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Als sie in Hörweite waren und man am Horizont schon das Blau des Meeres ausmachen konnte, ließ der König sein Heer anhalten. Für einen kurzen Moment stieg erneut die alte Hilflosigkeit in ihm hoch, als ihm sein riesiges Heer bewusst wurde, das vor so einer kleinen Schar Menschen stand und doch völlig machtlos war. Schnell verdrängte er diese Gedanken und schloss seine Hand um den Elfenstein, den er in einem Lederbeutel um seinen Hals trug. Dies war die Stunde der Rache! Ich gebe dir noch eine letzte Chance! Die Stimme Argarons schallte laut zu ihnen herüber. Ergib dich oder ich werde dich und dein lächerliches Völkchen dem Erdboden gleichmachen!
Sehr ritterlich von dir, schrie der König ironisch zurück. Er holte den Elfenstein hervor und hielt ihn hoch über seinen Kopf, sodass er im Sonnenlicht glitzerte. Doch ich werde dir diese Chance nicht gewähren. Damit entließ er die Magie des Elfensteins, die sich über Jahrtausende angesammelt hatte, und sandte sie auf Argaron und seine Magier. Ein gewaltiger Lichtblitz war zu sehen und ein überraschter Aufschrei ging durch das geblendete Heer der Elfen. Instinktiv hatten sie sich geduckt. Als der Lichtblitz erloschen war, richteten sie sich benommen wieder auf und sahen verständnislos um sich. Dort, wo eben noch ihre Gegner gestanden hatten, war nur noch kahler schwarzer Erdboden zu sehen. Ungläubige Erleichterung breitete sich auf den Gesichtern der Elfen aus, doch auch die Verwirrung war ihnen anzusehen.
Ihr König blickte auf den blauen Stein in seiner Hand. Das Licht, das von ihm ausgegangen war, war nun verloschen. Seine Magie war aufgebraucht, doch würde sie sich im Laufe der Jahre wieder aufladen. Er hielt ihn hoch über seinen Kopf und blickte seinem Heer entgegen, während er rief: Elfen, seht mich an! Der Feind ist besiegt! Hier in meiner Hand halte ich den Elfenstein, dessen Magie das Volk der Elfen vor dem Untergang bewahrt hat. So wie es seit dem Anbeginn der Zeit vorherbestimmt war! Jubel schwoll an und wollte gar nicht wieder verstummen. Nie hatten sich die Elfen so verbunden mit ihrem König gefühlt – doch ein König war bisher auch noch nie so gebraucht worden. Doch dieses glückliche Gefühl der Verbundenheit sollte nicht lange andauern ...
Erst später, als sich die Elfen schon auf den Heimweg machen wollten, wurde ihnen bewusst, was geschehen war: Nicht nur an der Stelle, an der die Magier gestanden hatten, war das Gras versengt worden. Überall um sie herum war nur noch kahler, harter Boden zu sehen! Allein da, wo das Heer gewesen war, stand noch etwas zertrampeltes Gras. Genau so schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Freude wieder und Schrecken breitete sich unter den Elfen aus. Sie marschierten noch bis weit in die Nacht hinein, doch die Sicht änderte sich nicht. Von Horizont zu Horizont erstreckte sich nur noch verbrannte, schwarze Erde. Auch, als sie schon längst die ersten vereinzelten Elfenhütten hätten erreichen müssten, blieb die Umgebung kahl und trostlos.
Verwirrt und verängstigt errichteten die Elfen schließlich ein Lager für die Nacht und fielen fast augenblicklich in einen erschöpften Schlaf. Nur der König, der die Nacht in einem Zelt verbrachte, kämpfte gegen die Müdigkeit an. Er nahm die düstere Stimmung seines Volkes in der nächtlichen Stille besonders wahr, hatte er sich doch schon auf eine glorreiche Siegesfeier gefreut. Zweifel und Gewissensbisse nagten an ihm. Was hatte er falsch gemacht? Hatte er die Macht des Elfensteins nicht gezielt genug auf die Magier geschickt? Aber warum waren die Elfen verschont worden? Sollte er sie am Ende vor dem Feind beschützt haben, um ihnen im Gegenzug die Heimat zu rauben? Der König erinnerte sich, dass auch einige Elfen unter seinem Heer waren, die behaupteten, der Magie mächtig zu sein. Er schickte einen Boten durch das Lager, der ihm einen solchen Elf bringen sollte. Dieser kam nach einiger Zeit wieder, gefolgt von einer jungen Elfe, die sich verneigte und als Erilla vorstellte.
Noch ehe der König eine der vielen Fragen, die ihm im Kopf herumgeisterten, ausgesprochen hatte, sagte sie: Mein König, verzeiht mir, aber was Ihr getan habt, war unüberlegt. Ihr hättet vorher mit einem Elfen, der der Magie kundig ist, über Euer Vorhaben sprechen müssen. Was erlaubte sie sich? Der König wollte sie zornig auf eine demütigere Wortwahl hinweisen, doch als er in ihre klugen, dunklen Augen blickte, fühlte er sich nur noch schäbig und schuldig. Er schluckte die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, hinunter und schwieg.
Die Elfe fuhr ungerührt fort: Bei jedem anderen Gegner wäre es eine gute Entscheidung gewesen, den Elfenstein zu gebrauchen, und ihr habt seine Magie auch tatsächlich richtig gesteuert, doch konntet ihr die Folgen nicht vorhersehen. Ich selbst habe den ganzen Tag darüber gegrübelt. Zuerst glaubte ich, dass einfach eine zu gewaltige Menge an Magie sich in dem Stein angesammelt hätte und diese, als sie freigesetzt wurde, alles Leben zerstörte. Doch das ergibt aus zweierlei Gründen keinen Sinn: Zum einen speicherte der Elfenstein nur gute Magie – Elfenmagie – und hätte nie unser Land zerstört. Und zweitens: Warum verschonte die Magie dann uns Elfen? Nein, es muss einen anderen Grund geben, und ich meine, ihn gefunden zu haben.
Der König hielt dem eindringlichen Blick der Elfe tapfer stand, während sie erklärte: Als die Magie des Elfensteins Argaron und seine Anhänger zerstörte, wurde mit ihrem Tod ihre gesamte Schwarze Magie freigesetzt und in die Umgebung geschleudert. Der Elfenstein muss selbstständig einen Teil seiner übrigen Energie darauf gewandt haben, uns zu beschützen. So zerstörte die Schwarze Magie der fremden Magier alles um uns her und nur wir konnten überleben. Wir sind die letzten Überlebenden Romaniens.
Später bestätigten viele andere Elfenmagier Erillas Worte. Nur am Schluss hatte sie sich geirrt: Die Magie der Magier war nicht bis in die Wälder gedrungen, außerdem hatte sie die Berge nicht erklimmen können und auch im Westen Romaniens war noch Graslandschaft geblieben: das heutige Reich der Elfen. Die frühere Heimat der Elfen jedoch war vollständig zerstört worden und eine Zeit lang dachten die wenigen Hundert überlebenden Elfen tatsächlich, sie wären die letzten lebenden Wesen in Romanien, und verfielen in eine tiefe Depression. Ihr König beging noch in der Nacht nach seinem folgenschweren Sieg Selbstmord und viele andere folgten ihm – bis ein junger Elf mit dem Namen Koras als neuer König gekrönt wurde und wieder Ordnung in die Reihen der Elfen brachte. Er machte ihnen wieder Mut und Hoffnung und schickte Boten in alle Himmelsrichtungen aus, um festzustellen, wie viel Land tatsächlich zerstört worden war. Eine kluge Entscheidung, denn es brachten doch die meisten gute Nachrichten vom Überleben der Wälder und all ihren Bewohnern mit. Allerdings kamen nicht alle mit frohen Botschaften wieder. Fast wären die Elfen erneut in Unmut und Verzweiflung verfallen, als sie erkennen mussten, dass ihre Brüder und Schwestern, die Drachen, verschwunden waren und nicht einmal ein Häufchen Asche von ihnen zurückgeblieben war. Sie waren alle gestorben.
Alle, bis auf einen: Luramos, der letzte Drache. Ein schwer verletzter Bote kam nur wenige Tage, nachdem er und sechs andere nach Norden aufgebrochen waren, mit letzten Kräften in das Lager des Königs getaumelt und redete wirres Zeug von einem riesenhaften Drachen, der alle seine Gefährten gefressen und attackiert hatte. Wohl nur, um ihm einen langsamen Tod sterben zu lassen, hatte er ihn verschont, behauptete der Elf, bevor er starb.
Viele wollten seine Worte als Unsinn abtun – noch nie hatte sich ein Drache so verhalten und überhaupt: Warum sollte einer überlebt haben, während alle anderen gestorben waren? Doch Koras, der sich trotz seiner jungen Jahre bereits als weiser und überlegter Herrscher erwiesen hatte, schenkte dem Elfen Glauben und verbreitete die Nachricht, dass sich wahrscheinlich ein wilder und gefährlicher Drache herumtrieb, um die Elfen wenigstens zu warnen.
Wenige Tage später wurde es zur Gewissheit: Ein gewaltiger glutroter Drache, der selbst unter seinesgleichen ein Riese war, tötete mehrere Elfen und warf ihre leblosen Körper durch die Luft, nur um sie später an Ort und Stelle liegen zu lassen. Und er wurde immer angriffslustiger. Bald schon ließen sich seine Opfer nicht mehr zählen und die Elfen gerieten in heillose Panik. Keiner konnte sich das Verhalten des Drachen erklären. Hatte die Schwarze Magie der Magier ihn wegen seiner gewaltigen Größe vielleicht nicht töten können, ihm dafür aber den Verstand geraubt? Oder war er von dem plötzlichen Verschwinden seiner Artgenossen einfach so verwirrt, dass er auf alles losging, das ihm in die Quere kam? Gab er den Elfen vielleicht sogar die Schuld daran?
Wieder war es Koras, der die Elfen vor ihrem Untergang bewahrte. Er erkannte, dass sie, geschwächt wie sie waren, nicht erneut gegen einen solch mächtigen Gegner antreten konnten. Und der Elfenstein hatte in der kurzen Zeit noch nicht genug Magie aufladen können, um den Drachen unschädlich machen zu können. Der junge König tat das, wofür sein Vorgänger zu stolz gewesen war: Er bat die Menschen und die Baumlinge um Hilfe. Es war das erste Mal, dass sich die drei Völker Romaniens vereinten. Zwar hatten sie bisher keine Kriege untereinander geführt, aber es war stets so gewesen, als hätten sie sich gegenseitig einfach nicht wahrgenommen. Wie Nachbarn, die man nicht besonders mag, die man aber akzeptiert und in Ruhe lässt.
Koras schickte Boten zu diesen Nachbarn aus und sie kamen tatsächlich mit so vielen Vertretern, wie sie aufbieten konnten. Es gab eine kurze Versammlung, in der Koras eine bewegende Rede darüber hielt, dass sich die Völker vereinen müssten und nie mehr verlieren dürften und dass sie zusammen diesen letzten großen Feind besiegen würden. Die Elfen bewiesen wahre Größe: Sie hatten beschlossen, den Drachen nicht etwa niederzumetzeln, sondern – mit der wenigen Kraft, die der Elfenstein inzwischen wieder besaß – mit einem Schlafzauber zu belegen. Sie brachten es nicht übers Herz, den letzten ihrer Brüder auch noch umzubringen, und wenn er noch so schrecklich unter ihnen gewütet hatte.
Am Ende eines verlustreichen, aber taktisch klug geführten Kampfes gelang es den Elfen, Menschen und Baumlingen tatsächlich den Drachen in eine Höhle zu treiben und einzuschläfern. Koras selbst soll es gewesen sein, der dem Drachen todesmutig auf den Rücken kletterte, ihm den Elfenstein an die Schläfe hielt und die magischen Worte sprach. Daraufhin hielt der Drache inne, blinzelte ein paar Mal, als wüsste er nicht mehr, wie er hergekommen war und was er eigentlich hier wollte, und fiel schließlich einfach um. Noch einmal zuckten seine Lefzen, als sich Koras unter seinem Hals hervorkämpfte, dann erschlafften seine Muskeln und er regte sich nicht mehr.
Ein paar Herzschläge lang war es totenstill in der Höhle. Dann brachen die Kämpfenden in lautes Jubelgeschrei aus. Es wurde gelacht, gesungen und sogar getanzt vor Freude über den so plötzlichen und unerwarteten Sieg. Koras wurde als Held gefeiert, die Verletzten wurden versorgt und einige der Überlebenden schritten vorsichtig an den schlafenden Drachen heran. Sie hatten Angst, er könnte auf einmal aufspringen und sich auf sie stürzten. Da legten sie ehrfürchtig eine Hand an seine blutroten Schuppen.
Liebevoll nannten die Elfen ihn Luramos – das elfische Wort für Der letzte Drache – und prophezeiten, dass er dreihundert Jahre lang schlafen würde.“
Als Morganas Stimme verstummte, fühlte sich Ralea, als würde sie aus einem Traum erwachen. Eben noch hatte sie mit Koras und seinen Kriegern in der Höhle neben dem schlafenden Drachen gefeiert, nun stand sie wieder auf dem überfüllten Marktplatz ihres Dorfes. Lora, die sich blinzelnd umsah, und auch den anderen Menschen um sie her schien es nicht anders zu ergehen. Ralea sah hoch zu der Bühne, auf der Morgana noch immer auf ihrem Stuhl saß, die Hände um den Gehstock in ihren Schoß gelegt und den Blick selbstbewusst auf die Menschen vor sich gerichtet. Noch einmal hob sie zu sprechen an: „Noch in derselben Nacht wurde ein Bündnis zwischen den drei Völkern geschlossen und der Elfenstein wurde in zwei Hälften geteilt. Alle dreihundert Jahre sollte ein wackerer Krieger eines der drei Völker mit einem Teil des Elfensteins losziehen, um Luramos, den letzten Drachen, erneut zu verzaubern und dreihundert weitere Jahre schlafen zu lassen, während die andere Hälfte im Besitz des Elfenkönigs blieb.“
Morgana machte eine kurze Pause.
„Nun ist das Ende dieser dreihundert Jahre nah. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Luramos erwacht. Die Menschen sind das erste Volk, dem die Ehre zuteilwird, einen Krieger auszuwählen und auf die Reise zu schicken. All die Jahre lang wurde die eine Hälfte des Elfensteins in unserem Dorf aufbewahrt ...“
Ein Raunen ging durch die Menge: Davon hatte niemand etwas gewusst. Ralea und Lora sahen sich überrascht an. Die ganze Zeit war der legendäre Elfenstein so nah gewesen und sie hatten nichts davon geahnt!
Morgana musste ihre Stimme erheben, um das allgemeine Murmeln zu übertönen, doch es wurde schnell wieder ruhig, als sie fortfuhr: „... um nun den ersten Menschen zu erwählen, der losziehen wird, um Luramos zu verzaubern. Ich sehe viele Menschen vor mir stehen, die sich gerne diesen Titel erwerben würden: Alte und Junge, Männer und Frauen. Ich bewundere euren Mut, doch bin ich mir nicht sicher, ob euch allen klar ist, was ihr zu erwarten habt, falls die Wahl des Elfensteins auf euch fällt. Lasst euch einen gut gemeinten Rat von mir mitgeben und überdenkt eure Entscheidung noch einmal. Wenn die Wahl einmal getroffen wurde, gibt es kein Zurück mehr, doch noch könnt ihr es euch anders überlegen. Niemand wird euch deswegen einen Feigling schimpfen. Die Reise, die ihr antreten werdet, ist lang und beschwerlich. Der erste Teil ist zwar noch vergleichsweise einfach – ihr werdet die Wälder durchwandern und den Fluss überqueren müssen – doch niemand kann genau sagen, was euch auf dem langen Weg durch die Drachentod-Wüste erwarten wird. Auf jeden Fall aber wird der Durst euer ständiger Begleiter sein. Nur wenn ihr euch wirklich zutraut, alle Strapazen auszuhalten und eure Mission zu einem erfolgreichen Ende zu bringen, solltet ihr hier vorne stehen bleiben.“ Morgana sah jedem Einzelnen, der hinter der Absperrung aus Stroh stand, für einen Moment tief in die Augen und einige schienen wirklich verunsichert zu sein. Doch keiner machte Anstalten über die Mauer zu klettern oder sich umzuentscheiden. Die Geschichtenerzählerin nickte bedächtig und drehte sich zu der Treppe um, die auf das Holzpodium führte. Dort stand ein kleiner Junge, der ein reich verziertes Holzkästchen in Händen trug und den Ralea vorher gar nicht wahrgenommen hatte.
Die Geste Morganas schien sein Stichwort zu sein, denn nun stieg er hastig die Stufen hinauf. Der Dorfoberste erhob sich von seinem Stuhl in der Reihe hinten auf der Bühne und nahm das Kästchen entgegen. Dann stellte er sich neben Morgana, während der kleine Junge sich beeilte, wieder die Treppe herunterzulaufen. Langsam und bedächtig holte der Dorfoberste einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und suchte sich gezielt einen kleinen goldenen Schlüssel heraus, mit dem er nun – sich den gespannten Blicken, die auf ihm ruhten nur allzu bewusst – begann das Kästchen aufzuschließen.
Ralea meinte sogar, ein leises Klicken hören zu können, als das Schloss aufsprang. Erst jetzt merkte sie, dass sie vor Aufregung die Luft angehalten hatte.
Der Dorfoberste aber schien keine Eile zu verspüren. Erst steckte er gemütlich den dicken Schlüsselbund ein, bevor er eine seiner speckigen Hände an den Deckel des Kästchens legte und mit übertrieben feierlicher Stimme rief: „Elfenstein, erwähle den Menschen, der dir würdig erscheint, dich durch Romanien zu tragen, alle Hindernisse zu überwinden, alle Aufgaben zu bestehen und uns weitere dreihundert Jahre vor Luramos zu schützen!“ Dann öffnete er schwungvoll den Deckel des Kästchens.
Aus seinem Inneren strömte blaues Licht, welches das Doppelkinn des überraschten Dorfobersten von unten erleuchtete. Ein Raunen ging durch die Menschenmenge. Lora griff nach Raleas Hand, ohne den Blick von dem Gesicht des Dorfobersten zu nehmen. Die Spannung in der Luft war zum Greifen und alle warteten gespannt darauf, was als Nächstes passieren würde.
Doch es passierte ... nichts.
Der Dorfoberste schaute wie gebannt in das offene Kästchen und die Menschenmenge vor ihm wiederum starrte ihn an, brennend darauf, selbst zu sehen, von was dieses merkwürdige blaue Licht ausging. Allein Morgana schien sich diesem Zauber entziehen zu können. Sie saß unverändert auf ihrem Stuhl und schaute teilnahmslos geradeaus.
Langsam wurden die Menschen unruhig. Auch der Dorfoberste schien das zu merken. Er schaute nun auf und blinzelte mehrmals, als hätte er zu lange in die Sonne gesehen. Er stand reichlich blöd da nach seiner dramatischen Ankündigung von vorhin, fand Ralea. Auch das schien ihm bewusst zu werden. Gerade wollte er den Mund aufmachen und etwas sagen, da wurde das Licht plötzlich intensiver. Auf einmal ertönten mehrere spitze Aufschreie, dann riefen alle durcheinander.
Es brauchte einen Moment, bis auch Ralea den Grund für die allgemeine Aufregung erkannt hatte: Das Licht war nicht intensiver geworden, sondern es schwebte aus dem Kästchen heraus! Ralea traute ihren Augen nicht. Sie war so perplex, dass sie sich nicht rühren konnte und wie gebannt auf den faustgroßen Gegenstand starrte, der langsam aus dem Kästchen stieg und über dem Kopf des verblüfften Dorfobersten in der Luft verharrte. Der Lärm brach so schnell ab, wie er aufgebrandet war. Die Menschen verstummten und wagten nicht mehr, sich zu bewegen.
„Das ist er“, dachte Ralea ehrfurchtsvoll. „Der Elfenstein!“ Wie von unsichtbaren Händen getragen setzte er sich wieder in Bewegung, flog erst ein paar Meter geradeaus auf das staunende Publikum zu und sank dann langsam wieder hinab, bis es auf Augenhöhe mit den Freiwilligen direkt vor dem Podium war. Leider konnte Ralea nur ihre Hinterköpfe sehen, als der Elfenstein langsam begann, die Reihen entlangzuschweben, doch war sie sich sicher, dass ihre Augen eben so geweitet waren wie ihre eigenen und ihre Münder sperrangelweit offen standen. Langsam schwebte der Elfenstein an jedem einzelnen Gesicht entlang. Als er vor Loras Bruder Limon vorbeiflog, drückte die Freundin Raleas Hand vor Aufregung besonders fest, doch noch immer machte der Elfenstein nicht halt. Schließlich näherte er sich dem letzten Freiwilligen, einem jungen Mann namens Bramon, den Ralea schon öfter in ihrem Dorf gesehen hatte und der siegessicher das Kinn reckte.
Endlich verharrte der blaue Lichtball. Er war nun so nah, dass Ralea sogar eine feine Silberkette ausmachen konnte, die von ihm herabbaumelte. Vorsichtig streckte Bramon seine rechte Hand aus, doch gerade, als er nach dem Stein greifen wollte, setzte sich dieser ruckartig wieder in Bewegung und flog einfach über Bramon und die Mauer aus Strohballen hinter ihm hinweg – mitten in die wartende Menge hinein. Wieder erklangen ein paar erschrockene Schreie, jemand rempelte Ralea an, sodass sie stolperte und den Stein aus den Augen verlor. Als sie sich wieder aufrichtete und hektisch um sich blickte, sahen alle Leute gebannt in eine Richtung links hinter ihr.
„Da vorne ist er!“, flüsterte Lora. Ralea folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger und meinte, einen bläulichen Schimmer ausmachen zu können, der sich langsam einen Weg durch die Menschen bahnte. Überall, wo er lang flog, sprangen die Menschen schnell zur Seite – und oft ihrem Hintermann auf die Füße –, sodass der Stein sich mühelos eine Schneise bahnen konnte.
„Oh mein Gott!“, keuchte Lora. „Er kommt auf uns zu!“
Ralea schluckte trocken. Sie wusste auch nicht, warum ihr vor Angst kalter Schweiß ausbrach und ihr Herz von innen gegen ihren Brustkorb zu hämmern begann. Bisher hatte der Stein doch keinem etwas getan und er hatte ja auch keinen Grund dazu, aber trotzdem verlief die Aktion ganz offensichtlich nicht so wie geplant. Warum hatte er sich keinen von den Freiwilligen ausgesucht? Sie machte sich bereit, genauso zur Seite zu springen, wie die anderen es zuvor getan hatten, falls er tatsächlich an ihr vorbeischweben sollte. Ohne zu blinzeln, verfolgte Ralea mit den Augen das blaue Licht, das immer heller zu strahlen schien.
Lora hatte recht: Es kam tatsächlich immer näher. Und dann war er plötzlich da. Zwei Leute, die eben noch vor Ralea gestanden hatten, sprangen zur Seite und zwischen ihren Schultern flog er hervor – majestätisch, unheimlich, zielstrebig. Wie in Trance nahm Ralea das blaue Licht wahr, das über sie schwappte wie warmes Wasser, die Leute, die vor dem Stein zurückwichen, Lora, die ihre schweißnasse Hand losließ und irgendetwas rief. Doch Ralea konnte sich nicht bewegen. Konnte nur in dieses Licht starren, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Auf einmal war da keine Angst mehr, sie wurde verdrängt von einem anderen, einem viel stärkeren Gefühl, das ihr sagte, dass das hier richtig war. So als wäre ihr ganzes Leben, alles, was vorher gewesen war, nur ein Vorspiel gewesen, das sie zu genau diesem Moment führen sollte. Sie wusste auf einmal ganz genau, dass der Stein sie gesucht hatte. Er gehörte zu ihr, genau so, wie sie zu ihm gehörte. Das Verlangen, die Hand nach ihm auszustrecken, die Finger um ihn zu schließen und nie mehr loszulassen, wurde übermächtig. Doch wenn sie das tun würde – nein, das konnte nicht sein!
Ralea schüttelte stumm den Kopf und machte einen Schritt nach hinten. Wie von weiter Ferne drang Loras Stimme an ihr Ohr: „Ralea!“ Mühsam wandte sie den Blick von dem Stein und wurde sich bewusst, dass die Menschen einen Kreis um sie und den Elfenstein gebildet hatten. Alle schauten sie mit großen Augen an und jemand flüsterte: „Er ist stehen geblieben!“
Tatsächlich: Der Stein hing immer noch vor Ralea in der Luft. Warum flog er nicht weiter? Als hätte er Raleas Gedanken gehört, setzte er sich plötzlich wieder in Bewegung – aber nicht von Ralea weg, sondern weiter und weiter auf sie zu! Erschrocken machte das Mädchen noch einen Schritt nach hinten, doch der Elfenstein war schneller. Ehe Ralea sich versah, war er genau vor ihrem Gesicht und sie spürte, wie sich die Silberkette, die an ihm befestigt war, um ihren Hals legte. Als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen verlosch das blaue Licht und der Elfenstein fiel auf ihre Brust herab.
Das war ein Traum! Das musste einfach ein Traum sein! Entsetzt starrte Ralea auf den blauen Stein, der von ihrem Hals hing. Was ging hier vor? Das Flüstern der schockierten Leute drang an ihr Ohr und auch die Rufe von weiter hinten: „Was ist denn da vorne los?!“ Doch Ralea fühlte sich seltsam losgelöst von allem. Vielleicht war das ja wirklich alles nur ein Traum ... Das Letzte, was Ralea sah, war Loras Gesicht. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und die Augen so weit aufgerissen, dass man meinen konnte, sie würden gleich aus den Höhlen treten. Dann umfing Ralea nur noch Schwärze.
„Das ist doch Wahnsinn!“
„Tut mir leid, aber die Wahl des Elfensteins ist unumstößlich ...“
„Sie ist noch ein Kind!“
Ralea schlug die Augen auf. Sie blickte direkt in Loras erleichtertes Gesicht. „Endlich bist du wach!“, rief die Freundin.
„Sie ist aufgewacht?“ Das war die Stimme ihrer Mutter. Schritte waren zu hören und dann erschien ihr Gesicht neben dem von Lora. Sie wirkte völlig aufgelöst, ihre sonst so sorgfältig zusammengebundenen blonden Haare fielen ihr unordentlich ins Gesicht und ihre Wangen waren gerötet. „Oh, Schatz, ich habe mir solche Sorgen gemacht!“, sagte sie und streichelte mit ihren zierlichen Fingern über Raleas Wange.
Ralea blinzelte und setzte sich mühsam gerade auf. „Bin ich etwa in Ohnmacht gefallen?“, murmelte sie. Sie saß auf einer dünnen Strohmatte, die man anscheinend auf den Boden eines Wohnzimmers gelegt hatte. Der Raum war klein und gemütlich, obwohl er spärlich möbliert war. An der gegenüberliegenden Wand stand ein großer Schrank, daneben waren ein offener Kamin und in der Mitte ein Holztisch mit Stühlen, an dem auch der Dorfoberste saß und sie nachdenklich musterte.
Lora kicherte. „Und wie! Richtig elegant bist du zu Boden gesunken. Ein Mann hat dich dann in sein Haus getragen, das an den Markt grenzt.“
Raleas Mutter wandte sich um und rief: „Merdrid! Sie ist aufgewacht!“ Sofort hörte man die stampfenden Schritte von Raleas Vater aus einem Nachbarzimmer und wenig später erschien er selbst in der Tür. Er strahlte über das ganze Gesicht und eilte auf Ralea zu. Er kniete sich vor seine Tochter und schloss sie so fest in seine Arme, dass sie kaum noch Luft bekam. Dann hielt er sie auf Armeslänge von sich weg und betrachtete sie, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen. „Ich bin so stolz auf dich!“, sagte er leise.