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12 Eine Standardformulierung dieser Auffassung findet sich bei Mehl (1966), S. 44ff. Nach Mehl war Jesu Anliegen ausschließlich auf das Individuum bezogen. Er verhielt sich indifferent gegenüber sozialen oder politischen Angelegenheiten, und er stand dem Anliegen der Zeloten fern. Es ist daher eine Neuerung (nach Mehl eine heilsame), dass die christliche Ethik sich erst in moderner Zeit und als Antwort auf die Herausforderung des Sozialismus mit Fragen der Sozialstruktur beschäftigt. Es könnte ausführlicher gezeigt werden, wie dieses Denkmuster sich durchhält, sogar unter dem Deckmantel einer Sprache, die anscheinend ziemlich genau das Gegenteil meint. Wenn z. B. von Jesus als demjenigen gesprochen wird, der „wahre Menschlichkeit enthüllt“, oder wenn von der Menschwerdung als Offenbarung gesprochen wird, so könnte das durchaus heißen, wir könnten oder sollten zu dem Menschen Jesus in all seiner möglichen Menschlichkeit gehen, um zu sehen, wie Gott den Menschen will. Doch in der tatsächlichen Praxis der zeitgenössischen „Inkarnationstheologie“ dient diese Sprache im Normalfall als Präambel oder als Bekräftigung einer Definition wesentlicher oder allgemeiner Menschlichkeit, die aus ganz anderen Quellen abgeleitet wird.
13 Dies ist das zentrale Anliegen H. Richard Niebuhrs schon in Niebuhr (1951), besonders S. 234ff, und weiter in Niebuhr (1960) und in Niebuhr (1963).
14 Dass diese Quelle der Ethik „eine andere als Jesus“ ist, braucht natürlich nicht zu bedeuten, dass sie keinen Bezug hat zur Offenbarung. Man kann sehr gut von ihr sprechen als der Ordnung, die Gott der Vater geschaffen hat, oder als einem Imperativ, der in der jeweiligen Situation durch das Wirken des Heiligen Geistes erkannt wird, oder als dem „kosmischen Christus“ oder „Gottes Wirken in der Geschichte“. All diese populären Ausdrücke, wie sie gegenwärtig in der ethischen Diskussion gebraucht werden, führen uns weg von der Konkretheit Jesu zu einer anderen Quelle von Normen. Weitere Beispiele des Standpunktes, der Jesus im Namen der „Offenbarung“ relativiert, weiter unten, S. 114ff.
15 Die ökumenischen Manieren haben sich in den letzten Jahrzehnten etwas gebessert. „Frühkatholizismus“ wird heute nicht mehr als abwertende Bezeichnung gebraucht. Doch der Grundgedanke, dass die Entwicklung eines ethischen Katechismus wegführt von der ursprünglichen Radikalität Jesu, ist noch verbreitet.
16 Vgl. die eingehendere Beschreibung dieser Ansicht auf S. 183ff.
17 Graydon F. Snyder verdeutlicht in seiner unveröffentlichten Dissertation Snyder (1961), S. 18ff, dass die Analyse in vielem von der schon feststehenden hegelianischen Ausrichtung der Tübinger Schule diktiert wurde.
18 Die Vereinfachung der gegenwärtigen Aufgabe im Nichteingehen auf die textkritischen Fragen geschieht nicht, um widersprechendes Material auszuschalten. Textkritische Studien bestätigen im allgemeinen unsere These; vgl. S. 51, Anm. 77.
Es sollte nicht angenommen werden, dass diese Studie in ihrer Entscheidung, historisch-kritischen Problemen nicht ausführlich nachzugehen, irgendwelche neo-fundamentalistische Vermutungen über die Komposition des Evangelientextes anstellt oder über die Verschiedenheiten in der Entwicklung der frühen Gemeinden und während der Herausbildung der kanonischen Texte. Es werden auch nicht irgendwelche besonderen Vorstellungen entwickelt, wie man hinter den Evangelientexten in ihrer überlieferten Form zu einem Verständnis des „historischen Jesus“ kommt. Weitere Diskussion oder die Konstruktion von Hypothesen über dieses Thema werden hier zurückgestellt, nicht weil sie als unwichtig angesehen werden oder weil der Verfasser sich darüber im Klaren wäre, was sie erbringen sollten, sondern nur deshalb, weil eine sorgfältige Lektüre des kanonischen Textes für unsere gegenwärtige These genügt. Es wäre allerdings ein Argument gegen unsere Lesart der Jesus-Geschichte, wenn die historisch-kritischen Forscher solide Beweise auftischten, dass der von ihnen gefundene „wirkliche Jesus“ ziemlich unvereinbar mit demjenigen sei, den wir im kanonischen Bericht finden. Wir werden dieser Herausforderung begegnen müssen, wenn sie auftauchen sollte. Aber bisher hat noch kein Forschungsansatz solche Ergebnisse erbracht. Im Gegenteil, je skeptischer die Forscher hinter den Dokumenten nach dem suchen, was sie als „harte Fakten“ anerkennen (in der Annahme, den Evangelienschreibern sei es weniger um solche Daten gegangen), und je selbstsicherer sie ihr neues Konzept, wie es tatsächlich war, entwerfen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Interpretationen entstehen könnten, die das traditionelle dogmatische Bild des apolitischen Jesus unterstützen, und desto wahrscheinlicher wird die Bekräftigung der Glaubwürdigkeit jener Elemente des Bildes, mit denen wir uns hier beschäftigen.
Die traditionelle dogmatische Zurückweisung der Relevanz des sozialen Beispiels Jesu für die Ethik war nicht auf eine alternative kritische Rekonstruktion des „wirklich Geschehenen“ gegründet, und daher braucht eine Herausforderung dieser Tradition nicht neue anerkannte kritische Resultate abzuwarten.
Doch nachdem ich nun meine ernsthafte Offenheit gegenüber der textkritischen Aufgabe dargelegt habe, sei es mir erlaubt, auch einen gewissen Skeptizismus zu bezeugen, und zwar über das Ausmaß an Klarheit, das die in diesem Forschungsfeld geläufigen Techniken versprechen. Jeder, der den vorliegenden Versuch, ehrlich mit dem kanonischen Text umzugehen, mit den sehr kühnen und kreativen Rekonstruktionen Carmichaels und Schonfields, Brandons oder Hamiltons vergleicht, wird wohl kaum zu dem Schluss kommen, die letzteren zögerten selbstkritisch vor dem Risiko fragwürdiger Hypothesen.
19 Bammel & Moule (1984).
20 N. Thomas Wright und Marcus Borg sprechen von „einer dritten Suche nach dem historischen Jesus“. Vgl. Borg (1991). Borg rezensiert fünf wichtige Forscher, von denen drei eine Interpretation der soziopolitischen Wirkung Jesu liefern, die „neu ist in der Jesusforschung“.
21 Ich gehe in meinem Buch mehrfach auf Brandons Text ein, vgl. Index. Es gab zahlreiche weitere eher populärwissenschaftliche Beschäftigungen mit demselben Thema: Schonfield, Joel Carmichael, James Pike etc.
22 Etwa Crossan (1991). Crossan ist ein Beispiel, wie jenseits der gewohnten Skepsis der Begriff „historischer Jesus“ wieder Akzeptabilität gewinnt (vgl. Anm. 20 oben). Ähnlich Meier (1992). Borg (Anm. 20) meint, zwei der Porträts würden Jesus als apolitisch beschreiben. Doch das trifft nur zu, wenn der Begriff „politisch“ enger gebraucht wird als in dieser Studie.
23 Meine Überlegungen dazu habe ich zuletzt zusammengefasst in Yoder (1990). Vgl. auch meine Zusammenfassung eines Symposiums in Yoder (1989a), S. 159–168.
24 In den 1970ern sahen einige Rezensenten dieses Buches, etwa James McCord, darin einen besonders fundierten Ausdruck der „Befreiungstheologie“; andere lasen es als Kritik dieser Bewegung. Beide hatten recht, denn „Befreiung“ ist ein Thema oder ein Themenfeld, nicht eine einzelne oder einheitliche Position.
25 Vgl. die Übersicht bei Borg (Anm. 20) und die „Sprüche-Schule“, wie sie Crossan vertritt (Anm. 22).
26 Zuvor bezog ich mich auf Forscher, die überzeugt sind, in den Quellen sei ein verlässliches Zeugnis über Jesus zu finden. Jetzt weise ich auf Forscher hin, die ihm, falls er sich als auffindbar erweist, eine Autorität zuschreiben.
27 Das protestantische akademische Verständnis der Bibel stand seit den 1950ern unter dem starken Einfluss von Wright (1952). Jedes Thema, das eine Zeitlang zur dominierenden Mode wird, wird von der nächsten Generation weniger geschätzt werden.
28 Diese Wortwahl bedeutet einen Umbruch in der Theologie insgesamt, nicht nur im Verständnis Jesu oder eines Datums. Ein frühes Beispiel liefert Brueggemanns (1973). Eine Darstellung der prophetischen Botschaft, die der Autor in einer sehr zeitbewussten Weise als Korrektiv des „neo-orthodoxen“ und „pietistischen“ Denkens seiner eigenen Vergangenheit einsetzt. Jesus zu lesen, kann auch ein Korrektiv sein gegenüber neo-orthodoxen und pietistischen Vorurteilen.
29 Manche halten den Pendelschwung der biblisch-theologischen Forschung weg von der „Geschichte“ und hin zur „Weisheit“ für übertrieben. Das ist hier nicht meine Sorge. Ein Buch nach mehr als Jahrzehnten wieder aufzulegen, befreit von der Sorge darüber, wo das Pendel gerade schwingt.
30 Die Gattung des Gleichnisses soll die Zuhörer oder Leser verblüffen und eine neue Sicht der Dinge eröffnen. Das wird unter den kreativen Auslegern allgemein so gesehen; vgl. Crossan (1973), und Crossan (1983). Gleichnisse ähneln der Weisheitsliteratur darin, dass sie nicht an konkrete Ereignisse gebunden sind. Zugleich sprengen sie jedoch die traditionell weisheitsaffinen Bereiche wie Sprichwort und Kosmologie. Mit der Annahme, die literarische Gattung der „Weisheit“ müsse mit einer konservativen Voreingenommenheit in der Substanz ethischen Denkens einhergehen, unterliegt der ethische „Mainstream“ einem Irrtum. Harvey (1990), S. 62ff, verdeutlicht, dass dies weder auf heidnische noch auf hebräische Modelle zutrifft. Harvey beschreibt die doch auf Veränderung zielende Intention solcher Literatur.
31 Die ganze Bergpredigt, am deutlichsten Matthäus 5, illustriert die Konzentration des Rabbi auf die äußere und innere Bedeutung der halakah (wenn auch das meiste Wissen über Rabbis aus Quellen stammt, die jünger sind als die Evangelien). Die Bergpredigt wird im vorliegenden Buch unterbetont, weil sie in früheren Debatten eher überbetont wurde.
32 Mit logos bezeichnet das vierte Evangelium die göttliche Weisheit, die mit Jesus in unser Leben kam. Eine formale Parallele liefert hokma in Sprüche 8. Wenn dieses „Wort“ jedoch die Sphäre menschlicher Erfahrung betritt, ist es nonkonform mit der herrschenden Kultur; es wird abgelehnt von den Seinen. Vgl. meinen Aufsatz „Glory in a Tent“, in: Yoder (1985), S. 69ff.
33 Niebuhr (1946), in derselben Zeitschrift nachgedruckt in Niebuhr (1983). Zur weiteren Diskussion mit Niebuhrs Argumentation s. Stassen et al. (1996).
34 Manche Zeitgenossen würden diese Aussagen über den Geist „charismatisch“ verstehen, also dass heutige Weisheitsworte den Gläubigen neue kontextuelle ethische Weisung geben könnten. Niebuhr jedoch meinte das nicht so, er dachte vielmehr an die „Lektionen der Geschichte“, die in Jahrhunderten von der Kirche vorgenommenen Anpassungen an Strukturen wie Volk, Staat oder Wirtschaft als den störrischen Konstanten der gefallenen Welt. Die Bitte um Leitung durch den Heiligen Geist zielt auf Bestätigung dieser Anpassungen.
35 Vgl. Anm. 33.
36 Inwiefern Niebuhr tatsächlich vorhatte, in der ethischen Substanz je nach ihrem Bezug auf Vater, Sohn und Geist zu unterscheiden, ist Teil der oben zitierten Diskussion, s. Anm. 16.
37 Borg (1991, s. Anm. 20) merkt an, dass die Debatten der früheren Forschung, ob Jesus nun „politisch“ war oder nicht, voraussetzten, dass es nur zwei Optionen gab: zelotische Revolution oder apolitische Gewaltfreiheit. Diese Alternative schließt das Material der Evangelien a priori aus, das hat jedoch nichts mit den Texten selbst zu tun. Auch die von Borg präsentierten fünf verschiedenen Porträts Jesu und ihre Differenzierung haben mehr mit hermeneutischen a-priori-Festlegungen zu tun als mit dem Text.
38 „Die Gute Nachricht des Evangeliums ist nicht das Gesetz, dass wir einander lieben sollen. Die gute Nachricht … ist, dass es eine Quelle göttlicher Gnade gibt. …“ Niebuhr (1940). Diese Ansicht ist eine Verfeinerung von Negation 6 der ursprünglichen Liste.
39 Harvey (1990), S. 7ff.
40 In den Anfangskapiteln fehlt diese Dimension weitgehend; ab S. 192ff ist sie jedoch gegenwärtig.
41 Siehe meine Diskussion „anderer Lichtquellen“ in Yoder (1982), S. 127ff, auch enthalten in Cartwright (1994), S. 182ff.
42 Vgl. Yoder (1962). Dieser Austausch mit Donald Miller war das Ergebnis seiner Kritik des Arguments auf S. 33ff in Yoder (1964b). Ähnliche Argumente über die Berufung auf die „Natur“ bringen Ellul (1960) und Hauerwas (1983), S. 51–60, 99–101.
KAPITEL 2
Das kommende Königreich
Die Ankündigung: Lukas 1,46ff, 68ff; vgl. 3,7ff
Wir sind es nicht gewohnt, die Jungfrau Maria als Makkabäerin anzusehen. Doch wäre das Magnificat in der Geschichte durch seine liturgische Verwendung nicht zur leeren Wiederholung geworden, so wären wir alle beeindruckt, dass sich Maria hier wie eine Makkabäerin anhört.
Er hat Macht geübt mit seinem Arm, er hat zerstreut, die hochmütig sind in ihres Herzens Sinne; er hat Gewaltige von den Thronen gestoßen und Niedrige erhöht. Hungrige hat er mit Gütern erfüllt und die Reichen leer hinweggeschickt.
Lk 1,51–53
Für unsere Absicht hier ist es nicht wichtig zu wissen, aus welcher literarischen Quelle Lukas geschöpft hat oder aus welcher liturgischen Quelle Maria hätte schöpfen können.43
Das vorliegende Zeugnis des Evangeliums sagt uns, dass der, dessen Geburt angekündigt wird, ein Urheber radikalen sozialen Wandels sein wird. Die Hoffnungen derer, die die „Tröstung Israels“ erwarten, sind nicht kultischer oder dogmatischer Art, und so sind sie keine im engen Sinn „religiösen“ Erwartungen; er kommt, die Knechtschaft seines Volkes zu zerbrechen. Einige Verse darauf tut Zacharias, sobald seine Lippen gelöst sind, die Bedeutung der Geburt des Johannes kund:
Um uns Rettung zu schaffen vor unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen. … dass wir, erlöst aus der Hand unserer Feinde, ohne Furcht ihm dienen.
Lk 1,71.74 (Jerusalemer Bibel)
Diese Erwartung wird noch klarer, wenn Johannes selbst sie ausspricht:
Schon ist aber die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum nun, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen … Er hat die Wurfschaufel in seiner Hand, um seine Tenne zu fegen und den Weizen in seine Scheune zu sammeln. Die Spreu aber wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen.
Lk 3,9.17 (Jerusalemer Bibel)
Das ist die Sprache, in der Johannes „die gute Nachricht dem Volk predigte“. Zu voreilig haben wir bisher immer alle Worte der Ankündigung durch die Annahme gefiltert, das alles sei natürlich „geistlich“ zu verstehen.44
Auf jeden Fall behielt Johannes nicht recht mit seinen Erwartungen – oder etwa doch? Wir werden später sehen, inwieweit die von Jesus gebrachte Erfüllung sich von den Erwartungen des Johannes unterscheidet; aber auf jeden Fall besteht der Unterschied nicht darin, dass Johannes soziale und politische Erwartungen hatte, die Jesus dann „geistlich“ erfüllte. Wäre das der Unterschied, so hätte Lukas seine Geschichte anders anfangen müssen. Die ersten drei Kapitel müssten einen warnenden Hinweis auf die Unangemessenheit der Hoffnungen Marias, Zacharias’ und auch Johannes’ enthalten. Da ein solches Warnsignal fehlt, können wir nur schließen, dass sogar zu dem späten Zeitpunkt, da Lukas seine Geschichte für Theophil zusammenstellte (vermutlich mit dem apologetischen Interesse, die Christen nicht als Aufwiegler erscheinen zu lassen), er doch nicht darum herum kam, zu berichten, dass die frommen Hoffnungen, die Jesus entgegengebracht wurden, das Leiden Israels in seiner ganzen sozialen und politischen Wirklichkeit umfassten und dass das Wirken des Erwarteten von derselben Art sein würde.
Um der Kürze willen überspringen wir die Geburtsgeschichte, mit der Betonung der kaiserlichen Volkszählung und ihrer ganzen Tragweite für ein unterworfenes Volk: Registrierung, Besteuerung, Identitätskontrolle. Wir brauchen uns nicht ausführlich mit der offensichtlich politischen Bedeutung der Identifizierung Bethlehems als Stadt Davids zu beschäftigen; auch nicht mit der Verkündung der Engel: „Friede auf Erden“ oder den Erwartungen Simeons und Hannas oder mit Matthäus’ Bericht über die Angst des Herodes und den Kindermord; es muss genügen, die Fäden dort wieder aufzunehmen, wo die Sache öffentlich wird.
Wir hätten auch die offensichtlich politische Bedeutung der Beziehung zwischen Jesus und Johannes dem Täufer eingehender verfolgen können. Johannes’ Wirken hatte einen ausgesprochen politischen Charakter und in gewissem Sinne war Jesus sein Nachfolger (siehe die zeitliche Beziehung in Mt 3,12). Die Lehre des Johannes rief nach einer sofortigen Gütergemeinschaft in den Dingen des täglichen Bedarfs (Lk 3,11); die einzigen Zuhörerkategorien, die Lukas aus den „Massen“ benennt (Matthäus erwähnt Pharisäer und Sadduzäer), sind die sozial und politisch missachteten Zöllner (3,12) und Soldaten (3,14). Nach dem Bericht des jüdischen Geschichtsschreibers Josephus hatte die Gefangennahme des Johannes mit der Angst des Herodes Antipas zu tun, Johannes könne einen Aufstand entfachen.45 Lukas’ Bericht über das Vergehen des Johannes spricht nicht nur von „Herodias, der Frau seines Bruders“, sondern auch von „allem Bösen, das Herodes getan hatte“; darin ist möglicherweise substanziell politische Kritik enthalten. Dass Herodes seine erste Frau verstieß und an ihrer Stelle Herodias nahm, war an sich schon eine öffentliche, politische Angelegenheit, da dadurch ein Krieg mit dem Vater der ersten Frau, Aretas IV. von Nabatea, ausgelöst wurde. Selbst wenn das Urteil des Johannes über die Wiederverheiratung in erster Linie durch seine Ablehnung von Scheidung und Ehebruch motiviert war, so hatte seine Gefangensetzung eine symbolische politische Bedeutung, wie vielleicht auch die Wahl von Machaerus, der Festung an der nabateischen Grenze, als Ort seiner Gefangenschaft und Hinrichtung. Jesu Antwort an die Boten des Johannes erinnert direkt an seine erste Predigt in Nazareth (4,18). Der Bericht über sein Wirken veranlasst Herodes, in ihm einen möglichen Nachfolger für Johannes zu sehen (9,7ff). Jesus stellt sein Schicksal neben das von Johannes (16,16 par).
Schon aus dieser knappen Zusammenfassung wird deutlich, dass eine nähere Untersuchung der Nebenlinien gleich welcher Richtung nur unsere Ergebnisse im Gesamtverlauf der Geschichte bestätigen würde.
Berufung und Versuchung: Lukas 3,21–4,14
Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.
Lk 3,22
Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie explizit diese Worte vom Himmel von Jesus – bzw. von Johannes oder Lukas – als Anspielung auf Psalm 2,7 oder auf Jesaja 42,1b verstanden worden sind. Ist die doppelte Anspielung klar intendiert, so bedeutet sie eine explizite Verschmelzung des Inthronisationsthemas (Ps 2) mit dem des leidenden Gottesknechtes (Jes 42). Wie auch immer, mit oder ohne ausdrücklich messianische Anspielung haben wir es hier mit der Übertragung eines Auftrages in der Geschichte zu tun. „Du bist mein Sohn“ ist keine Definition oder Bestätigung eines metaphysisch definierten Status der Sohnschaft; es ist die Berufung zu einer Aufgabe. Jesus ist beauftragt, in der Geschichte, in Palästina, der messianische Sohn und Diener zu sein, der Träger des guten Willens und der Verheißung Gottes. Dieser Auftrag wird in der Versuchung, in die Jesus unmittelbar darauf hineingerät, näher definiert.
Der hypothetische Syllogismus des Versuchers „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann …“ argumentiert nicht aus einem Konzept metaphysischer Sohnschaft heraus, sondern vom Königtum her. Mit „Sohn Gottes“ kann im Aramäischen kaum die ontologische Wesensgleichheit des Sohns mit dem Vater gemeint gewesen sein, so dass es für den Versucher wie für das erste chalcedonische Konzil angebracht gewesen wäre, zu überlegen, wie Jesus, obwohl er doch die göttlichen Attribute teilt und per Definition allmächtig ist, trotzdem der Versuchung unterworfen sein kann, seine Allmacht zu gebrauchen. Der Sohn Gottes in Psalm 2,7 ist der König; alle Möglichkeiten, die der Versucher Jesus anbietet, sind Wege zum Königtum.46
Der Versuchungsbericht des Lukas stellt die ökonomische Alternative an den Anfang. Der geistliche Filter, durch den wir heute zu lesen gewohnt sind, behandelt die Attraktion dieser Versuchung als eine rein persönliche, fleischliche. Jesus war hungrig. Würde er sich selbstsüchtig seiner Allmacht bedienen, um sich zu speisen? Aber ein vierzigtägiges Fasten bricht man nicht mit krustigem Brot, und schon gar nicht mit einem ganzen Feld felsbrockengroßer Laiber. Weil Jesus selbst für die Qualen des Hungers neu sensibilisiert worden war, konnte daraus die Alternativfrage für ihn erwachsen (oder doch verstärkt werden), ob seine Messianität sich darin ausdrücken würde, dass er ein Festmahl für seine Jünger ausrichtete. Dass das keine unbegründete Einbildung war, zeigt die Fortsetzung der Geschichte: Speise die Massen, und du wirst König sein.47
Der zweiten Versuchung in der Reihenfolge von Lukas wird allgemein sozio-politischer Charakter zugestanden.48 Die Stimme vom Himmel (3,22) hatte Psalm 2,7 zitiert, der Versucher geht einfach weiter zur Verheißung von 2,8. Hier gibt es keinen Zweifel über die politische Natur des versprochenen Lohnes, „alle Reiche des Erdkreises … alle diese Macht und ihre Herrlichkeit“; gefragt werden müsste hier allerdings, was es hätte bedeuten können, „ihm zu huldigen“. Sollen wir uns eine Art Satanskult vorstellen? Oder bietet sich nicht eine viel konkretere Bedeutung, wenn wir Jesus als den verstehen, der mittels solcher Begriffe den götzenhaften Charakter politischen Machthungers und des Nationalismus aufdeckt?
Schließlich wird Jesus auf die Zinne des Tempels geführt. Niels Hyldahl49 kombiniert sehr geschickt die Mischnavorschriften über die Ausführung der Todesstrafe mit einigen alten Berichten über das Martyrium des Jakobus: der Sturz von einem Turm in der Tempelmauer (der gut als pterygion bezeichnet werden kann, was normalerweise mit „Zinne“ übersetzt wird) in das Kidrontal, falls notwendig mit anschließender Steinigung, war die vorgeschriebene Todesstrafe für Blasphemie. Die Versuchung bestünde dann darin: Jesus sieht sich selbst, wie er die Strafe für seinen Anspruch auf göttliche Autorität auf sich nimmt, doch auf wunderbare Weise vor den Konsequenzen gerettet wird.50 Hyldahl trifft keine Entscheidung, wo der Akzent liegen soll: darauf, dass Jesus über die Strafe nachdenkt und damit rechnet, zu entkommen, oder darauf, dass er sich als eine Art Gottesurteil aus eigener Initiative hinunterstürzt. In jedem Falle ist es der quasi-blasphemische Anspruch auf göttliches Königtum, der der Prüfung ausgesetzt wird.
Wenn wir, statt auf Hyldahls Vorschlag eines Sturzes außerhalb der Tempelmauer einzugehen, bei dem traditionelleren Bild einer plötzlichen Erscheinung von oben und zwar innerhalb des Tempelhofes bleiben, so müssen wir Hyldahl auf jeden Fall zustimmen, dass es nicht um ein rein akrobatisches Kunststück zur Beglaubigung von Jesu Ruf als Wundermann ging. Das wäre ein Zeichen der Art gewesen, die Jesus den Neugierigen und Zweifelnden standhaft verweigerte. Wenn wir überhaupt zu rekonstruieren versuchen, was als die konkrete menschliche Möglichkeit in Jesu Versuchung über die Bedeutung seiner Mission hätte angesehen werden können – wäre nicht eine unerwartete Erscheinung von oben der beweiskräftigste Weg für den Botschafter der Verheißung, um nach Maleachi 3,1–3 „… plötzlich in seinen Tempel zu kommen und … die Söhne Levis zu reinigen“? Weiter (sogar noch deutlicher in Matthäus’ Bericht, wo diese Versuchung nicht den Höhepunkt darstellt, sondern zum Angebot der Weltherrschaft führt) sehen wir Jesus über die Rolle als religiöser Reformer, himmlischer Botschafter nachdenken, der unangekündigt von oben erscheint, um die Dinge ins Lot zu bringen.
Soll nicht dieses Herabschweben von einem so bedeutungsvollen Ort den Auftakt bilden zu einem religiös-politischen Freiheitskampf, der Jesus schließlich zum Triumphator macht, so wie es jene falschen Messiasprätendenten anstrebten, von denen das Neue Testament und Josephus gerade für die damalige Zeit genug Beispiele bieten?51
Das öffentliche Wirken: Lukas 4,14ff
Lukas beginnt nicht mit einer Zusammenfassung dessen, was Jesus „zu predigen begann“. Anders Matthäus und Markus. Beide berichten, dass Jesus in seiner ersten Botschaft dieselben Worte gebraucht wie vorher Johannes der Täufer (und später die Jünger): „Das Reich Gottes ist nahe; tut Buße und glaubt an die gute Nachricht.“ Die Sprache – „Königreich“, „Evangelium“ – kommt aus dem politischen Bereich. Diese eigentümliche Wortwahl wäre äußerst unangemessen, hätte sich Jesus, gegen die Erwartungen des Johannes, nicht für diesen Bereich interessiert. Dass „Königreich“ ein politischer Begriff ist, braucht kaum hervorgehoben zu werden; dass aber „Evangelium“ nicht irgendeine alte willkommene Botschaft ist, sondern eine öffentlich bedeutsame Bekanntmachung, die es wert ist, durch Eilboten weiterbefördert und durch ein Fest empfangen zu werden, ist dem normalen Bibelleser weniger bewusst.






