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»Pass auf, vom alten Eberz kannst du was lernen!«, sagte einer der Händler zu seinem Sohn, während er ihm mit seinem Ellenbogen in die Rippen stieß, um dessen Aufmerksamkeit zu bekommen.
Alle waren gespannt, was Eberz dem Mann, der mit einer roten Knollennase gestraft war, zur Antwort geben würde.
Er ließ auch nicht lange auf sich warten: »Wenn Ihr es Euch nicht leisten könnt, müsst Ihr die einfache weiße Leinwand nehmen und sie selber einfärben. Die kostet nur zwölf Pfennige! Oder …«, Godefried Eberz zeigte nach hinten, »Ihr nehmt ein aus Hanf hergestelltes einfaches Segeltuch, für das Ihr nur fünf Pfennige berappen müsst! Und wenn Ihr nicht so viel habt, nehmt Euer Kleingeld und versucht, in der Taverne dort drüben einen Humpen oder wenigstens ein Quart Bier zu bekommen!«
Nachdem er dies gesagt hatte, brandete allgemeines Gelächter auf. Der gewiefte Kaufmann suhlte sich im Handgeklappere seiner Kollegen. Aber das Lachen sollte ihm gleich wieder vergehen, denn der Mann sagte nur: »Schade! Ich bin Wiederverkäufer und bereise die Welt. Sehr gerne hätte ich Euch die gesamte Ware abgenommen, die Ihr liefern könnt!« Dann drehte er sich um und ging.
»Halt! … Äh! … Werter Herr! Kommt zurück!«, rief ihm Godefried Eberz nach, erfolglos.
»Hochmut kommt vor dem Fall! Das hast du nun davon, du eingebildeter Pfeffersack! Lieber eine rote Nase, als sie so hoch zu tragen wie du«, schimpfte seine Frau zur erneuten Belustigung der anderen Marktbeschicker, während der vom Oberen Joch kommende Knopfhändler seinen Sohn am Ohr packte und ihn in seinen Stand zurückzog. »Hast du keine Arbeit, Seppi?«
*
Von alledem hatte der Geheimbündler nichts mitbekommen, weil er sich gerade auf dem Hauptmarkt umsah, dem größten Platz im Zentrum des Dorfes, den man inzwischen mehr oder weniger offiziell als »Großen Marktplatz« bezeichnete. Nachdem er sich die Angebote der anderen Plätze, die »Kornmarkt«, »Rossmarkt«, »Viehmarkt« oder »Schmalzmarkt« genannt wurden, angesehen hatte, ging er in Richtung der Tuchhändler, wo er an einem der Stände etwas in der Sonne blitzen gesehen hatte. Er machte keinen Hehl daraus, gezielt zu suchen. Warum auch? Es war Donnerstag, also einer der Markttage in Isine, der auch dieses Mal Händler und Besucher von weither angelockt hatte. Weil alle, die nicht hinter einem Verkaufstisch standen, etwas suchten, fiel auch dieser Mann nicht auf. Im Grunde genommen hatte er ja nichts Böses vor; er suchte nur etwas, aber etwas ganz Bestimmtes!
An der Ursache des Glitzerns angekommen, zeigte er zum ersten Mal ernsthaftes Interesse am Angebot eines Händlers. Direkt im Anschluss an die Tuchhändler befanden sich die Gemischtwarenhändler, die mit allem schacherten, was man sich nur vorstellen konnte: Hier gab es Töpfe, Pfannen und Geschirr, sogar Werkzeug der verschiedensten Art. Gebrauchte Tabore und Einhandflöten, alte Fahnen verschiedener Kriegsheere vergangener Zeiten waren hier ebenso unter der Hand zu bekommen wie Waffen der verschiedensten Art aus den entferntesten Ländern der bekannten Welt.
»Interessiert Euch etwas, Herr?«, wurde er sofort vom Händler angesprochen, nachdem dieser bemerkt hatte, dass das Augenmerk des Kunden gezielt auf den Kasten mit den vielen kleinen Fächern gerichtet war, in denen sorgsam voneinander getrennt Ketten, Münzen, Perlen und Halbedelsteine lagen. Aber auch fertiger Schmuck wie Anhänger, Anstecker, Armreife und Ringe waren darin zu finden. Dieses Angebot schien den Kunden besonders zu interessieren.
Der Händler taxierte sein Gegenüber und nahm dann seinen schönsten Ring aus einem der Kästchen, den er über den kleinen Finger seiner rechten Hand streifte, um sie dem Kaufinteressenten entgegenzustrecken. »Wäre das nichts für die werte Frau Gemahlin?«
Der Kunde schüttelte nur den Kopf.
»Sucht Ihr etwas Spezielles? Bei mir werdet Ihr sicher fündig! Ich habe alles! Fast alles! Wartet!« Während er einen in Silber gefassten Bergkristall-Anhänger aus einem der hinteren Fächer herausnahm und hastig über eine Kette streifte, rief er sein Weib zu sich: »Rasch, Susanna, dreh dich um!«
Weil die Frau des Händlers augenscheinlich zwar gut gebaut, ansonsten aber keine Schönheit war, bedachte sie der Kunde nur rasch mit einem Blick, bevor er wieder in den Fächern zu kramen begann.
»Seht, Herr! Dies ist sicher etwas für die Frau Eures Herzens, oder?«
Der Kunde schaute eigentlich nur der Höflichkeit halber nochmal zum Halsausschnitt der Händlerfrau, blieb mit seinem Blick dieses Mal aber wie erstarrt daran kleben.
Wenn der Händler zunächst geglaubt hatte, dass er mit seiner Empfehlung einen Volltreffer gelandet hatte, wurde ihm schnell klar, dass der Kunde sich lediglich am prallen Busen seines Weibes ergötzen mochte. Und weil das Geschäft aus seiner Sicht sowieso nicht zustande kommen würde, empörte er sich darüber auf die unflätigste Weise. Er fing sogar damit an, den Kunden lauthals als einen heißen Bock und als treibigen Eber zu bezeichnen. Und weil sich der Kunde nicht gegen die Beleidigungen des Händlers wehrte, fühlte der sich im Recht und schimpfte so lange weiter, bis der Mann vor dem Verkaufsstand fragte, was es kosten würde.
»Was … was meint Ihr?« Der Händler schaute seine verlegene Frau verunsichert an.
»Keine Sorge; nicht was Ihr denkt!«, beruhigte der Kunde die beiden, zu denen sich neben deren Sohn auch seine zwei jüngeren Schwestern gesellt hatten.
Nachdem der Händler den Preis für den Anhänger mitsamt der Silberkette genannt und seinem Weib die Kette wieder abgenommen hatte, um sie dem Käufer zu geben, schüttelte der den Kopf. »Ich meinte nicht diese Kette, sondern den Anhänger, den Euer Weib um den Hals trägt.«
Völlig verunsichert antwortete anstatt des Mannes die Frau, dass dieser Anhänger unverkäuflich sei.
Und weil der Händler glaubte, dass ihn der vermeintliche Kunde lediglich narren mochte, pflichtete er seiner Frau bei.
»Woher habt Ihr ihn?«, wollte der Kaufinteressent wissen, bekam aber von ihrem Mann nur lapidar zur Antwort: »Wir sind Händler!«
»Na also: Dann waltet Eures Amtes!«
Nachdem es auch nichts genützt hatte, den doppelten und sogar den vierfachen Preis von dem anzubieten, was die Silberkette mitsamt dem Anhänger gekostet hätte, hielt sich der Interessent nicht weiter damit auf und wechselte zur Verwunderung des Händlers und dessen Frau das Thema, indem er die beiden fragte, woher sie denn kämen.
»Warum?«, mochte der erneut irritierte Händler wissen.
»Nur so …«
»Aha …«
»Also?«
»Aus Kreuzlingen, überm See!«, antwortete sie.
Nachdem er dies gehört hatte, blitzten die Augen des Mannes gefährlich auf, während sich gleichzeitig ein Grinsen auf seine Mundwinkel legte. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ das Marktgelände.
»Arschloch!«, rief ihm der Händler noch nach.
Dies sollte das letzte Schimpfwort gewesen sein, das er in Isine laut hinausgeschrien hatte. Weil sich der Tag sowieso dem Ende neigte und es dunkel zu werden drohte, packte er mit Hilfe seiner Frau und der Kinder seinen Kram zusammen, um das Allgäu in Richtung Meckenbeuren zu verlassen.
*
»Kreizkruzifix! Des glaub i etz it!«, schrie tags darauf ein Mann in breitestem Schwäbisch so laut, dass es durch den Wald hallte.
»Was isch, Hugo?«
»Ha wa! Etz schau d’r amol des ô?«, kam es fassungslos zur Antwort.
»Muinsch du, dass se …«
»Schwätz it, Schorsch! Komm: Mir packet g’schwind elles zam!«
»Schau amol! Denne beude Alte hend se mit’m Mess’r ebbes in’d Schdirn g’ritzt!« Nach genauerer Betrachtung ergänzte er noch, dass es sich um eine Zahl handeln könnte, wie er sie zwar irgendwo schon mal gesehen hatte, aber nicht wisse, um was für eine Zahl es sich handelte.
Für die beiden Strauchdiebe, die ursprünglich aus Stuttgart stammten, schien es ein Glückstag zu sein, den sie wohl bis zu ihrem Lebensende nicht mehr vergessen würden. Denn direkt vor ihnen lagen in einem Hohlweg in der Nähe von Eglofs fünf Menschen mit durchgeschnittenen Kehlen. Nachdem die verwahrlosten Herumtreiber die augenscheinlich bedauernswerten Opfer einer Gewalttat ganz genau betrachtet hatten, schauten sie sich ängstlich nach allen Seiten um. Dann fackelten sie nicht lange. Anstatt sich um die Toten zu kümmern, nahmen sie deren Ochsengespann mit dem vollbeladenen Planwagen an sich und suchten damit das Weite.
Der Geheimbündler, der gestern noch in Isine auf dem Markt gewesen war, hatte nicht lange gewartet, um der unwürdigen Händlerfrau aus Meckenbeuren das »Magische Amulett« vom Hals zu reißen. Weil ihn auch deren Mann und die drei Kinder gesehen hatten, war er nicht umhin gekommen, auch sie umzubringen. Auch wenn dies nicht unbedingt sein erklärtes Ziel gewesen war, hatte er es doch als Omen angesehen. Denn ihm war von vorneherein klar gewesen, dass er fünf Menschen umbringen musste, falls er das Amulett wiederfinden sollte. Und er hatte es nun ja wiedergefunden! Dabei war ihm etwas davon in den Sinn gekommen, was ihm und seinen Brüdern vom Großmeister zur magischen Zahl Fünf gesagt worden war, bevor er sie auf die Suche geschickt hatte: »Die Zwei kann stets als ›weibliche Zahl‹ empfunden werden! Wenn die Zwei und die Drei aber zusammenfinden, dann entsteht daraus die Zahl Fünf: Es ist die Zahl der Vereinigung von Mann und Frau!«
Zwei Elternteile und drei Kinder, das passt ja, hatte er sich eiskalt gedacht, bevor er den Eltern jeweils eine lateinische Fünf in einem Quadrat in die Stirn geritzt hatte. Wenigstens hatte er die beiden Kinder von diesem menschenverachtenden Akt verschont. Denn der Mann, der Mitleid mit dem Bettler gehabt hatte, war im Grunde seines Herzens kein schlechter Mensch. Aber der Codex sah nun einmal vor, diejenigen Menschen umzubringen und über deren Tod hinaus zu brandmarken, die mit dem Verschwinden des »Magischen Amuletts« zu tun gehabt hatten.
Die Stadtrechtsverleihung
Anno Domini 1281
Die magische Zahl VI
Kapitel 12
Hermann, der inzwischen zwölfte Abt des Klosters St. Georg, war vor zwölf Jahren verstorben, in einer Zeit, in der Kirche und Reich kein Oberhaupt gehabt hatten. Bereits ein Jahr zuvor hatte Truchsess Heinrich von Waldburg durch König Peter von Aragonien die Insignien des Herzogs von Schwaben erhalten, nachdem Konradin der Staufer gefangengenommen und in Neapel enthauptet worden war. Diese Situation hatte die Welt einmal mehr verändert.
Auch im allgäuischen Isine war es zu mehreren gewaltigen Einschnitten gekommen. Obwohl es gerade während der herrscherlosen Zeit ein besonders »ungutes« Leben für Volk und Adel gewesen war, hatte Ulrich Graf von Montfort sein Versprechen wahr gemacht und das inzwischen schmucke Städtchen zu einem Handelsknotenpunkt geformt. Daran hatte sich nichts geändert, als Isine in den Lehens- und Pfandbesitz der Truchsessen von Waldburg gekommen war.
Lediglich die vom Montforter Grafen gewünschte Stadtmauer aus Stein war immer noch nicht richtig verwirklicht worden. Die Grundlagen hierfür hatte er mit seinem strategisch klugen Straßen- und Marktausbau in Isine gelegt … und im Sommer des Jahres 1269 dabei insofern Glück gehabt, dass eine gewaltige Feuersbrunst zwar fast den gesamten Klosterkomplex in Schutt und Asche gelegt, die Stadt selbst aber nicht erfasst hatte. Dies war der Grund gewesen, weswegen es nicht zum Bau der Stadtmauer gekommen war.
Dennoch war die Bevölkerung von Isine mit dem zufrieden, was sich in ihrem Städtchen verbessert hatte. Allerdings schielte sie doch mit einem leichten Gefühl des Neides auf das aufblühende, selbstständige Lindau, dem sie gerne ebenbürtig wäre.
*
Obwohl es in erster Linie die Aufgabe der Mönche gewesen war, das bis auf die Grundmauern niedergebrannte Kloster wieder zu errichten, hatten sich auch die Einwohner von Isine fleißig daran beteiligt. So war trotz seines fortgeschrittenen Alters auch Godefried Eberz dem Ruf der Mönche gefolgt, sich durch das Einbringen seiner Arbeitskraft einen Platz im Himmelreich zu sichern. Wenn er selbst auch nicht daran geglaubt hatte, war es für ihn und seine Familie gleichsam Ehre und Verpflichtung gewesen, beim Klosteraufbau mit dabei zu sein, … auch wenn dies seine morschen Knochen eigentlich nicht mehr zugelassen hatten. »Aber was tut man nicht alles für …«
»Ich dachte, du glaubst nicht daran, dich in den Himmel einkaufen zu können?«, hatte ihn seine Frau Maria nicht nur einmal schmunzelnd unterbrochen und ihm sein heißgeliebtes Pflaumenmus hingestellt, das Godefrieds Meinung nach »gut für den Körper« sein sollte.
Trotz der Beschwerden des Alters waren die beiden ein glückliches und zufriedenes Paar. Lediglich ihr jüngster Sohn Lukas bereitete der Mutter nach wie vor ernsthafte Magenbeschwerden und dem Vater Kopfzerbrechen. »Was haben wir mit der Erziehung nur falsch gemacht? Aus Cristoff und Friedrik ist doch auch etwas geworden!«, klagte Godefried bei der Morgensuppe einmal mehr seiner Frau, weil er es nicht verstehen konnte, dass Lukas ganz aus der Art geschlagen und straffällig geworden war.
»Aber er ist trotzdem unser Sohn!«, versuchte Maria, den mittlerweile stadtbekannten Dieb und Einbrecher in Schutz zu nehmen.
»Dass ein Eberz am Haus des Grafen bereits zum zweiten Mal angekettet für jedermann sichtbar ganze zwei Tage und Nächte lang auf dem Prangerstein stehen musste, ist wohl mehr als unangenehm … und ganz beiläufig gesagt auch geschäftsschädigend«, ärgerte sich das Familienoberhaupt, das Lukas trotz allem immer noch genauso liebte wie seine beiden älteren Brüder.
Und weil Maria dies wusste, legte sie ermutigend ihre Hand auf seine und hauchte ihm ein sanftes »Ich liebe dich, du alter Griesgram!« entgegen.
»Du hast ja recht, Maria! Mir hätte nichts Besseres passieren können, als mit dir Kinder zu bekommen!«, entgegnete er mit dem Blick in den Augen, in den sie sich vor nunmehr fast fünfzig Jahren verliebt hatte.
»Wie es Philip wohl in den südlichen Gefilden ergeht?«, leitete Maria in melancholisch klingendem Tonfall zum Vetter ihres kränkelnden Mannes über, um ihn von seinen trüben Gedanken an Lukas abzulenken. Immer wenn Handelsreisende aus den italienischen Landen zurückgekehrt waren, hatten sie erfahren, dass aus Godefrieds Onkel Paul etwas ganz Besonderes geworden war. Aufgrund seiner guten Beziehungen zu einem Professore di medicina in Bologna hatte Melchior Habisreitinger den jungen Allgäuer tatsächlich an der dortigen Università unterbringen können, wo er allerdings anstatt die vom Vater gewünschte Arithmetik das Studienfach Medizin belegt hatte.
Und weil es sich um die wohl älteste Universität der Welt handelte – so zumindest behaupteten dies die dortigen Professoren –, hatte diese Universität einen ganz besonders guten Ruf, der ihr schon vorausgeeilt war, als dort die »Schule des Rechts« gegründet worden war. »Wäre dies nicht auch etwas für mich?«, hatte der an allem interessierte junge Mann aus dem fernen Isine damals gefragt und bei seiner Einschreibung zur Antwort bekommen, dass er sein Maul halten und zufrieden sein solle, beim berühmten Professore Rizzardini studieren zu dürfen. Also war aus dem Kaufmannssohn Paul Eberz aus Isine im Allgäu anstatt eines Zahlenkünstlers oder eines Rechtsgelehrten innerhalb weniger Jahre ein Medico und später sogar ein hochreputierter Professore geworden. Und später aus seinem Sohn Philip über die Jahre ebenso.
Als »Professore Philippo«, wie man Philip Eberz in seiner südländischen Wahlheimat allseits genannt hatte, eines Tages klar geworden war, dass er sterbenskrank war, hatte er seine Arbeit niederlegen wollen, um in die Allgäuer Heimat seiner Familie zurückzukehren. Aber dies hatte sich nicht so einfach gestaltet wie er gehofft hatte; denn »Philippo« hatte sich in der norditalienischen Region Emilia-Romagna derart unentbehrlich gemacht, dass man ihn nicht hatte gehen lassen wollen. »Due Semestre!«, hatte der Leiter der Universität seinem besten Professore die Abwesenheit zugebilligt, ihn wegen seiner fortgeschrittenen Krankheit dann aber doch für immer ziehen lassen müssen. Leider war die Reise für den kranken Philip Eberz so anstrengend gewesen, dass er es nicht bis nach Isine geschafft und bei der anstrengenden Überquerung des Brenners verstorben war.
Philip Eberz hatte sich wegen seiner herausragenden Leistungen schon während seines Studiums an der Unversità di Bologna ganz offiziell mit der Anatomie des menschlichen Körpers befassen dürfen. Weil später aus ihm ein Dozent geworden war, der dies seinen Studiosen beibringen mochte, hatte er sogar eine »permesso speciale« zur Begutachtung der inneren Organe erhalten. Obwohl es ihm in Bologna in jeder Hinsicht stets gut ergangen war, hatte ihn die Neugier nach der Heimat seiner Familie, aus der sein Vater vor Jahrzehnten gezogen war, stets begleitet. Und mit zunehmendem Alter war dies immer schlimmer, anstatt besser geworden. Weil er zudem mit argen Schmerzen zu kämpfen gehabt hatte, war ihm schon lange klar geworden, dass er seinen Professorenposten bald würde aufgeben müssen. Also hatte er geplant, baldmöglichst nach Isine zu reisen, um dort in monetär abgesicherten Verhältnissen seinen Lebensabend zu verbringen.
Philip war ganz nach seinem Vater geraten. Während seines gesamten Lebens in Bologna hatte der spröde Mann keine nennenswerten Freundschaften geschlossen und niemanden allzu nahe an sich herangelassen. Lediglich zu Matteo Gallo, einem seiner ehrgeizigsten und besten Studiosen, hatte er Vertrauen gefasst und ihm bei den vielen gemeinsamen Spaziergängen durch Bolognas Straßen und Gassen von der Allgäuer Heimat erzählt und von einem Isine vorgeschwärmt, das er nur aus den Erzählungen seines Vaters gekannt hatte. Die beiden hatte die Leidenschaft zu ihrem Beruf verbunden, insbesondere aber die Besessenheit zur Erforschung des menschlichen Körpers. Um wissenschaftlich vorwärtszukommen, hatten sie neben ihrer offiziell genehmigten Arbeit auch noch heimlich Leichenöffnungen vollzogen. Von Ehrgeiz zerfressen hatten sie sich dazu hingerichtete Verbrecher und verstorbene Landstreicher oder andere Verblichene besorgen lassen, deren Verbleib niemanden interessierte.
Matteo, der junge Medico aus Bologna, hatte aufgrund seiner engen Verbindung zu seinem Mentor Kontakte mit anderen Handelsreisenden nördlich der Alpen. Dies hatte den klugen Kopf dazu ermuntert, seine wegen des Professors sowieso schon guten Deutschkenntnisse zu erweitern.
Nach »Philippos« Tod, hatte er immer wieder etwas aus Isine erfahren, was Wehmut in ihm hatte aufkommen lassen, obwohl er die Heimat seines verstorbenen Freundes nur aus dessen Erzählungen kannte.
*
Wie meistens um diese frühsommerliche Jahreszeit glühte die Sonne über »Bella Italia«. Weil in diesem Jahr ein ganz besonders heißer Sommer herrschte, schwitzten die Menschen jetzt noch mehr als sonst. Deswegen sehnten sich viele von ihnen nach dem Schatten der Pinien und Zypressen. Andere verkrochen sich zu Hause oder suchten Erholung in einer Osteria. Und diejenigen, die es sich leisten konnten, gönnten sich dort ein kaltes Getränk – so auch der stadtbekannte Medico Matteo Gallo, der – wie an fast allen Tagen – nach mehreren Vorlesungen in seine Lieblingsosteria gekommen war, um sich dort zu zerstreuen.
Wie oft war er mit »Philippo« hier gewesen? Er wusste es nicht.
Matteo liebte dieses Lokal an der weitläufigen, von Arkaden gesäumten Piazza Maggiore allein schon wegen der Vielfalt des dortigen Publikums. Hier trafen sich Intellektuelle, Künstler, Kaufleute, Handwerker und Menschen einfacher Berufe aus aller Welt. Und genau dieses Gemisch gefiel dem allseits beliebten Medico, von dem niemand ahnen konnte, was er in aller Heimlichkeit trieb. Bologna war ein bedeutendes Zentrum für Architektur, Kunst und Kultur, aber auch für die Wissenschaft, die hier ganz besonders verwurzelt war. Nicht umsonst wurde die Stadt als »La Dotta«, die Gelehrte, bezeichnet. Weil in Bologna aber auch der Handel eine wichtige Rolle spielte, trafen sich in der »Osteria Maggiore« ebenso Handelsreisende aus allen Ecken der bekannten Welt. Matteo hatte sich gestern anstandshalber die Ware eines lästigen türkischen Teppichhändlers zeigen lassen. Heute unterhielt er sich mit einem ihm bereits bekannten Salzroder aus Hall in Tyrol, der weit herumgekommen war. Und weil auch er den Professore von dieser Osteria her gekannt hatte, berichtete er seinem Gesprächspartner, dass »Philippos« Heimatort Isine das Stadtrecht verliehen werden solle. So ganz nebenbei erwähnte der Salzfuhrwerker, dass er nicht direkt ins Tyrolerische zurückkutschieren würde, weil er zuvor noch in eine andere Richtung müsse. »Ich habe eine Rückfracht nach Memmingen!«, sagte er in einem Ton, als wenn er dies für seinen Zuhörer als unwichtig erachten würde.
Als Matteo aber »Memmingen« hörte, horchte er auf. »Liegt diese Stadt nicht ebenfalls im Allgäu wie Isine?«
Nun wurde der Salzroder stutzig. »Nein! Ich glaube nicht, dass Memmingen noch zum Allgäu gehört! Aber du kennst dich dennoch gut in den deutschen Landen aus?«, wunderte er sich.
»Also bringst du deine Rückfracht bis in die Nähe von Isine?«, drängte der Italiener.
Der bullige Fuhrwerker spuckte aus, bevor er sich mit seiner tellergroßen Hand den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Dann nickte er und sagte: »Das nicht gerade. Ich muss zur Äbtissin des dortigen Augustinerinnenklosters! Aber von ›Nähe‹ kann keine Rede sein, denn zwischen Memmingen und Isine dürften etwa fünfundzwanzig Meilen oder mehr liegen!«
»Was hast du denn geladen?«
»Hauptsächlich Knoblauchzehen, Oliven … und einen hervorragenden Rotwein!«
Nun musste Matteo schmunzeln. »Vino rosso? … Jaja, die geistliche Obrigkeit lässt es sich nicht nur in Rom gut gehen!«, rutschte es ihm versehentlich in seiner Muttersprache heraus.
Weil sein Gegenüber nichts verstanden hatte, bemerkte auch Matteo nichts mehr dazu. Stattdessen schenkte er dem offensichtlich durstigen Mann Wein ein und fragte ihn nach seinem Namen.
»Hannß! Warum?«
»Ciao, Hannß! Ich heiße Matteo!«
»Ciao!«, antwortete Hannß.
Weil Matteo ein durchtriebener Mann war, gelang es ihm mühelos, sein Gegenüber weiter erfolgreich auszufragen: »Wann musst du wieder zurück?«, hatte er Hannß Greiter, wie der Mann mit vollem Namen hieß, gefragt und zur Antwort bekommen, dass der noch über Rimini und Arcona bis nach Perugia müsse, um dort seine Rückfracht abzuholen, die er direkt nach Memmingen bringen musste.
»Und dann?«, interessierte Matteo, während er dem herben Mann Wein nachschenkte.
»… muss ich auf direktem Weg wieder zurück nach Hall!«
»Aber du könntest mich bis nach Memmingen mitnehmen?«
Hannß überlegte kurz und nahm einen kräftigen Schluck, bevor er grinsend den Daumen und den Zeigefinger aneinander rieb.
Matteo grinste auch und sagte: »Kein Problem! Wir werden uns sicher handelseinig! Könntest du mich denn auch bis nach Isine bringen?«
Obwohl dies ein großer Umweg wäre, dachte Hannß ernsthaft darüber nach, ob und wie er dies würde bewerkstelligen können. Dann sagte er in verschlagenem Tonfall: »Das wären dann etwa dreißig weitere Meilen!«
»Fünfundfünfzig Meilen!«, entfuhr es Matteo entsetzt. »Fünfundfünfzig Meilen mehr, als wenn wir von Memmingen aus über Leutkirch nach Isine kutschieren würden!«
»Ja!«, bestätigte Hannß, über die Ortskenntnisse des Italieners erstaunt. »Wenn ich schon bis dort runterkutschiere, muss ich zum dortigen Fürstabt Rudolf von Hohenegg, den ich bei dieser Tour eigentlich nicht eingeplant hatte.«
»Das verstehe ich nicht.«
Nun kam die große Stunde des Fuhrwerkers, der gewittert hatte, dass er für seine Dienste wesentlich mehr herausschlagen konnte als bei jeder normalen Fahrt. »Ganz einfach!«, begann Hannß. »Wenn der Fürstabt hinterher erfährt, dass ich im Allgäu war und nicht zu ihm gekommen bin, um ihm ein Fass Rotwein und mindestens eine Mandel Olivenkrüge mitzubringen, wird er so verärgert sein, dass ich mit ihm wohl nie mehr ins Geschäft kommen werde!«
Aber Hannß brauchte seinen Wert gar nicht künstlich zu steigern. Matteo fragte nach dem Preis, den er sofort akzeptierte, während er dem Fuhrwerker die Hand reichte.
»Und das Futter für meine beiden Zugtiere versteht sich von selbst!«, schoss es schnell aus Hannß heraus, der sich darüber ärgerte, nicht noch mehr verlangt zu haben.