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Als die fünf Männer dann auch noch einen Branntwein vom Bodensee vor sich stehen hatten, konnte Graf Manegold das Wort ergreifen und endlich ernsthaft zum Thema kommen. Also begann er: »Um ein Kloster errichten zu können, bedarf es eines ansehnlichen Grunds und Bodens, den Wir mit Zustimmung Unserer holden Gemahlin Liutphild, Unserer gemeinsamen Söhne Walther und Wolfrad, aber auch mit Einwilligung Unserer hochverehrten Schwester Irmengard und deren Sohn Manegold stiften werden!« Das Gespräch solchermaßen eröffnet schaute er ins Rund, um sich durch das gönnerhafte Kopfnicken seiner Familie das bestätigen zu lassen, was sie bereits hinreichend besprochen hatten. Er fuhr fort: »Mit weiteren, teils beweglichen, teils unbeweglichen Gütern in Form von zwölf der vierundzwanzig bereits bestehenden Höfe nebst anderen Grundstücken, Äckern, Wiesen, Weideplätzen, Waldungen, Wasserstellen, Mühlen und anderen Besitzungen werden Wir den Grundstein für den Bau eines Klosters in Ysinensi legen. Um diesen Kraftakt bewältigen zu können, werden Wir das aufblühende Dorf im Süden Unseres Herrschaftsgebietes in den Mittelpunkt Unseres Tuns rücken müssen! Dazu sind Wir mit der ganzen Macht Unseres Verstandes und Unseres Herzens entschlossen!«
»Hoffentlich auch mit der ganzen Kraft seiner Geldschatulle«, flüsterte der Altshausener Pfarrer dem klösterlichen Abgesandten in einem unbeobachteten Augenblick zu, bekam aber anstatt des erhofft zustimmenden Lächelns nur einen strafenden Blick zurück.
Nachdem der Graf seine weiteren Vorstellungen mitsamt einem Lageplan auf den Tisch gelegt hatte und sich auch seine Familie hinreichend zu Wort gekommen war, übermittelte der Prior die Vorschläge seines Abtes. Dabei war rasch offenkundig geworden, dass Abt Wilhelm auf die Empfehlungen seines Vertrauten Hugo von Cluny gehört und dessen strenge Lebensweise für das Kloster Hirsau übernommen hatte.
»Wenn es in Eurem Sinne ist, dass insbesondere der Tagesablauf, die Liturgie und die Organisation der klösterlichen Gemeinschaft auch in Ysinensi ganz besonders streng geregelt sind, entsendet unser geliebter Abt Wilhelm gerne so viele Mönche, wie benötigt werden, um ein geordnetes Klosterleben zum Wohlgefallen Gottes zu gewährleisten!«
Stundenlang hatten sie sich über viele Details des geplanten Klosterbaus und der späteren Klostergründung unterhalten. Dabei waren sie in medias res gegangen und hatten – sozusagen zur geistigen Erbauung – das »Blut Gottes« getrunken, wie der Prior den köstlichen und von ihm geweihten Wein aus der Mersburger Gegend bezeichnete. Im Verlauf des Gesprächs hatten sie auch allerlei Neuigkeiten ausgetauscht und waren von einem Thema ins andere gerutscht. So waren sie zu vorgerückter Stunde auch noch auf das »Magische Amulett« zu sprechen gekommen, von dem der derzeitige Besitzer berichtete, dass es bereits drei Menschenleben gekostet hatte. »Aber was soll ich tun?«, klagte der Graf. Ohne eine Antwort abzuwarten, die sowieso nicht gekommen wäre, beruhigte er sich selbst, indem er sagte, dass ihm wohl nichts anderes übrig bleiben würde, als es zu behalten und vor fremden Augen zu schützen.
»Ich weiß nicht, ob dies ein guter Gedanke ist«, warf der Prior ein.
»Wie meint Ihr das?«, mochte der Graf sofort wissen.
Der Stellvertreter des Hirsauer Abtes hielt dem Mundschenk sein Glas entgegen. Gleichzeitig umklammerte er mit der anderen Hand das vor seiner Brust hängende Pektorale – gerade so, als wenn er sich damit vor etwas schützen wolle.
»Was ist jetzt?«, drängte der unruhig gewordene Graf.
Der Prior beugte sich seinem Gastgeber verschwörerisch entgegen und flüsterte so leise, dass es die anderen nicht mitbekommen konnten: »Man hört ja so einiges …«
»Nun lasst Euch nicht alles aus der Nase ziehen!«, grummelte der Graf, während er den Mundschenk zu sich beorderte und auf das immer noch leere Glas des Priors zeigte.
Der Hirsauer rückte noch näher an den Grafen heran, bevor er ihm zuflüsterte, über mehrere Ecken gehört zu haben, dass es wohl einen Geheimbund geben müsse, der vor vielen Jahren im Konstanzer Münster gegründet worden sei.
»Was ist mit diesem geheimnisvollen Bund? Und was hat er mit dem Amulett zu tun?«
»Also gut!«, besänftige der Prior die Neugier seines adeligen Gastgebers. »Ich weiß nur so viel, dass sich diese Geheimbündler den Ziffern auf einem Amulett verschrieben haben, das über die Jahrhunderte hinweg immer wieder verloren geht, weswegen …«
»… sie es auch immer wieder suchen und dabei über Leichen gehen, um es zurückzubekommen?«, ergänzte der Graf mit fragendem Blick.
Kaum hatte er dies ausgesprochen, bekreuzigten sich die beiden Kleriker. Weil dem Besitzer des Amuletts das bestätigt worden war, was er schon länger geahnt hatte, wurde ihm schlagartig klar, dass er sich in Lebensgefahr befand, solange das vermaledeite Amulett in seinem Besitz war.
»Dennoch dürft Ihr es nicht weitergeben!«, warnte der Prior, der bemerkt hatte, was in seinem Gastgeber vorging.
Während der Benediktiner dem Grafen in ausladenden Worten alles berichtete, was Kleriker von Konstanz bis nach St. Gallen und zum Schwarzwald unter vorgehaltener Hand über einen grausamen »mehrere Hundert« Mitglieder umfassenden Geheimbund zu wissen glaubten, wurde Manegold immer schweigsamer. Wenn er auch wegen der in ihm hochgestiegenen Panik nichts mehr hören mochte, erklärte ihm der Prior unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass es sich um sogenannte Assassinen handeln solle, eine Meuchelmördersekte aus einem fernen Land namens Syren »… oder so ähnlich!«
Obwohl der schon längst mehr als gut angetrunkene Mönch selbst nicht mehr merkte, was er dem Grafen für einen Mist erzählte, war es ihm gelungen, eine solche Angst in dem Adeligen zu schüren, dass Manegold nur noch kleinlaut über die Lippen kam, dass es »beim nächsten Mal« drei sein würden. »… damit meine ich drei Tote!«
Dies nahm der blitzgescheite und belesene Prior zum Anlass, um dem Grafen etwas darüber zu erzählen: »Tres est numerus perfectus!«, begann er in bestem Latein und meinte damit, dass die Zahl Drei auf Vollkommenheit hinwies. »Denn erst was sich in der Trias fassen lässt, kann getrost in sich ruhen und ist ein abgeschlossenes Ganzes – genau wie unsere göttliche Dreifaltigkeit!« Kaum hatte er dies gesagt und einen weiteren Schluck genommen, fielen ihm die Augen zu.
Zum Zeichen dafür, dass die anderen ihn gewähren lassen und um Gottes willen ja nicht seinen himmlischen Schlaf stören sollten, legte der Graf einen Zeigefinger auf seine Lippen. Zu seiner Erleichterung schlief der Prior tatsächlich noch am Tisch ein. Um nichts mehr über das Amulett und den mutmaßlich damit verbundenen Geheimbund hören zu müssen, bedeutete der Graf den anderen mit einer weiteren Geste, sich leise zu erheben und den Speisesaal zu verlassen. In dieser Nacht würde er selbst wohl keinen Schlaf finden, zu sehr würde ihm die Zahl Drei im Kopf herumschwirren.
*
Die Zeit verging wie im Flug. Bei der Planung zum Bau des Klosters in Ysinensi lief ebenso alles gut wie bei den anderen Vorbereitungen. Deswegen war Manegold I. Graf von Altshausen-Veringen zu beschäftigt, um ständig an das Amulett denken zu können. Nach wie vor trug er es tagtäglich so unter dem Hemd um seinen Hals, dass niemand es sah. Dennoch war ihm nicht wohl in seiner Haut. Gerade nachts hatte er oft das Gefühl, als wenn sich die Konturen des Amuletts in seine Haut brennen würden. Dies hatte meist zur Folge, dass er heftig schnaufend aufwachte und Schmerzen in der gesamten Brustgegend hatte. Oder bildete er sich dies alles nur ein?
Was sollte er tun?
Als es so weit war und in Kürze der Grundstein für das Kloster gelegt werden sollte, hatte er keine Zeit mehr, sich Gedanken um das Amulett zu machen.
*
Für Hannes Eberz, Michael Eberz’ Sohn, sollte der Baubeginn zu einem schmerzlichen Akt geraten, weil ausgerechnet er die Holzkirche abreißen musste, die sein Großvater Gerold vor fünfzig Jahren mit seinen eigenen Händen in Fronarbeit errichtet hatte. Dass genau an diese Stelle der Sakralbau der neuen, wesentlich größeren Kirche kommen sollte, machte die Sache nicht leichter für ihn. Aber der gute Fortgang des Kirchenbaus und der restlichen Klosteranlage versöhnten ihn nach und nach wieder mit Gott und der Welt.
Denn sowohl Graf Manegold als auch der designierte erste Abt gleichen Namens und nicht zuletzt Hannes Eberz selbst, der seinem Großvater etliche Jahre später im Amt gefolgt und vom neuen Grundherrn zum Mair von Ysinensi bestallt worden war, taten alles, um den Klosterbau möglichst rasch voranschreiten zu lassen. Im Gegensatz zum ersten Kirchenbau sorgte nun ein Heer von Baumeistern und Handwerkern aller Gewerke dafür, dass bis zur feierlichen Weihe und zur von Papst Urban II. gesegneten Amtseinführung des Abtes, der für seine Gottesfurcht bekannt war und selbst dem Geschlecht der Grafen von Veringen entstammte, alles nach Plan verlief.
Kapitel 5
Die Gründung und die Einweihung des neuen Benediktinerklosters in Ysinensi waren auf Wunsch des neu eingesetzten Abtes Manegold weitaus bescheidener ausgefallen als die Weihe der ersten Kirche vor nunmehr vierundfünfzig Jahren. Die Übernahme der Klosteranlage durch Benediktinermönche aus Altshausen, vornehmlich aber aus Hirsau, war gemäß den Regeln des kontemplativ ausgerichteten Ordens nach vorne gerichtet und nicht auf eine schnell vergängliche Völlerei reduziert. Denn jeder der Mönche musste im Laufe seines Ordenslebens mit »Ora et labora et lege« drei Gelübde ablegen, an die er sich stets zu halten hatte. Bete und arbeite und lies! Diese drei Vorgaben ließen wenig Zeit für profane Dinge. Anstatt die gelungene Klostergründung und den einzugsfertigen Klosterbau tagelang zu feiern, legten die Mönche innerhalb ihrer Mauern weitläufige Gärten an. Dazu sollte auch ein Kräutergarten nach der »capitularis de villis vel curtis imperii« gehören, der überlieferten »Landgüterverordnung« von Karl dem Großen höchstpersönlich.
Trotz der gottgefälligen Klosterübergabe hatte Manegold I. Graf von Altshausen-Veringen die Gelegenheit genutzt, dem Mair Hannes Eberz in einem eigenen kleinen Festakt den Titel »Herr« zu übertragen. Denn aus dem Sohn des Schwarzfischers und Wilddiebs war längst ein hoch angesehener Mann geworden, der sich durch seine herzliche und verbindende Art sowie durch seine ständig an den Tag gelegte Klugheit und Weitsicht den Respekt seines Grundherrn verdient hatte. Ihm war keine Arbeit zu viel, wenn es um die Belange seines geliebten Heimatdorfes und des Klosters ging. Um Ysinensi in eine gute Zukunft zu bringen, ließ er sich vom Klosterscholaster sogar Schreiben, Lesen und Rechnen beibringen. Außer dem Medicus, den es in Ysinensi mittlerweile gab, und dem Pfarrer war er außerhalb des Klosters der Einzige, der diese Künste bald beherrschen würde.
Der »Herr Dorfvorsteher«, wie Hannes Eberz mehr und mehr bezeichnet wurde, seine Dörfler, Abt Manegold und seine Mönche taten alles, um nicht nur das Kloster, sondern auch das Dorf weiter nach vorne zu bringen – ein fürwahr schwieriges Unterfangen für beide Seiten. Dennoch siedelten sich immer mehr Handwerker an, aber auch neu hinzugezogene Kaufleute sorgten dafür, dass die hier produzierten Waren den Weg in immer fernere Länder fanden. Von dort brachten die Händler orientalische Gewürze, Seidenstoffe und allerlei mehr oder weniger wichtigen Tand mit, um ihn im gesamten Allgäu, in Westschwaben und um das Mare Brigantium herum unter die Leute zu bringen. Die an Ysinensi vorbeiführende Handelsstraße leistete ihren Beitrag dazu, den Ort in jeder Hinsicht für auswärtige Menschen interessanter zu machen – so interessant sogar, dass sich zum Missfallen des Pfarrers inmitten der christlich geprägten Dorfgemeinschaft auch eine Gunstgewerblerin niederließ. Als er ihr einen Platz hinter der Metzig, weit abseits der Dorfmitte zuwies, wurde Hannes Eberz klar, dass er eine klare Struktur in die Gestaltung seines Dorfes bringen musste. Denn genau so, wie sich die Gunstgewerblerin – ohne den Dorfvorsteher zuvor um Genehmigung gefragt zu haben – mitten im Dorf hatte niederlassen wollen, fingen auch andere Siedler an, ihre Zelte einfach dort aufzuschlagen, wo sie es für richtig hielten. Dies ließ Hannes Eberz nicht zu und wies sie in die Schranken, indem er der Länge nach durch ganz Ysinensi im Abstand von zwanzig Fuß Pflöcke in den Boden rammen ließ, die als Markierung für die Hauptstraße dienten, an deren beiden Seiten er Händler mit den dazugehörenden Handwerksbetrieben ansiedeln lassen wollte. »Hinten spinnen, vorne Leinenstoffe unter die Leute bringen! Hinten schlachten, vorne Fleisch verkaufen! Hinten backen, vorne Brot anbieten!«, hatte er dem Grafen vorgeschlagen und dessen Zustimmung umso mehr erlangt, als er empfohlen hatte, dafür einen Bodenzins zu verlangen, von dem die Hälfte an den Grafen gehen sollte. »Die andere Hälfte aber fließt in meine Dorfkasse, damit ich Straßen und Plätze, Brunnen und Wasserläufe innerhalb des Dorfes anlegen lassen kann!«, hatte Hannes Eberz dem Grafen gegenüber mit einem schlitzohrigen Grinsen geäußert, während er ihm die Hand zur Besiegelung gereicht hatte.
Dabei hatte er schon klar im Kopf gehabt, dass hinter den vorderen Häusern Kleinviehzüchter, ein Huf- und Nagelschmied, ein Sattler, Töpfer und ähnliche Berufsgruppen Platz haben könnten. Um dies zu ermöglichen, würde er den dafür fälligen Bodenzins wesentlich niedriger ansetzen als in der vorderen Reihe.
Die Ersten, die von den weitreichenden Gedanken des Dorfvorstehers profitieren sollten, waren die beiden jüdischen Familien Bernstein und Reichmann, die man mit Sack und Pack aus Ulm vertrieben hatte, weil sie wegen ihrer zwar florierenden, aber undurchsichtigen Geldgeschäfte in Ungnade gefallen waren. Im Gegensatz zu vielen andern war es ihnen in der Wahrnehmung ihrer dortigen Mitbürger schlicht und ergreifend »zu gut« gegangen. Obwohl der Ulmer Magistrat die gesamten Besitztümer der Familien beschlagnahmt hatte, war den Bernsteins und den Reichmanns durch das verdiente Geld genug zur Verfügung gestanden, um in einer kleineren Siedlung ein neues Leben beginnen zu können – und dies sollte trotz aller Bescheidenheit ganz sicher nicht in der zweiten Reihe sein! Weil Anhänger des mosaischen Glaubens in Ysinensi bisher nahezu unbekannt gewesen waren, hatte der vorsichtige Dorfvorsteher lange gezögert, die vier Erwachsenen mit ihren insgesamt sieben Kindern in Ysinensi aufzunehmen.
»Wenn die nur keinen Ärger machen!«, hatte Hannes Eberz zwar zu seiner Frau gesagt, den Juden letztlich dennoch für gutes Geld die besten Grundstücke angeboten.
Im weitläufigen hügeligen Gebiet um Ysinensi herum konnte neben Dinkel und Hafer auch vermehrt Flachs angebaut werden. Denn nach der Aussaat der Leinsamen um den einhundertsten Tag des Jahres herum bot das Klima in dieser Ecke des Voralpenlandes die besten Voraussetzungen für eine gute Ernte. Die nicht allzu hohen Temperaturen und der regelmäßige Wechsel von Sonne und Regen ließen die Pflanzen vom Frühjahr an bis über den Sommer hinweg bestens gedeihen. Und die Betriebe, die den Flachs bis zum spinnreifen Garn brachten, waren im wasserreichen Umland untergebracht. Garnaufkäufer brachten den Stoff von den Flachsrifflern, -brechern und -hechlern auf den Markt von Ysinensi. Den Bleichern, Blaufärbern, vor allem aber den Webern würde in der wasserdurchflossenen Nordseite, der sogenannten »Wasservorstadt« von Ysinensi, genügend Platz zur Verfügung stehen, dachte sich Hannes Eberz. Es ärgerte ihn, dass er selbst zu wenig Ahnung von Dorfplanung hatte. »Aber der Anfang ist gemacht!«, hatte er zu seiner Frau Agathe gesagt, nachdem alle Pfähle eingerammt waren und er todmüde und hungrig nach Hause gekommen war. Nachdem sie ihm eine große Schüssel mit kräftigendem Haferschleim hingestellt hatte, war Hannes mit sich und der Welt doch irgendwie zufrieden. Denn in seinem Innersten wusste er, dass er das Richtige tat.
Und genau so war es auch: Gemeinsam mit den anderen alteingesessenen Bewohnern von Ysinensi und den neu Hinzugezogenen galten die Eberz in den Augen der Bevölkerung anderer Dörfer und Städte als Garant dafür, dass der Erfolg und das damit einhergehende pulsierende Leben in diesem Teil des Allgäus auch künftig gedeihen würden.
Um all das besser vor fremden Zugriffen schützen zu können, war der durchlässige Speltenzaun durch eine feste Palisadenumfriedung ersetzt worden, die der Dorfvorsteher zusammen mit einem Holzrücker aus Maierhöfen und dessen beiden Pferden mit schweren Toren bestückt hatte, die er – was es in Ysinensi noch nie gegeben hatte – die Nächte über mit jeweils zwei Wachposten besetzte.
Kapitel 6
All diese gottgefälligen Werke sollten drei weiteren »Männern der ersten Stunde« nicht viel nützen; denn noch während des Klosterbaus war der Bauleiter mitten auf der Baustelle mit einem Stein erschlagen worden. Weil der bullige Mann seine Männer stets mit der Knute angetrieben und kein einziges gutes Wort für sie übrig gehabt hatte, vermuteten die meisten Arbeiter, dass es einer der ihren gewesen sein könnte, dem die Schikanen des brutalen Mannes zu viel geworden waren. Aber weshalb hätte der ihm eine Zahl in die Stirn ritzen sollen? Weil niemand den Bauleiter gemocht hatte, wurde nach dessen Tod nicht viel über den Mord gesprochen. Im Grunde genommen waren alle froh darüber, den brutalen Speichellecker des Grafen ein für alle Mal losgeworden zu sein. Wegen der Begleitumstände vertraten allerdings die meisten Dörfler die These, dass der gemeine Anschlag auf den Bauleiter mit dem Amulett zusammenhängen musste – immerhin schrieben sie den Tod des früheren Mairs von villa Ysinensi, den Tod des Grafen Wolfrad II. von Altshausen und den von dessen Leibdiener ebenfalls diesem verdammten Amulett zu. Warum also sollte dies nicht wieder der Fall gewesen sein? Für diese These gab es nur den kleinen Anhaltspunkt, dass der Bauleiter lauthals geprahlt hatte, das Amulett des Grafen mit dessen Genehmigung schon öfter um seinen Hals getragen zu haben.
*
Vier Jahre nach der Einweihung des Klosters und dessen Übergabe an die Bruderschaft der Benediktiner hatte es einen zweiten unerklärlichen Vorfall gegeben: Manegold, der erste Abt des Klosters St. Georg, war unter äußerst merkwürdigen Umständen zu Tode gekommen: Weil ihn zwei Novizen mit zertrümmertem Schädel und gebrochenen Knochen direkt am linken Turm der Klosterkirche gefunden hatten, waren zunächst alle davon ausgegangen, dass sich der Abt selbst heruntergestürzt hatte. Ernsthaft geglaubt hatte dies allerdings niemand. Denn es hatte nicht das geringste Anzeichen dafür gegeben, dass Abt Manegold seines Lebens überdrüssig geworden war. Im Gegenteil: Unabhängig davon, dass ein Mensch, am allerwenigsten ein Diener Gottes, sich nicht selbst das Leben nehmen durfte, war der früher eher mundfaule und in sich gekehrte Klosterleiter mit dem Aufblühen seines Konvents aufgetaut und redselig geworden.
Normalerweise blieben Ungereimtheiten, merkwürdige Vorkommnisse oder unerklärliche Dinge stets innerhalb der Klostermauern. Weil die Brüder aber unerwartet ohne ihren Abt waren und dementsprechend hilflos um die schrecklich aussehende Leiche herumstanden, hatten sie den Dorfvorsteher informiert und ihn gebeten, die Sache von weltlicher Seite aus zu begutachten.
»Wie ist das passiert?«, interessierte Hannes Eberz als Erstes, während er seinen Blick kurz nach oben gleiten ließ, bevor er sich neben den Toten kniete und auf dessen entblößte Brust zeigte.
Keiner der um den Toten herumstehenden und ständig vor sich hin betenden Mönche hatte eine Antwort parat. Also blieb Eberz nichts anderes übrig, als sich darüber zu wundern, dass die Kutte des Abtes vorne vom Hals ab bis zum Bauch aufgerissen war. »Wo ist sein Brustkreuz? … Es ist nicht da?«, forschte er weiter, ohne nach dem Amulett zu fragen, das möglicherweise ebenfalls um den Hals des charismatischen Leiters des Konvents gehangen hatte.
Nachdem er außer Gebetsmurmeln nichts hörte, schrie er die Mönche an, um sie aus ihrer Starre zu lösen: »Dann sucht es!«
Die Klosterbrüder stoben rasch auseinander, um sich in der Zelle des Abtes und in dessen Arbeitszimmer nach dem Kreuz umzusehen.
Bis auf zwei Novizen, die bei ihrem toten Vorsteher blieben, um weiter für ihn zu beten, waren alle auf der Suche nach dem aus Kirschholz geschnitzten Kreuz.
»Macht weiter!«, trieb Eberz die Glaubensbrüder an, obwohl er wusste, dass er im Grunde genommen nicht dazu berechtigt war, ihnen Anweisungen zu geben. Es hatte nur funktioniert, weil die Mönche durch den grausamen Tod ihres Abtes nicht gewusst hatten, wo ihnen der Kopf gestanden hatte und sie völlig neben sich gewesen waren. Deswegen, und nur deswegen, hatten sie seinen Anweisungen Folge geleistet. Immerhin war er darauf gekommen, dass hier etwas nicht stimmen konnte.
Und tatsächlich; seine Beharrlichkeit sollte sich gelohnt haben: »Hierher!«, rief Matthias, einer der beiden Klosterpförtner, und winkte die anderen aufgeregt zu sich. »Ich habe das Pektorale gefunden!«
Dass das gesuchte Brustkreuz des Abtes etliche Fuß von ihm entfernt am Ast eines Apfelbaums gehangen hatte, wurde von Hannes Eberz so gewertet, dass es der Mörder dem bedauernswerten Opfer seiner Gewalttat aus dem obersten Fenster des linken der beiden kurzen Kirchtürme nachgeworfen haben musste. Wie sonst hätte es auf den Ast eines Baumes gelangen sollen, der in einiger Entfernung des Toten stand?
*
»Ein böses Omen!«, bemerkte der Graf ein paar Tage später, als er mit Hannes Eberz zusammensaß, um sich von ihm den Sachverhalt in allen Details erklären zu lassen.
»Wie meint Ihr das, edler Herr?«
Der Graf räusperte sich, nahm einen kräftigen Schluck aus dem Weinglas und sagte, dass es seiner Meinung nach in Zusammenhang mit der Klostergründung noch einen weiteren Toten geben würde.
»Was sagt Ihr da?« Der Dorfvorsteher war entsetzt. »Wie kommt Ihr denn darauf?«
Weil Hannes Eberz hartnäckig eine Antwort forderte, sah ihn der Graf mit strengem Blick an. Dennoch öffnete er die obersten Schlaufen seines Wamses und seines Armkleides, um das Amulett hervorzuholen, das er dort Tag und Nacht vor den Augen anderer verbarg. Bis dahin war das Amulett in die Obhut des Abtes gelegt worden, der es vor Kurzem zurückgegeben hatte, weil er dieses »Teufelswerk« nicht innerhalb seines Klosters hatte haben wollen.
Als Eberz erkannte, was der Graf wie ein wertvolles Geschmeide in seiner Hand hielt, das es zu schützen galt, bekreuzigte er sich.
»Ich sehe, Ihr erinnert Euch noch daran!« Weil er den Mair von Ysinensi selbst in den Stand eines »Herrn« erhoben hatte, sprach er ihn auch dementsprechend respektvoll an, was für den Sohn einer einfachen Bauernfamilie immer noch ungewohnt war und sich nach wie vor befremdlich anfühlte.
Der Graf grübelte kurz, dann sagte er mit belegter Stimme, dass alles nur ein Trug gewesen war, wenn es keinen weiteren Toten geben würde. »Falls aber doch, wird das Morden so lange weitergehen, bis sich die in dem Amulett schlummernde Prophezeiung gänzlich erfüllt haben wird! … Achtet also gut auf Euch!«
»Und Ihr, gnädiger Herr, solltet ebenfalls gut auf Euch achten!«
*
Seit dem für das Kloster traurige Jahr 1100 und der Bestattung des Abtes Manegold im Kapitelhaus zur rechten Seite unterhalb des Chores waren vier weitere Jahre ins Land gegangen. Weil der Tod des Abtes zweifellos ein Mord gewesen war, die genauen Umstände aber nie richtig hatten aufgeklärt werden können, war die Schuld allein dem Amulett zugeschrieben worden. Zumindest die an fremde Mächte glaubenden Bewohner von Ysinensi und des Umlandes sahen dies so. Die belesenen Mönche von St. Georg hingegen betrachteten den Tod ihres Abtes nach wie vor lieber als Unfall, anstatt sich irgendeiner sowieso undurchschaubaren Wahrheit zu stellen. Dies ließ sie leichter damit umgehen und besser ihrer Arbeit nachgehen.
Landold, der neue Abt des Klosters St. Georg, tat vom ersten Tag seiner Nachfolge Manegolds alles dafür, um die Sache in Vergessenheit geraten zu lassen. Bei seinen Messen an den Tagen des Herrn predigte er unermüdlich gegen den vom Teufel geschickten Aberglauben, der die Seelen der Menschen vergiftete, während der feste Glaube an Gott Heil bringen würde. »Dies hier …«, rief er seinen Schäflein stets in zornigem Ton zu, wenn er sein über der Kasel hängendes Pektorale in die Hand nahm, küsste und ihnen entgegenstreckte, »… ist das Amulett Gottes, das euch dereinst Heil bringen wird!«