke auf dem Altar, in die von mehreren Frauen die Symbole der Dreifaltigkeit in blutrotem Garn eingestickt worden waren, schien die Leuchtkraft der Kerzen zu verdoppeln. Ansonsten war das zu beiden Seiten des geschnitzten Herrgotts drapierte Tannenreisig der einzige Schmuck. Aber dies machte nichts; solch einen erhebenden Moment der inneren Einkehr hatte es in dem beschaulichen villa Ysinensi noch nie gegeben – dementsprechend glücklich waren die Bewohner an diesem großen Tag für ihre geliebte Heimat und für sich selbst. Und der Prunk städtischer Kirchen oder einer der Kathedralen, wie es sie auch in Konstanz oder im fernen Aachen gab, war den meisten von ihnen sowieso fremd.
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Ein eigenartig gewandeter Mann, der in einem gewissen Abstand des Geschehens auf einer Anhöhe im Sattel seines Pferdes saß, betrachtete das Schauspiel mit einem Verlangen in den Augen, das die Mordgelüste in seinem Innersten widerspiegelte. Dass die vermummte Gestalt dem Bischof von Konstanz aus sicherer Entfernung hinter dem Planwagen der Gunstgewerblerinnen bis hierhergefolgt war, hatten nicht einmal die weltlichen Wachen des hochrangigen Klerikers bemerkt. Und weil die unheimliche Gestalt bis jetzt nicht gesehen worden war, konnte auch von niemandem bemerkt worden sein, dass sie nichts Gutes im Schilde führte. Weil alle Blicke in Richtung des neuen Gotteshauses gerichtet waren, nahm niemand Notiz davon, dass ihnen der Mann mit gezogenem Schwert eine zornige Verwünschung zurief, bevor er davonritt und im Nichts dieses Wintertages verschwand.
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Nach dem Schlusssegen der ersten heiligen Messe im neuen Gotteshaus nahm sich der erst vor wenigen Tagen durch den Grafen bestallte neue Mair das Wort. Gerold Eberz war sichtlich stolz darauf, als erste Amtshandlung hier in der neuen Kirche von villa Ysinensi nicht nur zu den Seinen, sondern auch zu den hochrangigsten Leuten im großen Umkreis sprechen zu dürfen. Und dies tat er, ohne sich die innere Unruhe anmerken zu lassen, die ihn auf einen Schlag zu übermannen drohte. Zuerst begrüßte er im Namen der Bevölkerung von villa Ysinensi die Anwesenden, bevor er sich mit etwas zu schmalzig geratenen Worten beim Initiator und Finanzier dieses Kirchenprojektes bedankte.
Nachdem auch der »wohledle« Stifter eine Rede gehalten hatte, die allerdings mehr ein Aufruf an die Bevölkerung von villa Ysinensi gewesen war, auch im tiefsten Winter auf die Gesundheit zu achten, damit »… nach altem Brauch und Herkommen …« im Frühjahr die Arbeit auf den Feldern und an den Webstühlen wieder aufgenommen werden konnte, trat abermals der Bischof vor, um etwas zu sagen:
»Unsere lieben Mitbrüder und -schwestern im Herrn! Trotz der winterlichen Beschwernisse sind Wir im Dezember, der im römischen Kalender der zehnte Monat des Mondkalenders gewesen ist, gerne hierher ins kalte Allgäu und zu euch nach villa Ysinensi gekommen, um eure neue Kirche mitsamt der dazugehörenden Glocke einzuweihen und …«
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Der liturgische Teil war bereits zuvor beendet und die Kirche den Heiligen Georg und Jakobus dem Älteren geweiht worden. Nach der bewegenden Rede des hochrangigen Kirchenmannes trauten sich jetzt die Menschen, ihren Glücksgefühlen freien Lauf zu lassen und sich beim Bischof und beim Grafen mit einem kräftigen Handgeklappere zu bedanken. In ihrer Begeisterung entwich dem einen oder anderen sogar ein lauter Pfiff, während anderen ein paar Tränen des Glücks herunterliefen.
Der Bischof ließ sie so lange gewähren, bis es ihm zu viel wurde und er wieder das Wort an sich zog: »Nun aber, meine lieben Gläubigen im Herrn, möchten Wir, Bischof Eberhard I. von Konstanz und von Gottes Gnaden, dem gottgefälligen Kirchenstifter für seine Großzügigkeit danken und ihm zum ewigen Zeichen unserer Verbundenheit etwas überreichen, das aus fernen Zeiten aus einem fernen Land den Weg nach Konstanz …« Er räusperte sich, bevor er weitersprach: »… und vermutlich nach vielen Irrwegen zu Uns gefunden hat! Tretet vor, edler Wolfrad Graf von Altshausen, und lasst Euch erklären, was Wir für Euch mitgebracht haben!«
Während der großgewachsene Mann mit dem gepflegten Vollbart aufstand und nach vorn ging, durchdrang ein solches Getuschel das Kircheninnere, dass es bis nach draußen zu hören war. Unser Grundherr ist eine imposante Erscheinung, dachte sich der eine oder andere. Insbesondere die schwere silberne Halskette mit dem mehr als handgroßen Familienwappen derer von Veringen vor seiner Brust ließ ihn genauso respekteinflößend aussehen wie das Schwert und der Dolch an seinem breiten Ledergürtel, die ihn ebenfalls als Adeligen auswiesen.
»Wohlan …«, begann der Bischof aufs Neue und hielt etwas in die Höhe, »weil Wir Uns viel mit den Gestirnen und dem Wechsel von dunkelster Nacht auf die heilbringende Helle des Tages befassen, können Wir Euch und allen anderen erklären, was es mit diesem Amulett auf sich hat!«
Als der Bischof das rote Samtkissen mit dem daraufliegenden mattbräunlichen Amulett noch höher hielt und den Gläubigen entgegenstreckte, ging erneut ein Raunen durch die Kirche, was den Laudator allerdings nicht irritierte. Unverdrossen, nunmehr mit einem beschwörend klingenden Tonfall in der Stimme, fuhr er fort: »Auf einer Seite dieses Amuletts befindet sich ein Quadrat, auf dem sich die Summe der Zahlen aller drei Zeilen, aller drei Spalten und auch der beiden Diagonalen gleicht! Stets ist sie fünfzehn.«
Kaum ausgesprochen, bekreuzigten sich die meisten der vor der Kirche ausharrenden Menschen. Denn mit dem, was sie soeben gehört hatten, konnten sie nicht nur nichts anfangen, es ängstigte sie sogar. Rechnen war den meisten von ihnen noch fremder als Lesen und Schreiben.
»Das ist Teufelswerk«, flüsterte einer seinem Nachbarn zu, während ein anderer zu der Feststellung gelangte, dass der Bau dieser Kirche vielleicht doch unter keinem guten Stern stehe.
»Beruhigt euch!«, fuhr der Bischof, der die aufkommende Unruhe außerhalb der Kirche bemerkt hatte, harsch dazwischen. Er wusste, dass lediglich der Graf, dessen Gemahlin und vielleicht ein paar andere hochrangige Gäste etwas von dem verstanden, was er soeben von sich gegeben hatte. Also versuchte er, die beiden Inhalte auf dem Amulett so einfach wie möglich zu erklären: »Es handelt sich nicht um Teufelswerk, sondern um Arithmetik, eine der sieben freien Künste! Die ›artes liberales‹ …« Als er merkte, dass er nun auch noch weltliches Latein zu sprechen begonnen hatte, anstatt die Sache vereinfacht zu haben, hüstelte er verlegen und wechselte zu einer anderen Erklärung über: »Keine Sorge: Die Fünfzehn ist lediglich eine ›Mondzahl‹, die den Tag der vollen Rundungen des Mondes benennt! Diese magische Zahl bekam ihre Bedeutung, weil es sich um eine dreifache Fünf handelt und die Fünf …«, während er fortfuhr, erhob der Bischof Zeigefinger und Stimme, »…. eine heilige Zahl ist, die Zahl der Ischtar und der Venus! Unabhängig dieses ›Magischen Quadrates‹ ergibt die Summe der ersten fünf Zahlen die Zahl Fünfzehn!
Als der Bischof merkte, dass er mit seinen Erklärungsversuchen immer noch auf allseitiges Unverständnis stieß, schlug er mit veränderter Stimmlage eine völlig andere Richtung ein: »Vom Leinengarn her kennt ihr doch die Maßeinheit ›Mandel‹, oder etwa nicht?«
Na also, endlich kann ich mich dem unbelesenen Volk gegenüber verständlich machen, dachte sich der hochrangige kirchliche Würdenträger, nachdem er ein allseitiges Kopfnicken hatte feststellen können. »Auch dabei spielt die Fünfzehn eine maßgebliche Rolle, denn fünfzehn Garben Getreide sind eine ›Mandel‹, … oder? Ihr verkauft sogar die Eier eurer Hühner zu jeweils fünfzehn Stück!« Er hob eine geöffnete Hand in die Höhe und sagte mit den dazugehörenden Fingerbewegungen in beschwörendem Ton: »Drei Hand voll sind eine ›Mandel‹!« Sogar der Rosenkranz umfasst in drei Fünfergruppen fünfzehn Geheimnisse!« Das hatten nun auch die am einfachsten gestrickten unter diesen Menschen verstanden. Endlich hatte er sie bei sich und deswegen auch ihr Interesse geweckt! Also konnte er fortfahren, ohne auf weiteres Unverständnis zu stoßen: »Wie ihr alle wisst, unterscheiden wir den freudenreichen, den glorreichen und den schmerzhaften Rosenkranz! Im ›freudenreichen‹ werden die wichtigsten Stationen im Leben Mariens vergegenwärtigt, im ›schmerzhaften‹ wird die Passion Christi angerufen und im ›glorreichen‹ stellen wir die österlichen Geheimnisse in die Mitte! … Die fünfzehn Geheimnisse des Rosenkranzes machen uns darauf aufmerksam. Und nun kommen Wir auf das zurück, was Wir zuvor schon angesprochen hatten – dass die Zahlensymbolik der Ischtar und der Venus auf die Marienverehrung übertragen wurden! Ihr braucht also weder Furcht vor der Fünfzehn, noch vor diesem Amulett zu haben! Es sei denn …«