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Ohne den Satz beendet zu haben, bekreuzigte sich der Bischof, was ihm die Kirchenbesucher nachmachten, ohne zu wissen, weshalb sie dies taten.
»Sein Wort in Gottes Ohr«, flüsterte die nachdenklich gewordene Gräfin ihrem Banknachbarn Hezelo von Entringen zu, einem Mitglied der Reichenauer Vogtfamilie.
Während der Bischof das Bildnis und die Symbole auf der anderen Seite des Amuletts zu deuten versuchte, dies aber mangels Wissen um die wahren Hintergründe dieses grausigen Motivs nur leidlich hinbekam, wurde es im ohnehin schon stillen Gotteshaus noch stiller. Selbst die Gebildeten unter ihnen wussten mit dem, was ihnen der Bischof mit gestenreich unterstrichenen Worten zu sagen versuchte, nicht umzugehen. Die abschließende Warnung des Bischofs verstanden aber alle: »Deswegen wagt es ja nicht, ins Innere des Menschen einzudringen und ihm die Seele zu nehmen!«
*
Nachdem der Graf das eigenartige Geschenk des Bischofs angenommen und sich dafür bedankt hatte, war von ihm die Zeremonie in der Kirche für beendet erklärt worden und alle Gäste schritten zum vorbereiteten Festmahl auf den großen Platz unterhalb des Kirchenhügels.
In der Wahrnehmung der einfachen Bevölkerung war es ein unbeschreiblich grandioses Fest, bei dem zu mitternächtlicher Stunde auch noch eines dieser seltenen Feuerspiele gezündet werden sollte – trotz des Winters ein gefährliches Unterfangen. Die Menschen fürchteten außer bösen Geistern und den winterlichen Dämonen, die Nachts aus den Wäldern kamen, um ihre Kinder zu entführen oder ihr Vieh zu stehlen, nichts so wie eine Feuersbrunst. Wegen der vielen Feuerkörbe, die der Graf aufgrund der Kälte um den überdachten Festplatz herum und sogar unter der Zeltplane hatte aufstellen lassen, war die Gefahr eines Brandes groß, sodass der Mair ein paar Männern aufgetragen hatte, die wärmespendenden Feuerkörbe nicht aus den Augen zu lassen. Auch den vom Grafen eingesetzten Feuerknechten, die für den Holznachschub verantwortlich waren, redete er ins Gewissen. Um sicherzugehen, dass nichts passieren konnte, ließ er abwechselnd vier männliche Dorfbewohner um das Festgelände herum Posten beziehen. »Achtet dabei auch darauf, dass sich keiner unserer Gäste an unserem Eigentum vergreift! Seid in jeder Hinsicht wachsam, hört ihr?«, hatte er die Männer beschworen, bevor er sich wieder zur gut gelaunten Gesellschaft gesellte.
Unter den fröhlichen Klängen von Fidel, Scheitholt und Trommel wurde gezecht, geprasst und gelacht, wie es in dieser harten Zeit nur äußerst selten und in villa Ysinensi noch nie der Fall gewesen war. Während die Musikanten fröhlich aufspielten und die Frauen sich über jeden einzelnen Tanz freuten, schlichen sich nach und nach einige der Männer heimlich davon, um etwas davon zu holen, was sie sich mehr als hart verdient und mühsam beiseitegelegt hatten. Aber so mancher kehrte enttäuscht an seinen Tisch zurück, um sich volllaufen zu lassen. Denn das Geld, das er in seiner Behausung aus dem Versteck geholt hatte, war zu wenig gewesen, um sich zumindest über das Viertel einer Stunde hinweg mit einer der drallen Gunstgewerblerinnen vergnügen zu können.
So wie dies von niemandem bemerkt wurde, fiel im Verlauf der bier- und weinseligen Nacht auch niemandem auf, dass sich mitten unter ihnen ein Fremder so ungeniert bewegte, als wenn er dazugehören würde. Wenn sich der eine oder andere auch über dessen Kapuzengewandung wunderte – die anders aussah als die der Mönche – und über das eigenartige Schwert an seinem Gürtel staunte, dachte sich niemand ernsthaft etwas dabei. Und den Mann anzusprechen, traute sich sowieso niemand, weil ihn allein schon die Tatsache, dass er eine Waffe tragen durfte, als einen Mann von hoher Herkunft auswies – egal woher er gekommen sein mochte. Außerdem waren sich die Wenigsten von ihnen vor diesem Fest persönlich begegnet, also konnte auch kaum jemand beurteilen, wer dazu gehörte und wer nicht. Lediglich die in blutroter Farbe auf den weißen Umhang gestickte Zahl Eins, die von einem ebenfalls roten Quadrat umrandet war, gab Anlass zu tuschelnden Spekulationen verschiedenster Art.
Irgendwann entfalteten die aufpeitschende Kraft der Musik und insbesondere der Alkohol ihre volle Wirkung. Nicht nur die meisten Dorfbewohner waren stark angetrunken, auch dem Bischof und dem Grafen fiel das Sprechen zunehmend schwerer. Bevor er ganz betrunken zu werden drohte, winkte der Herr über villa Ysinensi den neu bestallten Mair zu sich. »In deiner Eigenschaft als erster Mann deines Dorfes vertraue ich dir dieses wertlose Amulett an. Nimm es an dich!«, tuschelte er ihm zu.
»Was … was soll ich damit?«, wunderte sich Gerold Eberz, der bisher noch mit keiner vergleichbaren Aufgabe betraut worden war.
Der Graf winkte ihn jetzt so nahe zu sich, dass der Mair den Alkohol aus dessen Mund riechen konnte. »Dieses Amulett besteht aus minderwertigem Metall und ist für mich nicht von Bedeutung«, flüsterte ihm der Graf vertrauensvoll zu und ergänzte, dass es immerhin ein Geschenk des Bischofs von Konstanz sei und er es deswegen nicht verlieren dürfe. »Gib es mir morgen früh wieder zurück, wenn sich die Geister des Weins verzogen haben! Und jetzt verschwinde!«
Dass das Gespräch von dem Fremden beobachtet worden war, hatten die beiden Männer nicht bemerkt. Dennoch erschien es dem Ortsvorsteher zu viel Verantwortung zu sein, die ihm der Graf aufgebürdet hatte. Als er die Gelegenheit nutzte, um sich die Vorderseite des Amuletts zu betrachten, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er suchte den Pfarrer, um das gute Teil, und somit auch die Zuständigkeit, an ihn weitergeben zu können. Aber er fand ihn einfach nicht.
Durch das Hin und Her des Mairs verlor ihn der Unbekannte kurzzeitig aus den Augen.
»Verdammt; wo hat sich unser Pfaffe nur verkrochen?«, fragte sich Gerold Eberz selbst, während er zur Kirche schlurfte, um dort nachzusehen. Und tatsächlich; der Priester hatte wohl so viel getrunken, dass er auf einer der Kirchenbänke seinen Rausch ausschlafen musste. Weil es keinen Zweck hatte, ihn zu wecken, steckte ihm der Ortsvorsteher kurzerhand das Amulett in eine seiner Jackentaschen. »Ich hole es mir morgen früh wieder!«, sagte er mehr zu sich selbst als zum laut schnarchenden Pfarrer, der vermutlich selig davon träumte, wie er seinen ersten eigenen Gottesdienst in der neuen Kirche gestalten konnte.
Zufrieden mit sich und seinem Gedanken, das Amulett aus genau demselben Grund weitergegeben und somit geschützt zu haben wie der Graf, ging der Mair zielstrebig zum Festplatz zurück, um sich noch ein Bier zu gönnen oder auch zwei.
Am nächsten Morgen fand man Gerold Eberz mit durchgeschnittener Kehle und einer Eins in die Stirn geritzt kopfüber an einem Baum hängen.
»Wo ist mein Amulett?«, interessierte den Grafen offensichtlich mehr als der unnatürliche Tod seines Mairs.
*
Anstatt mit Freuden an all das zurückzudenken, was sie gemeinsam geschafft hatten, und sich der gelungenen Feierlichkeiten zu erinnern, befand sich die Bevölkerung von villa Ysinensi noch Wochen später in einer lähmenden Starre. Weil niemand etwas vom wahren Mörder ahnen konnte, verdächtigten sich die Männer so lange gegenseitig des Mordes an ihrem Standesgenossen, bis einer auf den Gedanken gekommen war, dass es der Fremde gewesen sein musste, auf dessen Kutte die gleiche Eins zu sehen gewesen war, wie sie der Mörder in die Stirn des bedauernswerten Mordopfers eingeritzt hatte. Der Grund für die Unruhe im Dorf lag aber auch darin, dass der Graf – allerdings erst, nachdem die Konstanzer Delegation abgereist war – alle Behausungen nach dem Amulett hatte durchsuchen lassen, das fortan mit dem Mord in Verbindung gebracht wurde. Bei der Leibesdurchsuchung war dann einer seiner Wachsoldaten fündig geworden. Der Pfarrer hatte zu diesem Zeitpunkt derart mit seinen Kopfschmerzen zu tun gehabt, dass er nicht darauf gekommen war, die Taschen seiner Jacke selbst abzutasten, bevor dies einer der Soldaten des Grafen tun würde. Somit hatte er immer noch nicht bemerkt, dass er das Amulett bei sich trug.
Seit dem Tod des Dorfvorstehers war in villa Ysinensi nichts mehr wie es gewesen war. Dennoch musste das Leben weitergehen. Dass Gerolds Witwe mit einer aus ihrer Sicht großzügigen Entschädigung für den Tod ihres Gatten bedacht worden war, rechnete sie dem Grafen hoch an, obwohl das Geld ihren Mann nicht zurückbringen würde. Ihr Sohn Michael schwor aus diesem Anlass heraus dem Grafen ewige Treue.
*
Aus der ehedem offenen Siedlung war zwar ein mit einem Zaun umfriedetes Dorf mit eigener Kirche entwachsen, weswegen die Bewohner stolz in eine bessere Zukunft gehen konnten. Die Gedanken aber an das »tragische« Amulett, das ausgerechnet hier in villa Ysinensi ein Opfer gefordert hatte, ließ sie nicht mehr los und würde sie wohl auch noch über Generationen hinweg begleiten. Denn dass es nur das tödliche Zahlenwerk und der bekrönte Leichnam auf dem Amulett gewesen sein konnten, weswegen man den Ortsführer ermordet hatte, war für alle eine klare Sache.
»Das nächste Mal gibt es sicher zwei Tote!«, mutmaßte Michael Eberz seiner Mutter gegenüber, als sie eines Abends zur letzten Mahlzeit des Tages zusammensaßen und die Mutter gerade das Tischgebet gesprochen hatte.
»Versündige dich nicht!«, schimpfte die Mutter und bekreuzigte sich.
»Wie meinst du das?«, mochte hingegen Hulda, eine der Schwestern des neuen Familienoberhauptes wissen.
»Na ja«, antwortete ihr ältester Bruder. »Drei, vier, fünf … fünfzehn!«
»Ich habe dir gerade gesagt, dass du dich nicht versündigen sollst!«, schrie ihn die Mutter an und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, bevor sie erneut das Kreuz schlug und aufstand, um vor dem kleinen Hausaltar für das Seelenheil ihres Sohnes und für die anderen Familienmitglieder zu beten.
Trauer in der Burg derer von Veringen
Altshausen – Anno Domini 1065
Die magische Zahl II
Kapitel 3
Das Amulett war im Besitz des Grafen Wolfrad von Altshausen verblieben. Bis zum unseligen Jahr 1065 war es zu einigen familiären Problemen und äußerst merkwürdigen Unglücken gekommen, die im überraschenden Tod des bis dahin vermeintlich kerngesunden Grafen gegipfelt hatten. Zuvor hatte es aber auch noch andere unerklärliche Geschehnisse gegeben. So war bis zum Tod des Grafen gleich mehrmals in der Burg Altshausen eingebrochen und alles durchwühlt worden. Dabei hatte ein Leibdiener des Grafen den Tod gefunden. Weil man ihn mit durchgeschnittener Kehle im Schlafzimmer seines Herrn aufgefunden hatte, waren alle davon ausgegangen, dass er den Grafen hatte schützen wollen und sich todesmutig vor den Einbrecher gestellt hatte.
Bei seinen Einbrüchen war der Täter raffiniert vorgegangen und hatte immer dann zugeschlagen, wenn der nunmehr allein lebende Graf verreist war. Dies hatte vermuten lassen, dass der Einbrecher Kenntnis über die Reisepläne des Adeligen gehabt hatte. Es musste im engsten Umfeld des Grafen einen Verräter geben oder der Einbrecher war einige Zeit am Hof gewesen und hatte das Verhalten des Hausherrn studiert.
Aber auch dies war lediglich reine Spekulation gewesen. Sicher war nur, dass irgendjemand irgendetwas gesucht … und augenscheinlich nicht gefunden hatte. Denn bei sorgfältiger Überprüfung nach jedem Einbruch war stets festgestellt worden, dass rein gar nichts gefehlt hatte; weder das Tafelsilber noch der Schmuck der bereits vor dreizehn Jahren verstorbenen Gräfin, geschweige denn wertvolles Interieur, Kunstwerke oder sonst etwas. Und um die schwere Geldschatulle des Grafen wegzuschleppen, hätte es mehrerer Männer bedurft. Außerdem war diese so gut versteckt, dass sie von niemandem hatte gefunden werden können.
Was also in Herrgotts Namen war für den Einbrecher so wichtig gewesen, dass er einen wehrlosen alten Diener umgebracht und immer wieder das Risiko auf sich genommen hatte, auf frischer Tat ertappt zu werden? Was dies für ihn bedeutet hätte, wäre allen Untertanen des Grafen klar gewesen. Deswegen lag die Vermutung fern, dass es einer der ihren gewesen war. Umso mehr hatte den Burgherrn interessiert, wer die unheimliche Gestalt war, die offensichtlich keinen Respekt vor den hiesigen Gesetzen hatte. Aus diesem Grund, und um den Tod seines Leibdieners zu sühnen, hatte er alles in Bewegung gesetzt, um den Einbrecher auf frischer Tat zu erwischen. Aber trotz der Verdoppelung seiner Wachen und etlicher anderer Vorsichtsmaßnahmen war ihm dies bis zu seinem eigenen Tod nicht gelungen.
*
Wegen dieser Vorfälle war die Familie des toten Grafen Wolfrad lange Zeit vor einem Rätsel gestanden. Aber Manegold I., das neue Familienoberhaupt derer von Altshausen, hatte andere Sorgen gehabt; die Beerdigung seines verstorbenen Bruders hatte ebenso vorbereitet werden müssen wie die Neuregelungen der Grafschaft Altshausen-Veringen und der Herrschaft Trauchburg. Bevor Manegold das Erbe seines Bruders ordentlich hatte übernehmen können, hatte Wolfrad sieben Tage lang aufgebahrt werden müssen, was in der Kälte des Winters problemlos ohne allzu große Geruchsentfaltung machbar gewesen war. Während dieser Zeit hatten diejenigen, die ihm am offenen Sarg die letzte Ehre erwiesen hatten, die Gelegenheit gehabt, Einwände gegen die von Wolfrad gewünschte Erbfolge vorzubringen – immerhin war der Erbe kein leiblicher Sohn des Grafen, sondern nur dessen leiblicher Bruder. Da konnten Begehrlichkeiten von Seiten anderer Familienmitglieder aufkommen.
Obwohl solch familiäre Dinge bisher immer friedlich hatten geklärt werden können, war Vorsicht geboten. In der Burg Altshausen war das »Vetorecht« am offenen Sarg eines verstorbenen Herrschers von jeher eine ebenso genau reglementierte Tradition gewesen wie die Art und Weise der Aufbahrung. Zu dieser hatte schon immer gehört, dass der Verstorbene die schwergliedrige Kette mit dem kunstvoll emaillierten Familienwappen um den Hals trug, die er zu Lebzeiten nur bei besonders wichtigen und großen Anlässen präsentiert hatte. Dem verstorbenen Regenten diese Kette umzulegen, war eine der vornehmlichen Aufgaben des designierten Nachfolgers gewesen, ebenso sie ihm kurz vor der Einsargung wieder abzunehmen, um sie für kommende Generationen verwahren und zu gegebener Zeit an sie weitergeben zu können.
»Ach, Bruder!«, hatte Manegold trotz der Freude über das auf ihn zukommende Erbe geseufzt, als er seinem Vorgänger in Amt und Würde die Wappenkette umgelegt hatte. Zuvor hatte er seinem Bruder das Amulett abnehmen müssen, das ihm anlässlich der Kirchenweihe in villa Ysinensi vom Konstanzer Bischof überreicht worden war.
Manegold erinnerte sich noch daran, dass Wolfrad dieses Amulett so lange als wertlos eingestuft hatte, bis ihm sein in Arithmetik und Astronomie erfahrener Sohn Hermann die geheimnisvolle Welt der Zahlen erschlossen hatte, die auf dem Revers des Amuletts zu sehen waren. Und nicht nur das; der kluge und belesene Reichenauer Benediktinermönch hatte auch die Symbolik auf dem Avers des Amuletts zu deuten gewusst. »Laut den Abbildungen und Aufzeichnungen eines alten Buches aus einem fernen Land namens China könnte es sich bei der Darstellung der Leiche in der Mitte des Amuletts um einen verstorbenen ›Huang‹, eine Art ›erhabenen Gottkönig‹ handeln!«, hatte er gesagt und dazu ergänzt, dass die zu beiden Seiten des Toten abgebildeten menschlichen Innereien darauf hindeuten könnten, dass man dem König die lebenswichtigen Organe entnommen hatte, um ihn für die Unendlichkeit einbalsamieren zu können. Nachdem er dies gesagt hatte, waren Manegold und die anderen Zuhörer derart entsetzt gewesen, dass sie allesamt das Kreuz geschlagen hatten und ihm nicht mehr hatten zuhören wollen. Aber Hermann war stur geblieben und hatte das Auditorium, das um ihn herum versammelt gewesen war, weiter aufgeklärt: »In China wurden schon vor dreitausend Jahren Leichenöffnungen vorgenommen, einerseits zum Zwecke der Wissenschaft. Andererseits …«, bevor er weitergesprochen hatte, war von ihm das Amulett so hochgehalten worden, dass es alle hatten sehen können, »… ist dies auch geschehen, um die Erinnerung an bedeutende Menschen für Jahrhunderte oder sogar über Tausende von Jahren hinweg aufrechtzuerhalten. Dabei spielte die Religion schon immer eine wichtige Rolle. Die Abbildungen auf beiden Seiten dieses Amuletts sollen den Betrachtern wohl sagen, dass sie sich ebenfalls der Verbreitung wissenschaftlichen Gedankengutes und dessen Umsetzung zuwenden sollen«
Als wenn es nicht schon still genug im Wappensaal des Altshausener Schlosses gewesen wäre, warnte Hermann seine Zuhörerschaft davor, die Kraft des Amuletts zu unterschätzen. »… denn dort, wo dieses ›Magische Amulett‹ ist, lauert der Tod! Es wird wohl das Beste sein, wenn niemand weiß, wo es sich befindet! Es aber leichtsinnig irgendwo zu vergraben oder auf eine andere Art loszuwerden, würde noch mehr Unheil über den Besitzer und seine Familie bringen!« Er räusperte sich und beendete seinen kurzen Vortrag mit den Worten: »Es ist wie ein böser Fluch!«
Von da an hatten Hermanns Zuhörer gewusst, dass sie ihre Familien auch über die kommenden Generationen hinweg vor diesem Amulett warnen mussten. Wolfrad selbst hatte es bis zu seinem Tod Tag und Nacht an einem Lederriemen um seinen Hals getragen. »Damit es nicht in falsche Hände gerät und somit kein Unheil mehr angerichtet werden kann!«, hatte er in Erinnerung an die grausamen Morde am Ortsvorsteher von villa Ysinensi und an seinem Leibdiener gesagt, bevor er mit einem gequälten Lächeln ergänzt hatte, dass derjenige, der ihm das Amulett abnehmen wolle, ihn umbringen müsse.
Auf Nachfrage hatte Hermann seiner Familie auch die Mythologie und die Symbolik der Zahlen Eins bis Neun, die innerhalb des »Magischen Quadrates« auf der Rückseite zu sehen waren, genau erklären wollen, war aber im Trubel dieser familiären Zusammenkunft nicht damit fertig geworden. So hatte er es zunächst bei der Eins belassen müssen: »Genau so, wie es nicht möglich ist, halbtot zu sein, kann die Zahl Eins nicht geteilt werden. Aber von ihr nimmt jede weitere Zahl ihren Ausgang …«, war alles, an was sich Manegold angesichts seines toten Bruders und dessen ebenfalls toten Leibdieners hatte erinnern können. Was für eine Bedeutung mag dann die Zahl Zwei haben?, hatte er sinniert, während er dem Bruder sanft den Kopf angehoben hatte, um ihm das Amulett abzunehmen und ihm stattdessen das Familienwappen umzulegen.
Schon wenige Tage später sollte er eine zwar nicht ganz zufriedenstellende, aber doch eine Antwort auf seine Frage erhalten. Denn mit Arnulf war ein Neffe nach Altshausen gekommen, der nicht nur Abschied von seinem Oheim nehmen wollte, sondern sich beruflich voll und ganz der Arithmetik verschrieben hatte. Manegold lud Arnulf auf ein persönliches Gespräch zu sich.
»Zwei Dinge – das Gute und das Böse – sind keine gegensätzlichen Pole! Und die Welt ist eine zerrissene Welt! Da wird etwas getrennt, was eigentlich zusammengehört!«, hatte Arnulf ihm gleich zu Beginn dieses Gespräches erklärt.
Das geht ja gut los, dachte sich Manegold. Zum Zeichen dafür, dass er nichts verstanden hatte, zuckte er mit den Schultern und zog die Augenbrauen hoch, während er gleichzeitig die Mundwinkel nach unten schob.
Dann begann sein hochgebildeter Neffe zu dozieren: »Das Bewusste und das Unbewusste, das Harte und das Weiche, das Gerade und das Ungerade, das Offene und das Verborgene, das Hintere und das Vordere, das Oben und das Unten, Licht und Schatten, sowie der rhythmische Wechsel von Tag und Nacht, der mit Helligkeit und Dunkelheit einhergeht, sind Gegensätze, die zwar eine Spannung erzeugen, aber dennoch aufeinander bezogen sind! Das eine kann nicht ohne das andere!«
Bevor der aufmerksame Manegold eine Frage stellen konnte, fuhr Arnulf fort: »Wenn die Zwei aber zu einem Widerspruch führt, dann stehen die soeben genannten Beispiele wie zwei streitbare und unversöhnliche Kontrahenten zueinander! Gerade das Gute und das Böse sind keine Gegensätze, die sich gegenseitig bedingen!«
»Nein?«, kam es versehentlich aus dem Mund des staunenden Zuhörers.
»Nein!«, bestätigte Arnulf, bevor er fortfuhr: »Sie stellen sich sogar gegenseitig infrage: Das Gute ist doch das, was sein soll, oder?«
Weil er auch dies verstanden hatte, nickte Manegold.
»Und das Böse ist das, was nicht sein darf, … aber allgegenwärtig ist!«
Arnulf hatte zwar gemerkt, dass ihm ein gleichsam fassungsloser wie ratloser Mann gegenübersaß. Trotzdem beendete er seine Ausführungen, obwohl es zur Bedeutung der Zahl Zwei noch viel zu sagen gäbe. Denn er hatte sich gut gemerkt, was er während seines Studiums über die Mythologie und die Symbolik der Zahlenfolgen gelernt hatte. »Langer Rede kurzer Sinn!«, sagte er und kam zum Schluss: »Die Zwei ist Zweifel, Zwist, Zwietracht, Zwiespalt; sie ist eine Zwillingsfrucht am Zweig eines Baumes, gleichsam süß und bitter!« Er schaute seinem Oheim warnend in die Augen, dann sagte er abschließend: »Die Zwei bleibt nie allein!«
»Das … das heißt, mein Bruder und dessen Leibdiener sind nicht die letzten …«
Noch bevor Manegold das Unfassbare ausgesprochen hatte, nickte Arnulf und spreizte den Daumen, den Zeige- und den Mittelfinger seiner rechten Hand, die er seinem Onkel warnend entgegenstreckte.
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Nachdem Gott den Grafen Wolfrad von Altshausen, den gottesfürchtigen Kirchenstifter, in den Himmel abberufen hatte, war laut Erbrecht die um Veringen erweiterte Grafschaft Altshausen mitsamt den Herrschaften Trauchburg und Ysinensi auf seinen Bruder Manegold und seine verwitwete Schwester Irmengard übergegangen. Manegold I. war nun der uneingeschränkte Herr des traditionsreichen Hauses Altshausen, das sich um einiges erweitert hatte.
Dem umsichtigen Grafen gelang es mit dem nötigen Weitblick, das Erbe seines Bruders Wolfrad so erfolgreich fortzusetzen, dass sich sein Herrschaftsgebiet in jeder Hinsicht prächtig entwickelte.
Klosterstiftung bringt Unheil, Dorfentwicklung Fortschritt
Altshausen und Ysinensi – Anno Domini 1090, 1096, 1100 und 1104
Die magische Zahl III
Kapitel 4
Aus Dankbarkeit für seine glückliche Hand und auf Wunsch des längst verstorbenen Benediktinermönchs Hermannus Contractus mochte Manegold zusammen mit seiner Gemahlin Liutphild und mit seiner Schwester Irmengard mit gleich frommem Eifer und mit gleicher Liebe das von Wolfrad begonnene Werk zur Lobpreisung Gottes weiterführen. So sollte Wolfrads Kirchenstiftung in villa Ysinensi durch eine weitere Stiftung und den Bau eines Klosters gekrönt werden. Dazu brauchte es Platz und Geld. Um dies zu bekommen, ließ Graf Manegold seine Schwester und seine beiden Söhne Walther und Wolfrad zu sich kommen. Dazu geladen hatte er den neuen Pfarrer von Altshausen und den Abt des Klosters Hirsau.
*
Wie schon Wolfrads Gemahlin Hiltrud in früheren Zeiten hatte auch Gräfin Liutphild auffahren lassen, was Küche und Keller hergegeben hatten. Im Unterschied zu damals saß allerdings nicht nur der amtierende Altshausener Pfarrer, sondern auch noch ein Abgesandter des Klosters Hirsau aus dem Nordschwarzwald am üppig gedeckten Tisch.
»Ich bitte unseren ehrwürdigen Abt Wilhelm zu entschuldigen und mit meiner Wenigkeit Vorlieb zu nehmen. Aber wegen des großen Zulaufes in unserem Kloster plant er eine Erweiterung von St. Aurelius und ist deswegen unabkömmlich!«, entschuldigte sich der Stellvertreter des Hirsauer Abtes bereits zum zweiten Mal, während er auf die Köstlichkeiten schielte, die auf Veranlassung der Gräfin immer noch aufgetragen wurden.
Das freundliche »Greift bitte zu!« hätte sich der Graf sparen können. Denn so schnell hatten die Bediensteten gar nicht schauen können, wie sich der Hirsauer Mönch die Backen gefüllt hatte.
Als der Pfarrer dies sah, lächelte er verständnisvoll. Dann griff auch er ungeniert zu.
Über dieses unmanierliche Verhalten entsetzt, schauten sich die gräflichen Familienmitglieder an. Um die beiden Kleriker aber nicht zu brüskieren, streckte der Hausherr sein Glas dem Mundschenk entgegen, um es füllen zu lassen. Dann bedeutete er seinen beiden Söhnen, seiner Schwester und seiner Gemahlin, es ihm gleichzutun. Als alle ihre Trinkgefäße gefüllt hatten, stand der Hausherr auf und hielt sein Glas zuerst dem Prior, dann dem Pfarrer und zuletzt seiner Familie entgegen. »Auf gutes Gelingen!«
Das Repetieren seiner Worte durch die anderen ging in den vollen Mündern der beiden Männer Gottes unter. Das wird ja was werden, dachte sich der Graf im Hinblick auf das kommende Gespräch, das wegen der Völlerei seiner Gäste wohl noch eine ganze Weile würde warten müssen. Und genau so war es auch; die beiden Kleriker stopften sich eine geschlagene Stunde lang voll, während derer lediglich Höflichkeiten und ein paar Unwichtigkeiten ausgetauscht werden konnten. Dabei schmatzten sie ungeniert. Etliche Rülpser und Leibeswinde später konnte das Geschirr abgeräumt werden. Die auf dem ganzen Tisch herumliegenden Knöchelchen der in Salzlake gepökelten Schweinefüßchen und der gebratenen, mit Honig überstrichenen Hühnchen nahm eine Dienstmagd mitsamt der total versauten Tischdecke mit.