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Glücklicherweise, so fährt die Erklärung fort, wurden die Dinge bald durch den Apostel Paulus richtiggestellt. Er korrigierte die Tendenz zum Neo-Judaismus oder zum Frühkatholizismus durch die Betonung der Priorität der Gnade und der sekundären Bedeutung der Werke, so dass ethische Belange nicht mehr zu ernst genommen werden konnten.
… wer eine Frau hat, [soll] sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht.
1Kor 7,29ff (Einheitsübersetzung)
Die zweite paulinische Korrektur klärte die soziale Radikalität von Jesus selbst (nicht nur die judaisierende Fehlinterpretation Jesu) und rückte sie zurecht.16 Positive Achtung vor den Institutionen der Gesellschaft, sogar vor der Unterordnung der Frauen und vor der Sklaverei; Anerkennung der göttlich sanktionierten Legitimation der römischen Regierung; Anleihen bei stoischen Konzeptionen der Naturethik – das sind einige Elemente der paulinischen Richtigstellung; so dass die Kirche nun in der Lage war, eine Ethik zu konstruieren, zu welcher Person und Charakter Jesu – und besonders sein Lebensweg – keinen besonderen oder entscheidenden Beitrag mehr darstellten.
Angesichts dieses hastig skizzierten Musters der vorherrschenden Strukturen ethischen Denkens wird die systematische und die historische Theologie einige sorgfältige Fragen stellen müssen. Da ist die Frage nach der Autorität dieser hermeneutischen Annahmen.17 Wenn die Bedeutung Jesu so vom Verständnis seiner Jünger und seiner Feinde in Palästina abweicht, wenn diese einfachen Verständnisse erst durch einen hermeneutischen Filter gepresst und durch eine Ethik sozialen Überlebens und der Verantwortlichkeit ersetzt werden müssen, was ist dann aus dem Konzept der Offenbarung geworden? Gibt es überhaupt so etwas wie eine christliche Ethik? Wenn es keine christliche Ethik gibt, sondern nur natürliche menschliche Ethiken, denen Christen wie andere anhängen, bezieht sich dann diese extreme Preisgabe spezifischer Substanz nur auf ethische Wahrheit? Warum nicht auch auf jede andere Wahrheit?
Eine zweite Frage müssen wir stellen: Was wird aus der Behauptung der Menschwerdung, wenn Jesus nicht als Mensch normative Bedeutung hat? Wenn er Mensch ist, aber nicht Vorbild, ist das nicht die alte ebonitische Häresie? Wenn er irgendwie Autorität ist, aber nicht in seiner Menschlichkeit, ist das nicht ein neuer Gnostizismus?
Auch die innere Schlüssigkeit ist problematisch. Warum sollten Christen innerhalb der Machtstrukturen soziale Verantwortung ausüben, wenn ihr Handeln dort von denselben Maßstäben geleitet ist wie das der Nichtchristen?
Wollten wir diese Fragen vom systematischen oder historischen Ende aufrollen, so hätte das mit biblischer Forschung nichts zu tun. Wir könnten aber, da wir nun einmal durch diese Fragen sensibilisiert sind, wiederum am Anfang beginnen, und zwar so, dass wir versuchen, einen Teil des Neuen Testaments ohne die üblichen negativen Vorurteile über seine Verbindlichkeit zu lesen. Oder schärfer gesagt: Ich schlage vor, die Evangeliumserzählung mit der dauernd gegenwärtigen Frage zu lesen: „Gibt es hier eine Sozialethik?“ Mit anderen Worten, wir testen die den vorherrschenden Annahmen entgegenlaufende Hypothese, dass nämlich Dienst und Anspruch Jesu am besten so verstanden werden, dass Jesus den Menschen nicht die Vermeidung politischer Stellungnahmen empfiehlt, sondern gerade eine bestimmte soziale – politische – ethische Stellungnahme nahelegt.
Diese Studie geht also zwei recht verschiedene Aufgaben an. Die beiden unterscheiden sich in Inhalt und Vorgehensweise. Sie verlangen also auch nach verschiedenen Methoden und Veranschaulichungen.
1. Ich will versuchen, ein Verständnis Jesu und seines Dienstes zu skizzieren, aus dem die direkte Bedeutung Jesu für die Sozialethik ersichtlich wird. Das fällt in das Gebiet neutestamentlicher Forschung innerhalb der exegetischen Wissenschaft.
2. Ich werde außerdem zeigen, dass Jesus, so verstanden, nicht nur relevant, sondern auch normativ ist für eine zeitgenössische christliche Sozialethik.
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das Unternehmen nur dann von Bedeutung ist, wenn beide Antworten bejaht werden können. Wenn aus allgemeinen Gründen der systematischen oder philosophischen Theologie, wie sie lange Zeit die theologische Ethik weitgehend beherrschten, Jesus, wer immer er war, kein Modell für die Ethik ist, dann wird es im Detail bedeutungslos, wer er war und was er tat.
Wenn Jesus jedoch, anders als alle anderen Menschen, kein politisches Wesen war, oder wenn er weder Originalität noch Interesse gezeigt hätte, auf die Fragen einzugehen, die seine soziopolitische Umgebung ihm stellte, so wäre es witzlos, nach der Bedeutung seiner Haltung für uns heute zu fragen.
Um die Frage zu vereinfachen und bearbeiten zu können, schlage ich vor, dass wir uns hauptsächlich auf ein Dokument konzentrieren: auf den kanonischen Text des Evangeliums nach Lukas. Lukas’ erzählerische Linie bietet uns eine einfache Skizze, und seine redaktionelle Haltung wurde oft als Versuch angesehen, eine Bedrohung der mediterranen Gesellschaft oder der römischen Herrschaft durch die christliche Bewegung zu bestreiten. Dass wir unsere verstreuten Sondierungen auf Lukas konzentrieren, soll die Lektüre nicht lenken. Jeder andere Evangelientext hätte ebensogut benutzt werden können, und gelegentlich werden wir die Parallelen und Unterschiede in den anderen Evangelien heranziehen.
Auch soll unser einfacher Anfang mit dem kanonischen Text keinen fehlenden Respekt für die Wichtigkeit der kritischen und historischen Probleme, die hinter dem Text liegen, bedeuten. Aber die Distanz zwischen dem kanonischen Text und dem „historischen Jesus“, wie er „wirklich war“, ist nicht Gegenstand der gegenwärtigen Studie. Die Brücke vom Kanon nach heute ist schon lang genug.18
Unser Unternehmen hat nicht einmal so sehr mit dem neutestamentlichen Text als solchem zu tun, als mit den modernen Ethikern, die behauptet haben, die einzige Möglichkeit, von der Geschichte der Evangelien zur Ethik zu kommen, von Bethlehem nach Rom oder nach Washington oder Saigon, liege darin, diese Geschichte hinter sich zu lassen. Ich werde mehr die Ereignisse als die Lehre betrachten, mehr die Abfolge als die Substanz. Die nächsten Seiten werden eher Sondierungen als ein eingehendes Gutachten bringen.
Es ist auch nicht das Ziel dieser Arbeit, exegetisch originell zu sein. An keinem Punkt beabsichtige ich, nie gehörte Texterklärungen zu riskieren. Alles was ich hinzufüge, ist der Brennpunkteffekt einer durchgängigen, hartnäckigen Frage. Weil ich in diesem Punkt keinen Anspruch auf Originalität erhebe, kann ich auf einiges an pedantischem Zubehör verzichten, das hilfreich oder notwendig wäre, würde ich ganz neue Behauptungen verfechten.
KOMMENTAR ZU KAPITEL 1
Die Möglichkeit einer messianischen Ethik
Die Grundthese
Bei einer Bestandsaufnahme der Reaktionen auf Die Politik Jesu muss der erste Schritt darin bestehen, den Debattenstand der neutestamentlichen Forschung zu betrachten, inwiefern Jesus im Grundsatz eine politische Person war. Unter den Fachtheologen gibt es im Detail immer noch tiefe Meinungsverschiedenheiten, doch weniger denn je wird behauptet, Jesus sei apolitisch gewesen. Ernst Bammel und C. F. D. Moule etwa, zwei der angesehensten Forscher der älteren Generation, veröffentlichten die Dokumentation eines umfangreichen Symposiums, Jesus and the Politics of His Day.19 Es ging ihnen vor allem darum, der extremen These von Brandon entgegenzutreten. Doch konnten sie es nicht vermeiden, ihm dabei auf halbem Weg entgegenzukommen.
Die umfangreiche Forschung auf diesem Gebiet20 und der dahinter stehende größere Forschungszusammenhang entstand nicht als Reaktion auf Die Politik Jesu. Manches reagiert, wie schon erwähnt, direkt auf die weiter reichende These Brandons21, Jesus sei zwar sehr politisch gewesen, doch auf ganz herkömmlich gewalttätige, staatsorientierte und militärische Weise.
Manche Forscher bearbeiten die Fragestellung: „War Jesus politisch?“ mit innovativen Methoden („postmodern“, poststrukturalistisch“ oder „soziologisch“), die es so in den 1960ern noch nicht gab. Was es heißt, dass jeder Leser eines Textes eine spezifische ihm eigene Perspektive hat, statt eine quasineutrale „Objektivität“ zu suchen oder zu behaupten, ist selbst Teil weitergehender Methodendiskussion. Diese Debatte hat sich seit 1970 geradezu wuchernd ausgebreitet. Ich will hier keine Einschätzung wagen, was diese neuen Interpretationsraster leisten können, doch sie werden keinesfalls zu dem vorkritischen, apolitischen Jesus zurückkehren.22
Die zu beobachtende Wiedergewinnung der politischen Dimension des Dienstes Jesu wurde gefördert durch spezifische Interpretationsperspektiven, besonders im breiten Spektrum verschiedener „Befreiungstheologien“. Als einigermaßen informierter Amateur auf diesem Gebiet habe ich dazu zwar eine Meinung,23 doch die These der Politik Jesu hängt nicht davon ab, ob ich auf dem neuen Themenfeld „Befreiungstheologie“ eigene Fachkompetenz behaupte. Grundvoraussetzung für die angemessene Lektüre jeden Textes ist die Empathie oder Kongenialität des Lesers mit der Intention oder dem Genre des Textes. Wir erwarten kaum, dass einer, der dem Fach Mathematik feindselig gegenübersteht, einen mathematischen Text als Experte liest. Einen Text der Gattung Evangelium unter der Grundannahme zu lesen, so etwas wie „Gute Nachricht“ könne es gar nicht geben, scheint ebenso unangemessen – ob es sich nun um eine echte Botschaft oder eben um diese Textgattung handelt.
Ich möchte mit diesen Bemerkungen nicht die zahlreichen kritischen Einwände gegenüber manchen allzu groben Vereinfachungen und Kurzschlüssen vom Tisch wischen, wie sie in Theologien unter der Überschrift „Befreiung“ auch formuliert wurden.24 Solche Kritik ist jedoch nur dann berechtigt oder angemessen, wenn sie Bezug nimmt auf den Text und dessen Kontext. Es kann nicht grundsätzlich als falsch angesehen werden, den Text des Neuen Testaments als Zeugnis einer Befreiungsbewegung zu lesen.
Warum nicht Jesus?
Eine zweite Komponente meiner seit 1972 anhaltenden Auseinandersetzung mit kritischen Kommentaren muss sich den Gründen (S. 11ff) zuwenden, die verschiedene Schulen der Ethik anführen, Jesus nicht unmittelbar als ethisches Modell zu nehmen. Damals identifizierte ich sechs solcher Gründe. Es finden sich noch weitere: So gibt es, selbst wenn wir Jesus nachfolgen wollen, eine historisch-kritische Skepsis, inwiefern der Text überhaupt ausreichend klare Aussagen ethischer Wegweisung liefert. Die Aufmerksamkeit der Experten für die Kluft innerhalb des Kanons zwischen dem, „was wirklich geschah“, und „was der Text tatsächlich sagt“, hat sich in der letzten Generation in komplexer Weise weiter entwickelt. Es gibt immer noch Forscher, die sehr skeptisch sind, was die Zuverlässigkeit der alten Texte in historischen Details betrifft. Andere zeigen größeres Vertrauen, dass die Texte einen verlässlichen historischen Kern enthalten.25 In beiden Fällen hat die Entwicklung der Forschung jedoch weder zur Entdeckung eines unpolitischen Jesus geführt, noch haben gerade die scharfsinnigsten Forscher es aufgegeben, sich auf die Autorität der Figur hinter dem Text zu beziehen.26
Eine weitere historisch-kritische Debatte fragt nicht, ob in den alten Texten klare Aussagen zu finden sind, sondern ob das Gefundene innere Konsistenz hat. Jeder neutestamentliche Autor hatte seine eigenen Quellen und seine spezifische Leserschaft. Ein und derselbe Autor konnte unterschiedliche Leser in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichem Rat ansprechen. Jeder Redakteur konnte verschiedene Traditionen aus mehr als einer Quelle weitergeben. Diese Beobachtung mag fundamentalistische Grundannahmen infragestellen oder die einer altprotestantischen Schulphilosophie, in denen der Inhalt des Glaubens, dem die Menschen treu bleiben wollen, nicht wirklich biblisch ist, sondern ein nahtlos konsistentes System von Lehrsätzen darstellt, worin alle offenbarten „Lehren“ eine zusammenhängende Einheit bilden. Diese Wahrnehmung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit untergräbt jedoch in keiner Weise ein postkritisches oder narratives Verständnis. Für ein solches Verständnis besteht das Zeugnis eines Textes zum einen aus dessen ursprünglicher Richtung und bewegt sich zum anderen auf der Linie früher Überlieferung bis zur gegenwärtigen Herausforderung, und zwar innerhalb des Lebenszusammenhangs der Gemeinschaft für die und zu der der Text spricht oder gesprochen hat. Aus dieser Perspektive ist Einheit in Vielfalt glaubwürdiger und hilfreicher, als simple Uniformität es sein könnte.
Unter jüngeren Forschern gibt es eine allgemeine theologische Voreingenommenheit gegen die historisch partikulare Qualität der narrativen und prophetischen Stränge der Schrift und ihre Verkündigung eines „handelnden Gottes“27 zugunsten der „weisheitlichen“28 Überlieferung, also zugunsten weniger zeit- und ortsgebundener ethischer Einsichten. Niemand wird abstreiten, dass das Alte wie das Neue Testament sein Zeugnis in zahlreichen literarischen Gattungen entfaltet.29 Daraus folgt jedoch weder priori noch empirisch, dass Jesus als Weiser,30 als Rabbi,31 als inkarnierte Weisheit32 politisch weniger relevant wäre als Jesus, der gewaltfreie Zelot.
Es gibt den Versuch einiger systematischer Theologen, das Zeugnis der Evangelien durch ein wesentlich späteres erkenntnistheoretisches Raster zu filtern. Sehr populär ist das „distributive“ erkenntnistheoretische Modell der Trinität, wie es von H. Richard Niebuhr vertreten wird.33 Man solle die Wichtigkeit Jesu für die Ethik nicht übertreiben, argumentiert Niebuhr, denn Gott, der Vater, steht für eine andere (wohl eher institutionell konservative) Sozialethik, die sich auf ein Verständnis der Schöpfung oder Vorsehung gründet, deren Inhalt sich nicht von Jesus, sondern anderswo herleitet. Gegründet auf die seit Pfingsten in der Kirchengeschichte fortschreitende Offenbarung, führe uns Gott, der Heilige Geist, ebenfalls zu einer anderen Ethik.34 Dieses einflussreiche Schema verdient sorgfältige kritische Aufmerksamkeit,35 doch da es sich aus einer modernen, dem Neuen Testament fremden Erkenntnistheorie herleitet, gehört das Argument nicht hierher. Niebuhrs Analyse macht keine der drei Personen der Trinität mehr oder weniger politisch als die anderen. Würde eine solche Differenzierung überhaupt inhaltliche Differenzen herausarbeiten,36 so zugunsten einer anderen politischen Ethik, nicht aber zugunsten einer apolitischen Haltung. Sie würde voraussetzen, dass Jesus politisch ist.37
Jesus kam nicht, eine Lebensweise zu lehren. Seine Rolle ist die des Erlösers. Und dass wir einen Erlöser brauchen, zeigt sich schon darin, dass wir nicht nach den von ihm vertretenen Idealen leben.38 Die klassische lutherische Tradition behauptet mit dem Konzept des usus elenchticus, die Funktion des Gesetzes sei weniger, uns zu sagen, was wir tun können, als uns auf die Knie zu bringen, weil wir es nicht tun können.
A. E. Harvey39 liefert eine erhellende Diskussion, auf welche Weise verschiedene intellektuelle Kräfte auf der Suche nach einer zu verallgemeinernden Ethik die charakteristischsten Lehren Jesu beiseite lassen. Die von ihm zitierten Überlegungen überlappen sich mehr oder weniger mit den oben aufgeführten, wenn auch in anderer sprachlicher Formulierung. Harveys Projekt unterscheidet sich von dem dieses Buches: a) Er konzentriert sich auf eine Handvoll „schwierige“ oder „charakteristische“ Texte, vor allem aus der Bergpredigt, wogegen ich mich dagegen wende, diese wenigen Kapitel herauszugreifen. b) Mehr, als ich es tue, vertraut er der Fähigkeit des Forschers, hinter den Texten unterschiedliche Traditionsstränge oder -schichten zu rekonstruieren, die jeweils mit unterschiedlichen Glaubensstilen und -schattierungen verschiedener Untergemeinschaften des ersten Jahrhunderts korrespondieren. c) Er postuliert eine klare Trennung zwischen „Aphorismen“ und dem, was als Regeln für das Gemeinschaftsleben „gemeint war“. d) Im größten Teil seiner Darstellung lässt er die Möglichkeit außer acht, der Grund für Jesu Radikalität, „eine Maxime ihrer logischen Schlussfolgerung zuzuführen“, könne im Kommen des Gottesreiches liegen.40
Wenn nicht Jesus, was dann?
Ginge es uns hier darum, das Wesen der Sozialethik auszubuchstabieren, so wäre es angemessen, das Thema „Gibt es eine andere Norm?“ auszuweiten (vgl. S. 15ff).41 Die Theologen berufen sich zu diesem Zweck auf die klassischen Begriffe „Natur“, „Vernunft“, „Schöpfung“ und „Realität“. Gemeinsam ist diesen vier Begriffen:
a) dass behauptet wird, ihre Bedeutung sei selbstevident;
b) dass diese Bedeutung sich schwer so konkret definieren lässt, dass sie eine starke ethisch-moralische Weisung darstellen würde, besonders im Blick auf Anleitung und Motivation zum Dissens;
c) dass diese Ratgeber sich in ihrer moralischen Substanz (nämlich darin, was wir tatsächlich tun sollen) von Lehre und Beispiel Jesu unterscheiden;
d) dass ihnen a priori eine höhere oder tiefere Autorität zugeschrieben wird als den „spezifisch“ jüdischen oder christlichen Quellen moralischer Einsicht, sei es die Bibel im Allgemeinen oder Jesus im Besonderen.42
Die Verbindung dieser Debatte zu unserem Thema liegt darin, dass die verschiedenen Argumente auf je eigene Weise bewirken, dass die Autorität Jesu beiseite gestellt wird. Und zwar weder durch das offene Eingeständnis, sich gegen seine Nachfolge zu entscheiden, noch durch eine Lektüre der Evangelien, die eine andere Botschaft darin findet, sondern indem auf die eine oder andere Weise Jesu Anspruch auf das Leben seiner Jünger a priori aus systematisch logischen Gründen außer Kraft gesetzt wird. Die Fragestellung dieses Buches will die Probe darauf machen, ob diese Außerkraftsetzung fair ist gegenüber der Intention und dem Inhalt der neutestamentlichen Texte.
2 Anführer dieses Trends ist wohl Rose (1967), S. 125. Recht ähnlich Paupert (1969) und Brown (1969). Paupert und Brown gehen ernsthafter vor als Rose, doch ihr Stil ist immer noch so impressionistisch, dass theologische Leser sich nicht sicher sein können, inwiefern ihre Aussagen über „Mahatma Jesus“ als Exegese ernstgenommen werden sollten oder einfach eine neue symbolische Einkleidung sind für etwas, das auch ohne diese gesagt werden könnte.
Näher am Anliegen unserer Studie, wenn auch nur den Tod Jesu betrachtend, dies aber in eingehender Textanalyse, ist Stringfellow (1970).
Eine Position, die meiner noch am nächsten kommt, vertreten zwei Autoren aus der Church of the Brethren: Brown (1971) und Gish (1970). Sie gehen von einer ähnlichen Sicht aus, die sie jedoch nicht ausführlich aus dem Neuen Testament herleiten.
3 „Trotz einer größeren Bereitschaft, die Probleme nun offen anzugehen, die sich unvermeidlich daraus ergeben, dass eine historische Person als die Inkarnation Gottes betrachtet wird, besteht immer noch eine merkwürdige Abneigung, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, Jesus könnte politische Ansichten gehabt haben“, Brandon (1967), S. 24. Unter Neutestamentlern ist Brandon ein Außenseiter. Eine noch treffendere Beschreibung der zeitgenössischen neutestamentlichen Forschung hätte sich wohl ergeben, wenn er gesagt hätte, in einzelnen Texten seien die Fachleute sehr wohl bereit, die politische Dimension des Wirkens Jesu anzuerkennen, aber es bestehe eine Abneigung, die Beobachtungen zu verbinden. Vgl. den Kommentar von Etienne Trocmé (S. 60, Anm. 94).
4 In nuce wurde dieses Material schon vorgetragen auf der zweiten „Puidoux“-Konferenz über Kirche und Frieden in Iserlohn im Juli 1957, und etwas ausführlicher in Yoder (1964a), S. 3–7ff. Seine jetzige Gestalt verdankt es einer streng neutestamentlichen Studie, die am 27. April 1968 vor der Chicago Society for Biblical Research vorgetragen und in dieser erweiterten Form zur Veröffentlichung in BR freigegeben wurde. Die Vorbereitung profitierte von zahlreichen Vorschlägen von William Klassen und John E. Toews.
5 Allgemein sichtbar war das Problem, das in diesem Buch behandelt wird, spätestens seit den Schriften der Brüder Niebuhr in den 1930er Jahren; doch ein neuer Höhepunkt intensiven Interesses zeigt sich im Zuge des ökumenischen Nachdenkens über politische Ethik, besonders in Lateinamerika, was starken Ausdruck fand auf der Genfer Konferenz über Kirche und Gesellschaft im Juli 1966. Hier wird „Revolution“ zum Schlüsselbegriff (z. B. Richard Shaul, [1967], S. 91ff). In diesem Kontext wird Jesus oft als revolutionäre und politische Figur dargestellt; doch geschieht dies eher formal, schlagwortartig. Es geht nicht einher mit einem inhaltlichen Interesse an der Art von Politik, die Jesus verkörperte. Manchmal wird die Relevanz der konkreten Führung Jesu sogar ausdrücklich zurückgewiesen und doch weiter behauptet, in seinem Auftrag zu handeln. Eine solche Haltung ist daher gerade durch die Abwesenheit der Belange gekennzeichnet, denen sich dieses Buch widmet. Anm. 2 weist auf andere mehr journalistische Versuche hin, die sich der Thematik „Jesus als Agitator“ widmen, sich jedoch weder ernsthaft mit den Fragen biblischer Hermeneutik noch zeitgenössischer systematischer Sozialethik beschäftigen, die es brauchen würde, ernsthafter Kritik an dieser Parallelisierung standzuhalten.
6 Auch heute, 1993, halte ich das noch für eine angemessene „Laiensicht“ auf die akademische Landschaft der 1960er Jahre. Die Kommentare zu den folgenden Kapiteln zeigen auf, dass sich inzwischen einiges zum Positiven verändert hat.
7 Die fortdauernde Legitimität theologischen Rückbezugs auf den ganzen Text des Evangeliums in seiner überlieferten Form wurde von Filson (1966) überzeugend vertreten; und ähnlich von Wedel (1963), S. 17ff. Conzelmann (1954) argumentiert ebenso S. 4ff: Obwohl es Teil der Arbeit des Wissenschaftlers sei, die Dokumente zu werten und die Ereignisse dahinter zu rekonstruieren, müsse das Interesse jeglicher Textlektüre darin liegen, die Intention des Autors zu erfassen. Indem er das von Lukas sagt, zitiert Conzelmann ein ähnliches Argument von Dibelius über die Apostelgeschichte. Wir konzentrieren uns für den gegenwärtigen Zweck auf den Text, wie er uns vorliegt; das konzediert jedoch in keiner Weise, dass die tiefer schürfende Forschung nach den Ereignissen hinter dem Text unsere Ergebnisse schwächen würde; vgl. S. 19, 51 (Anm. 77), 116. In meinem Vorwort (S. 3) finden sich einige klärende Bemerkungen bezüglich des Etiketts „biblischer Realismus“.
8 Sheldons (2009) Klassiker des populären Protestantismus der Jahrhundertwende ist kein ernstzunehmendes Muster der Vision von Jüngerschaft, wie wir sie hier beschreiben. Die Werte, an die der Held des Buches, Henry Maxwell, gebunden ist, haben keinen materiellen Bezug zu Jesus. „Tun, was Jesus tun würde“, heißt für Sheldon einfach: „Tu, was recht ist; koste es, was es wolle.“ Doch was recht ist, kann man nach Sheldon auch ohne Jesus wissen. Sheldon ist eher ein Befürworter der hier beschriebenen Betrachtungsweise, die die wesentlichen Normen der Ethik woanders als in den Evangelien findet. Um Modelle zu finden, die ernst machen mit Jesu Vorbildhaftigkeit für die Sozialethik, müssen wir zurückgehen zu den Franziskanern, den Böhmischen Brüdern oder den Täufern. Anfänge einer modernen Neuformulierung dieses Anspruchs finden sich in MacGregor (1955). Vgl. auch C. H. Dodd, S. 109, Anm. 173.
9 Im Kommentar bringe ich noch einige weitere Dimensionen dieser Behauptung.
10 Die klassische amerikanische Formulierung der Abhängigkeit der Ethik Jesu von seiner Erwartung eines baldigen Endes der Geschichte ist Niebuhrs (1935); ihr folgen Paul Ramsey und viele andere.
11 „Jesus behandelt nur die einfachste moralische Situation … den Fall einer Person in Beziehung zu nur einer anderen. Er unternimmt es nicht, zu erklären, wie Menschen, die (für sich selbst) keinerlei Widerstand leisten sollen …, wenn sie allein die Schläge erhalten, in komplizierteren Fällen handeln sollen.“ Ramsey (1950), S. 167 ff. Ein Vertreter der Tendenz, die Lehre Jesu zu enthistorisieren, gerade in der Absicht, sie ernst zu nehmen, ist Colwell (1963). Obwohl Colwells Buch dahin zielt, die grundsätzliche historische Zuverlässigkeit der Evangelienberichte neu zu bestätigen, meint er, dies dürfe nicht dahingehend verstanden werden, dass damit soziale Konkretheit eingeschlossen sei. Die Versuchungslegende (S. 47) ist ein dramatisches Gleichnis der Demut, keine Versuchung. Die Häufigkeit wirtschaftlicher Motive in Gleichnissen und ethischer Lehre sollte nicht als Anzeichen einer bestimmten Einstellung zu Reichtum und Arbeit angesehen werden (S. 60). Habsucht ist falsch, nicht weil sie dem Bruder das Brot wegnimmt, sondern weil sie in geistlicher Hinsicht verderblich ist.






