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Der letzte Verzicht: Lukas 22,24–53
Diese dreißig Verse vereinigen in bemerkenswerter Dichte vier Episoden. Nach der Einsetzung des Abendmahls folgt zunächst der Streit, wer der Größte sei. Jesus reagiert darauf, indem er seine Jünger auffordert, Diener zu sein, nicht Herren. Parallelstellen gibt es in Markus 10 und Matthäus 20 vor dem Einzug in Jerusalem. Jesus antwortet auf eine Anfrage der Frau des Zebedäus oder ihrer Söhne. Dann folgt die Ankündigung vom Verrat des Petrus (Matthäus und Markus sagen den Abfall aller Zwölf voraus). Dann der Bericht (nur bei Lukas) über die Umkehrung der früheren Reisebefehle an die Jünger. Sie werden nun angewiesen, einen Beutel, eine Tasche und ein Schwert mitzunehmen, damit die prophetische Schrift erfüllt würde: „Er ist unter die Übeltäter gezählt worden.“86 Darauf folgt das Gebet, den Kelch vorübergehen zu lassen (ohne die bei Markus und Matthäus betonte dreifache Wiederholung und ohne den eindringlichen Hinweis auf die Schläfrigkeit der Jünger); danach sogleich der Verrat und die Gefangennahme.
Dass Lukas in eine von ihm geschaffene Texteinheit zwei Elemente einbringt, die bei Markus nicht vorkommen, stellt die Frage, die die meisten traditionellen Interpretationen vermeiden, um so deutlicher. Wie hätte eine Erfüllung der Bitte: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen“ aussehen können? Was hätte anderes geschehen können?
Sowohl erbauliche als auch wissenschaftliche Kommentare haben diese wichtige Alternative ausschließlich im Lichte des späteren Geschehens gesehen. Vor lauter Verehrung, mit der die christliche Interpretation die Geschichte von Gethsemane umgibt, haben Leser und sogar professionelle Kommentatoren selten die historische Neugier aufgebracht, danach zu fragen, was es hätte bedeuten können, „diesen Kelch vorübergehen zu lassen“. Auf welche Weise hätte Jesus, in der Situation, in die er durch sein anstößiges Verhalten im Tempel geraten war, den letzten Zusammenstoß und den Untergang vermeiden können? Was war die andere Möglichkeit, mit der er rang? Sollte er still nach Qumran entschlüpfen, bis der Sturm sich gelegt hatte? Oder sollte er sich durch den Widerruf einiger seiner extremeren Behauptungen mit den Autoritäten versöhnen? Sollte er eine Deeskalation ankündigen, seine Kandidatur für das Königtum aufgeben und zum Lehrer werden?
Die einzige vorstellbare tatsächliche und historisch glaubwürdige Alternative, und die einzige mit einer wenigstens minimalen Textbasis, ist die Hypothese, dass Jesus sogar in diesem letzten Augenblick der Versuchung wieder hingezogen wurde zur messianischen Gewalt, die ihn von Anfang an versucht hatte. Nun endlich ist die Zeit des Heiligen Krieges angebrochen. Alle vier Evangelien berichten, wie Petrus in Notwehr das Schwert gebraucht. Alle außer Markus legen die Interpretation nahe, die Episode sei Symbol eines tieferen Konfliktes. Nach Johannes weist Jesus Petrus mit den Worten seines Gebetes zurück: „Soll ich den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, nicht trinken?“
Die Matthäusinterpretation der Schwertepisode erörtert ausführlicher, was Jesus hätte tun können. „Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte, und er würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel zur Seite stellen? Wie sollen dann die Schriften erfüllt werden, dass es so kommen muss?“ (Mt 26,53f). Die Anrufung des Vaters und die Vorstellung von der Erfüllung der Verheißung stellen die Schwertepisode wiederum in den Kontext der Gebetsworte. Ich kann mir kaum vorstellen, wie zwölf Legionen Engel – eine römische Legion soll 6000 Soldaten gehabt haben – sich in diesem Garten ausgenommen hätten. Doch es geht wohl nicht darum, was ich mir vorstellen kann. Der Matthäusbericht ist klar und deutlich. Und Matthäus konnte sich vorstellen, dass gerade bei diesem letzten Zusammentreffen mit Judas und der jüdischen und vielleicht auch römischen Polizei der Augenblick gekommen war, in dem Gott den apokalyptischen Heiligen Krieg entfesseln würde, wo dann die wunderbare Macht der himmlischen Herrscharen, die Jünger Jesu als Stoßtruppen und die Jerusalemer Massen mit ihrem lange brodelnden Unmut aufstünden, um in einer mächtigen Woge heiliger Gewalt endlich die Heiden aus dem Land zu vertreiben und Gottes Volk (wie von Sacharja vorausgesagt) die Möglichkeit zurückzugeben, JHWH in Freiheit und ohne Furcht zu dienen.87
Lukas kommentiert das Schwert des Petrus nicht nach dem Ereignis, sondern vorher, in der kryptischen Anweisung an die Jünger, Waffen zu tragen, um die Schrift zu erfüllen, nach der der Leidende Gottesknecht unter die Missetäter gezählt würde. Matthäus projiziert die Vision einer apokalyptischen Schlacht. Lukas verzeichnet nüchtern die formale Schuld des versuchten bewaffneten Aufruhrs, die Jesus durch das Auffinden der Waffen und die Verteidigung Petri angelastet wurde.
Dies ist die dritte Chance. Wie der Versucher vorgeschlagen hatte, hätte Jesus nach der Speisung der Menge die königliche Herrschaft per Akklamation erhalten können. Die zweite Chance für einen Staatsstreich hatte er beim Einzug in den Tempel, die jubelnde Menge im Rücken, die Tempelwache durch den Lärm verwirrt und die römische Garde durch die moralische Autorität Jesu verunsichert. Beide Male hat Jesus der Herausforderung, die Macht an sich zu reißen, widerstanden.
Das ist nun die letzte Möglichkeit. Wie Satan in der Wüste dreimal erschienen war, so erscheint die reale Möglichkeit zelotischen Königtums nun zum dritten Mal im öffentlichen Wirken. Nicht ohne theologische und literarische Berechtigung hat man auf Parallelen zwischen der Versuchung in der Wüste und der Prüfung in Gethsemane hingewiesen.88 Wiederum, nun zum letzten Mal winkt die Möglichkeit des Kreuzzuges. Wiederum sieht Jesus diese Möglichkeit als reale Versuchung.89 Wiederum weist er sie zurück.
Hinrichtung und Erhöhung: Lukas 23–24
Wie Lukas den Abschnitt vom Abendmahl bis zu Gethsemane durch Anspielungen auf das Dienen und das Schwert unterstrichen hat, so interpretiert er nun den Weg vom Hof des Pilatus nach Golgatha in einer Sprache, die an den triumphalen Einzug erinnert. Eine große klagende Menge folgt Jesus; er warnt sie vor dem noch ausstehenden Unheil.90
Während Markus nur den Namen Barabbas und Matthäus einfach „einen berüchtigten Gefangenen“ erwähnt, sagt uns Lukas zweimal, dass er wegen Aufruhrs gefangen gehalten wurde, und betont die tragische Ironie des Handels: „Er ließ aber den wegen Aufruhrs und Totschlags ins Gefängnis Gesetzten frei, den sie begehrten; Jesus dagegen gab er ihrem Willen preis.“91 Die Geschichte endet mit der Inschrift am Kreuz und der Lästerung der Soldaten. Sie zielen auf sein Königtum und darauf, dass er sich nicht selbst rettet. Jesus wurde somit gegen einen Zelotenführer eingetauscht und als „König der Juden“ zu Tode gebracht.
Das ist wiederum einer der Punkte, wo die spiritualistisch-apologetische Exegese immer betont hat, die Juden oder die Römer oder die zelotisch gesinnten Bürger hätten Jesus alle falsch verstanden; in Wahrheit habe er die etablierte Ordnung nie behelligen wollen. Deshalb muss die Illegalität des Vorgehens gegen ihn und die Unrichtigkeit der Beschuldigung demonstriert werden. Selbst dann aber müsste erklärt werden, warum ein Jesus, dessen Hauptanliegen es war, apolitisch zu sein, gerade in dieser Weise missverstanden worden ist, statt auf irgendeine andere Weise, und warum er nicht jedermann vor einer so radikalen Fehlauffassung seiner Absichten bewahrt hat. Auch wenn man zugesteht: die Verhandlungen, wie sie berichtet werden, waren nicht den Regeln entsprechend, und ein normaler Prozess nach jüdischem oder römischen Recht hätte Jesus mangels bewaffneter aufrührerischer Aktionen freigesprochen, so waren doch die Ereignisse im Tempelhof und die von Jesus gebrauchte Sprache nicht darauf berechnet, jeden Anschein umstürzlerischer Pläne zu vermeiden. Jüdische und römische Autoritäten verteidigten sich gegen tatsächliche Bedrohungen. Dass die Bedrohung nicht von bewaffneter, gewalttätiger Revolte ausging und dass sie die Machthaber nichtsdestoweniger so in Verlegenheit brachte, dass sie zu illegalen Vorgehensweisen Zuflucht nehmen mussten, ist ein Beweis der politischen Relevanz gewaltfreier Taktik und kein Beweis, dass Pilatus und Kaiphas besonders dumme oder ehrlose Männer waren.
Es bringt in diesem Zusammenhang keinen Nutzen, uns mit den alten, doch stets wiederkehrenden Diskussionen über die Rechtmäßigkeit der Verurteilung und Hinrichtung Jesu durch die Römer oder die Juden zu beschäftigen.92 Noch brauchen wir die unablässigen Anstrengungen zu katalogisieren, durch die Kombination literar-, redaktions- und überlieferungskritischer Techniken ein ganz neues Bild der „tatsächlichen Ereignisse“ zu rekonstruieren, das viel vollständiger, sicherer und den Juden, den Römern, Jesus (oder den Evangelisten) gegenüber weniger schmeichelhaft ist als die kanonischen Berichte.93 Es ist vielleicht bezeichnend – aber selbst der Versuch, soviel nachzuweisen, würde uns ablenken –, dass jeder Versuch hypothetischer Rekonstruktion dahin tendiert, die ökonomisch-politische Bedrohung der Römer durch Jesus ernster zu nehmen, als es die traditionelle kirchliche Interpretation tut.94 Für unser Anliegen genügt die Kreuzesinschrift als Beweis. Ob die juristische Prozedur in Ordnung war oder nicht, ob die jüdischen Institutionen Teilverantwortung trugen, unsere These braucht zur Bekräftigung nur, dass Jesu öffentliche Karriere die Vermutung rechtfertigt, er habe für das römische Reich eine so offensichtliche und ernsthafte Bedrohung dargestellt, dass dies seine Hinrichtung rechtfertigte.95
„Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen sollte“ (24,21) ist nicht nur ein weiteres Zeugnis der misslungenen Versuche der Jünger, Jesus zu verstehen; es ist auch ein Augenzeugenbericht, wie Jesus gehört wurde. Jesus tadelte das „blinde“ Paar auf dem Weg nach Emmaus nicht deswegen, weil sie auf der Suche nach einem Königreich gewesen waren. Ihr Fehler war, dass sie genau wie Petrus in Caesarea Philippi nicht begriffen, dass das Leiden des Messias die Einsetzung des Königreiches ist. „Musste nicht der Christus dies leiden und (dann) in seine Herrlichkeit eingehen?“ „Herrlichkeit“ kann hier nicht Himmelfahrt bedeuten, sie ist noch nicht berichtet, und eigentlich wird sie im Lukasevangelium auch nicht deutlich beschrieben. Könnte das dann nicht (wie das Konzept der „exaltation“ (Erhöhung) im Johannesevangelium) bedeuten, dass das Kreuz selbst als Erfüllung der Königreichverheißung gesehen wird? Hier am Kreuz ist der Mann, der seine Feinde liebte, der Mann, dessen Gerechtigkeit größer war als die der Pharisäer, der reich war und arm wurde, der seinen Rock denen gab, die seinen Mantel nahmen, der betet für die, die ihn verspotten. Das Kreuz ist nicht ein Umweg oder eine Hürde auf dem Weg zum Königreich, noch ist es der Weg zum Königreich; es ist das gekommene Königreich.
Unsere Darstellung hat größere Lücken; durchgehende Gründlichkeit hätte hier nur den bereits entstandenen Eindruck verstärkt. Wir haben die Verkündigung kommentiert, sind aber schnell über die Geburtserzählungen hinweggegangen (die Bedeutsamkeit der kaiserlichen Volkszählung, Bethlehem als Stadt des Königs, der Ruf der Engel: „Frieden auf Erden“; vgl. bei Matthäus die Weisen und den Kindermord). Wir haben das Lied des Zacharias zur Geburt des Johannes und die Predigt des Johannes betrachtet, aber nur einen Abschnitt seiner Laufbahn und seinem Schicksal gewidmet. Wir haben spezifisch ethische Passagen wie Kapitel 6 oder die dichten „Nachfolge“-Texte von 9,57–62 nicht eingehend interpretiert.96 Wir haben dem Komplex wahrscheinlich politisch ausgerichteter Erzählungen in Kapitel 13 nicht nachgespürt (das Massaker des Pilatus an den Galiläern, der Turm von Siloah, der unfruchtbare Feigenbaum); noch haben wir die ausgedehnte Diskussion um das Steuergeld verfolgt (Kap. 20). Wir haben die Fälle, in denen Jesus angegangen wurde, die Richterrolle zu übernehmen (Lk 13,13f; Joh 8,1ff),97 nicht untersucht.
Auch ohne die Unterstützung, die eine sorgfältige Analyse dieses Materials erbracht hätte, können wir unsere zu Anfang gestellte Frage bereits deutlich beantworten.98 Jesus war nicht einfach ein Moralist, dessen Lehren zufällig auch einige politische Implikationen enthielten. Er war nicht in erster Linie ein Lehrer von Spiritualität, dessen öffentliches Wirken unglücklicherweise in einem politischen Licht gesehen wurde. Er war nicht nur ein Opferlamm, das sich auf seine Opferung vorbereitete, oder ein Gottmensch, dessen göttlicher Status uns veranlasst, sein Menschsein außer Betracht zu lassen. Jesus war, in seiner von Gott beauftragten (d. h. verheißenen, angekündigten, messianischen) Prophetenschaft, Priesterschaft und Königsherrschaft, der Träger einer neuen Möglichkeit menschlicher, sozialer und daher politischer Beziehungen. Seine Taufe ist die Einsetzung und sein Kreuz der Höhepunkt dieses neuen Regimes; die Jünger sind aufgerufen, daran teilzunehmen. Die Menschen mögen dieses Königreich als irreal, irrelevant, unmöglich oder nicht einladend abschreiben, doch zu dieser Einschätzung können wir nicht länger im Namen der systematischen Theologie oder ehrlicher Hermeneutik kommen. An diesem einen Punkt gibt es keinen Unterschied zwischen dem Jesus der Historie und dem Christus der Geschichte, zwischen Jesus Gott und Jesus Mensch, zwischen der Religion Jesu und der Religion über Jesus (oder zwischen dem kanonischen Jesus und dem historischen Jesus). Keine derartige Zerstückelung kann seinen Ruf zu einer Ethik, die durch das Kreuz gekennzeichnet ist, verhindern; ein Kreuz, in dem die Bestrafung eines Mannes erkannt wird, der die Gesellschaft durch die Gründung einer neuen Gemeinschaft radikal neuen Lebens bedroht.
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