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Verblüfft betrachtete Ralea ihrerseits ihren Vater. Sein dichtes braunes Haar, das sie von ihm geerbt hatte, und seine kräftige Statur, die im krassen Gegensatz zu dem zierlichen Körperbau ihrer Mutter stand. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit! Die Gelegenheiten, an denen ihr Vater das schon mal zu ihr gesagt hatte, konnte sie an einer Hand abzählen, aber was hatte sie denn nun schon getan, worauf man hätte stolz sein können?
Hinter ihrem Vater betraten zwei weitere Personen den Raum. Ein Mann, von dem Ralea vermutete, dass ihm das Haus gehörte, dicht gefolgt von Morgana. Die alte Frau stützte sich schwer auf ihren Gehstock, doch ihre wachen Augen musterten Ralea eingehend. „Wie fühlst du dich?“, fragte sie.
Ralea blieb ihr die Antwort schuldig. In dem Moment wurde ein Stuhl quietschend über den Holzfußboden geschoben, dann erschien das fleischige Gesicht des Dorfobersten in ihrem Sichtfeld. „Hoffentlich wieder gut und ausgeschlafen“, rief er mit seiner unangenehm lauten Stimme. „Du hast schließlich noch eine Mission zu erfüllen!“
Eine Mission? Der Sinn dieses Satzes sickerte nur langsam in Raleas Bewusstsein. Doch dann war sie mit einem Mal hellwach. Wie von selbst griffen ihre Finger nach dem Elfenstein. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie erleichtert oder bestürzt darüber sein sollte, dass er nach wie vor an ihrem Hals hing. Sie streifte sich die Silberkette über den Kopf und betrachtete nachdenklich den blauen Stein in ihrer Hand. Er war glatt und etwa so dick wie ihr Zeigefinger. Man konnte genau erkennen, dass es früher mal eine flache runde Scheibe gewesen sein musste – etwa so groß wie ihre Handfläche. Doch dann war er geteilt worden, als hätte man durch seine Mitte eine Schlangenlinie mit zwei Kurven gemalt, sodass zwei identische Hälften entstanden, von der sie nun eine in der Hand hielt.
Die Gefühle in Ralea schienen einen Kampf miteinander auszufechten. Einerseits wollte sie den Stein am liebsten so weit wie möglich von sich wegschleudern, andererseits fühlte sie sich immer noch so seltsam verbunden mit ihm, dass sie ihn am liebsten nie mehr hergeben würde. Doch sie ahnte, was das bedeuten würde: Sie würde durch Romanien reisen und den Zauber erneuern müssen, der auf Luramos lag. Dieser Gedanke war so absurd, so undenkbar und so Angst einflößend, dass sie sich lieber dafür entschied, nichts mehr mit diesem merkwürdigen Stein zu tun haben zu wollen. Sie hielt ihn dem Dorfobersten entgegen und sagte: „Ich weiß zwar nicht, was das alles hier soll, aber falls es meine Schuld ist und ich die Versammlung gestört habe, so tut es mir leid. Und den hier möchten Sie wahrscheinlich wieder haben.“
Doch der Dorfoberste machte keine Anstalten zuzugreifen. Er schaute sie nur einen Moment an und lachte dann laut auf: „Ihn wieder haben? Himmel, Mädchen, hast du wirklich keine Ahnung oder stellst du dich nur dümmer an, als du bist?“
Ralea senkte den Arm, mit dem sie immer noch den Stein hochgehalten hatte. Doch sie war viel zu aufgewühlt, um beschämt oder gar zornig über die Bemerkung des Dorfobersten zu sein. Tatsächlich stellte sie sich dümmer, als sie war, wurde ihr bewusst. Weil das alles einfach nicht wahr sein konnte. Nicht wahr sein durfte.
„Was soll das heißen?“, krächzte sie. Sie musterte die Gesichter um sich herum: Ihr Vater konnte sich immer noch nicht sein fröhliches Grinsen verkneifen, was sie ziemlich irritierte. Lora musterte sie nachdenklich, ihre Mutter machte ein bekümmertes Gesicht, der Dorfoberste und der stille Eigentümer des Hauses nahmen nun wieder auf den Stühlen in der Mitte des Raumes Platz und Morganas Miene gab wie immer nicht preis, was in ihr vorging.
Schließlich war es ihr Vater, der antwortete. Er umschloss Raleas freie Hand mit seinen großen, schwieligen Händen und sah ihr tief in die Augen, während er mit bewegter Stimme sagte: „Schatz, es ist unglaublich. Deine Mutter und ich konnten es wirklich nicht glauben, bis wir dich hier liegen sahen ... mit dem Stein. Er hat seine Wahl getroffen, Ralea. Du bist die Auserwählte.“ Er hielt kurz inne und schien tatsächlich, mit den Tränen zu kämpfen. „Ich bin ja so stolz auf dich.“
Fassungslos starrte Ralea ihren Vater an. Jetzt war es zur Gewissheit geworden. Die Gedanken rasten in ihrem Kopf, ohne dass sie auch nur einen zu fassen bekam. Ehe sie eine der vielen Fragen, die ihr auf der Zunge lagen, stellen oder besser herausschreien konnte, sagte ihre Mutter: „Natürlich verlangt keiner von dir, dass du diese Mission wirklich antrittst.“ Sie betonte das Wort Mission überdeutlich, um ihr Missfallen klarzumachen, und sah ihren Ehemann vielsagend an. „Nicht wahr, Merdrid?“
Das Lächeln auf dem Gesicht von Raleas Vater verschwand. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ralea mit Freuden ...“
„Merdrid!“, rief Raleas Mutter bestürzt. Der Klang ihrer Stimme ließ alle im Raum zusammenzucken, war sie doch ebenso wie ihre Tochter für ihr ruhiges und besonnenes Wesen bekannt.
„Ich meine doch bloß ... Also natürlich ist es letztendlich immer noch Raleas Entscheidung ...“, erwiderte Merdrid mit schuldbewusster Miene.
„Ihre eigene Entscheidung? Da gibt es nichts mehr zu entscheiden! Der Elfenstein hat entschieden – basta!“, bellte der Dorfoberste von seinem Sitzplatz aus.
Das brachte Raleas Mutter vollends zur Raserei. Sie keifte etwas von wegen unverantwortlich, während Merdrid versuchte sie zu beschwichtigen und es dauerte nicht lange, da redeten alle durcheinander und das Chaos war perfekt. Ralea wäre am liebsten aus dem Raum gestürzt und weggerannt – weit, weit weg – bis dieser ganze Wahnsinn hinter ihr liegen würde und bei ihrer Rückkehr sich alle für diesen schlechten Scherz entschuldigen würden.
Lora suchte Raleas Blick und versuchte sich an einem tröstenden Lächeln, das ihr jedoch ziemlich misslang. Als Ralea schon meinte, die heftig diskutierenden und streitlustigen Stimmen der Erwachsenen nicht mehr ertragen zu können, rief jemand mit schneidender Stimme: „Ruhe!“
Sofort war es mucksmäuschenstill. Erst nach einigen Herzschlägen erkannte Ralea, wer gerufen hatte: Morgana warf tadelnde Blicke in die Runde und sagte bestimmt: „Ihr solltet euch alle schämen für euer Benehmen. Vor allem du!“ Dabei schaute sie den Dorfobersten so zornig an, dass dieser ihrem Blick auswich und auf seine Füße starrte.
„Danke, Morgana. Es wurde wirklich Zeit, dass hier mal jemand ein Machtwort spricht. Wenn du jetzt bitte den Herren der Schöpfung hier klar machen könntest, was für ein Wahnsinn es ist, einem minderjährigen Mädchen solch eine Aufgabe aufbürden zu wollen ...“ Raleas Mutter sah die Geschichtenerzählerin hoffnungsvoll an.
Diese jedoch sah Ralea tief in die Augen. Sie schien ihr geradewegs bis in die Seele blicken zu können, doch Ralea hielt ihrem Blick stand. Schließlich schaute Morgana weg und Ralea meinte, ein kurzes Aufblitzen von Anerkennung in ihrem Gesicht zu sehen. Obwohl sie sich nachher nicht mehr sicher war, ob es wirklich da gewesen war oder ob sie es sich nur eingebildet hatte, fühlte sie sich, als hätte sie eine Prüfung bestanden.
„Nein“, antwortete Morgana endlich und die Hoffnung auf dem Gesicht von Raleas Mutter war wie weggewischt. „Ich werde zuerst mit Ralea sprechen. Und zwar allein.“
Raleas Vater nickte und erhob sich. Ihre Mutter dagegen sah aus, als hätte sie soeben einen Schlag ins Gesicht bekommen. Doch auch sie erhob sich langsam und verließ nach einem letzten besorgten Blick auf ihre Tochter mit den drei Männern den Raum. Lora drückte sanft Raleas Hand, dann aber ließ sie los und folgte den anderen.
Als sich die Tür hinter geschlossen hatte, blieb Ralea unverändert sitzen, starrte vor sich hin und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Morgana ging mit der Langsamkeit alter Menschen auf den Tisch zu – ihre Schritte wurden begleitet von einem leisen Tock, Tock, wenn der hölzerne Gehstock auf den Boden traf. Sie zog sich einen Stuhl neben Raleas Strohmatte und ließ sich darauf nieder. Sorgfältig legte sie den Gehstock neben sich auf den Boden und faltete die knochigen Hände im Schoß. Ralea wusste nachher nicht, wie lange sie einfach nur stumm da gesessen hatten, aber schließlich war sie es, die das Schweigen brach: „Warum ich?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete Morgana ehrlich.
„Ich will das nicht.“ Raleas Stimme war kaum mehr als ein kraftloses Flüstern. „Ist es wahr, was der Dorfoberste sagt? Dass die Entscheidung des Elfensteins unwiderruflich ist?“
Morgana nickte. „Leider ja. Er würde niemand anderem seine Macht zur Verfügung stellen.“
Ralea vergrub das Gesicht in den Händen. Etwas Kaltes berührte ihre Wange. Überrascht schaute sie in ihre rechte Hand. Sie hatte ganz vergessen, dass sie immer noch den Stein festhielt. Auf einmal überkam sie eine ungeheure Wut auf diesen Stein, auf den Dorfobersten und sogar auf Morgana. „Das ist so ungerecht! Ich hab mich doch noch nicht einmal als Freiwillige gemeldet!“ Morgana erwiderte ihren zornigen Blick völlig gelassen, was sie nur noch wütender machte. „Ihr könnt mich nicht dazu zwingen!“, sagte Ralea mit einer Stimme, die selbstbewusster klang, als sie sich fühlte.
„Nein“, antwortete Morgana ruhig. „Das können wir nicht.“
„Nicht?“
„Die Wahl des Elfensteins hat uns alle sehr überrascht. Warum entschied er sich für dich, ein junges und unerfahrenes Mädchen, obwohl doch so viele starke junge Männer zur Verfügung standen? Er muss irgendetwas in dir gesehen haben, das ihn zu dieser Entscheidung trieb. Irgendetwas, das ihm sagte, dass du die Richtige bist. Trotzdem hat deine Mutter recht: Du bist noch ein Kind. Die Entscheidung liegt bei dir. Jeder könnte es verstehen, wenn du nicht gehen würdest. Doch du solltest dir im Klaren darüber sein, was für Konsequenzen das haben würde.“ Morgana machte eine Pause.
Ralea hoffte inständig, sie würde nicht weiterreden, doch die Geschichtenerzählerin fuhr unerbittlich fort: „Früher oder später wäre die letzte Kraft des Zaubers aufgebraucht. Niemand kann auf den Tag genau sagen, wann es dazu kommen wird, doch es kann nicht mehr allzu lange dauern. Luramos wird aufwachen und erneut wird ihn die Wut und die Verzweiflung über das Verschwinden seiner Artgenossen überkommen. Er wird weiter wüten – zuerst wahrscheinlich unter den Elfen, doch dann auch in den Wäldern. Und früher oder später wird er auch uns Menschen erreichen. Niemand kann sagen, ob es uns noch einmal gelingen wird, ihn zu bezwingen. Ich weiß, es klingt grausam, doch es ist die Wahrheit: Das Schicksal Romaniens liegt in deinen Händen, Ralea.“
Ralea starrte Morgana ungläubig an. Ihr Magen verkrampfte sich bei dem letzten Satz der Geschichtenerzählerin: Das Schicksal Romaniens liegt in deinen Händen. Wie konnte sie ihr so eine Verantwortung aufbürden? Kurz darauf überfiel Ralea das Verlangen, laut aufzulachen. Die letzte Entscheidung liegt bei dir, waren nicht so Morganas Worte gewesen? Aber was blieb ihr denn da noch für eine Wahl?
Tatsächlich konnte sie sich ein – fast schon hysterisches – Kichern nicht verkneifen. „Das ist doch verrückt“, gluckste sie. „Das kann nicht dein Ernst sein!“
Morgana runzelte die Stirn und kniff die Augen missbilligend zusammen. „Bisher hatte ich immer eine hohe Meinung von die, Ralea, doch wenn du den Ernst der Lage nicht begreifst, beginne ich an der Entscheidung des Elfensteins zu zweifeln.“
Sofort verstummte Ralea schuldbewusst. Dabei hatte der erste Teil ihres Satzes sie mehr beeindruckt als der zweite. Sie hatte nicht gewusst oder bemerkt, dass Morgana eine hohe Meinung von ihr gehabt hatte.
„Aber was soll ich denn bloß tun?“, flüsterte sie kraftlos. Sie blickte Hilfe suchend zu Morgana auf. Und wieder meinte sie, kurz etwas hinter ihrer undurchdringlichen Fassade aufblitzen zu sehen. Allerdings musste sie es sich diesmal wirklich eingebildet haben. Denn Mitleid war auf Morganas Gesicht einfach fehl am Platze. Und doch – obwohl dieser Augenblick so kurz gewesen war und Morgana ihre Gefühle sofort wieder wie unter einer Maske verbarg – sah Ralea die Geschichtenerzählerin auf einmal mit anderen Augen. Zwar kannte sie ihre Geschichte schon seit Langem, doch hatte sie sich noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht.
Ihr Vater hatte ihr einmal davon erzählt, dass Morgana einst als junge Frau unsterblich verliebt in den Sohn eines Bäckers gewesen war. Bald sollte Ihre Hochzeit gefeiert werden und Morgana hörte vor Glück nicht mehr auf zu lachen und gute Laune zu verbreiten, als ihr Verlobter bei einem Sturm ums Leben kam, weil ihm ein schwerer Ast auf den Kopf gefallen war. Nach diesem Unglück soll Morgana nicht mehr die Gleiche gewesen sein, so hatte Raleas Vater erzählt. Sie bekam noch viele Heiratsanträge, da sie immer noch eine begehrenswerte Frau war, doch sie nahm keinen an. Ralea vermutete insgeheim, dass das die Zeit gewesen war, in der sie ihre Maske erschaffen hatte, die nicht die kleinste Gefühlsregung preisgab. Nur wenn Morgana den kleinen Kindern ihre Geschichten erzählte, lebte sie auf, vergaß ihren ganzen Kummer und ließ ein wenig von der fröhlichen Frau sehen, die sie früher einmal gewesen war.
Morgana schien nichts von Raleas Sinneswandel bemerkt zu haben. Sie sah das Mädchen nachdenklich an und schien nicht recht zu wissen, was sie ihr antworten sollte. Dann legte sie ihr eine knochige Hand auf die Schulter und sagte leise: „Tut mir leid. Aber das ist eine Entscheidung, die du ganz allein treffen musst.“
Ralea nickte stumm, obwohl sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Sie starrte auf den Stein in ihrer Hand, ohne wirklich etwas zu sehen, und bemerkte kaum, wie Morgana sich erhob und den Raum verließ. Gedämpfte Stimmen waren aus dem Nebenraum zu hören. Sie konnte den Dorfobersten verstehen, der wissen wollte, was sie besprochen hatten, und ihre Mutter, die anscheinend darum bat, zu ihr gehen zu dürfen. Es folgte eine unverständliche, jedoch eindeutig bestimmte Antwort von Morgana und alle verfielen in Schweigen.
Ralea war wie versteinert. Sie hatte immer noch das Gefühl, nicht klar denken zu können, so aufgewühlt waren ihre Gefühle und Gedanken. Das Schicksal Romaniens liegt in deinen Händen. Die Worte Morganas hallten in ihr nach wie ein grausames Echo. Das ist eine Entscheidung, die du ganz allein treffen musst ... ganz allein ... ganz allein ...
Das Mädchen vergrub das Gesicht in den Händen. Wie gerne würde sie jetzt weinen und ihrer Verzweiflung Luft machen, doch die erlösenden Tränen wollten nicht kommen. Auf einmal fiel Licht auf ihre geschlossenen Augen und sie fuhr erschrocken auf. Der Elfenstein strahlte wieder blau, so wie vorhin auf dem Marktplatz. Doch komischerweise hatte dieses Licht nach dem ersten Schrecken für sie nichts Gespenstisches oder Unheimliches mehr. Nein, es war auf eine merkwürdige Art vertraut. Auf einmal durchströmten Hoffnung und Zuversicht ihren Körper und klärten ihre Sinne. Ihr war es, als würde der blaue Stein sie von innen her wärmen, dabei spürte sie seine kühle Oberfläche doch ganz genau in ihrer Hand.
Zielstrebig streifte sie sich die Silberkette, die an dem Stein befestigt war, um den Hals. Nun wusste sie ganz genau, was sie zu tun hatte. Warum hatte sie nur so lange gezögert? Es war ihre Bestimmung dem Wohl Romaniens zu dienen und seine Bewohner zu retten. Sie sollte stolz sein auf diese Ehre! Ralea hatte zwar keine Ahnung, woher diese plötzliche Zuversicht kam, doch machte sie sich auch keine Gedanken darüber. Es fühlte sich viel zu gut an, zu wissen, was zu tun war.
Und das wusste sie nun. Sie würde durch Romanien reisen, Luramos finden und den Zauber erneuern. Sie würde ihre Mission zu einem glücklichen Ende bringen und ruhmreich nach Hause zurückkehren! Entschlossen stand sie von der Strohmatte auf, durchschritt den Raum und öffnete die Tür. Dahinter befand sich eine kleine Schlafkammer, fast schon zu eng für die Leute, die hier saßen und sie nun überrascht ansahen. Ralea ... und den Elfenstein, der um ihren Hals hing und immer noch in seinem blauen Licht erstrahlte.
Ralea schenkte den fragenden Blicken, die auf ihr ruhten, keine Beachtung. Sie sah nur Morgana an, deren Miene mal wieder nicht preisgab, was in ihr vorging, und sagte mit fester Stimme: „Ich habe mich entschieden!“
*
Die Reise beginnt
Ralea lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie schlief über dem Zimmer ihrer Eltern in einem kleinen Raum direkt unter dem Dach. Durch ein kleines rundes Fenster fiel das erste Tageslicht auf sie und die Wand neben ihr. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie jetzt schon unbeweglich dalag und an die Dachbalken über ihr starrte. Sie wusste, dass sie schon längst hätte aufstehen müssen. Morgana hatte an Tag zuvor noch angekündigt, dass sie am nächsten Morgen vorbeikommen wollte, um ein paar wichtige Sachen für ihre Reise mit ihr zu besprechen, und sie konnte jeden Augenblick auftauchen. Doch trotzdem – oder gerade deswegen – konnte Ralea sich nicht dazu aufraffen, sich auch nur irgendwie zu bewegen.
Solange sie einfach nur hier lag und so tat, als schliefe sie, konnte sie die Gedanken an ihre Reise und den ganzen Rest in den hintersten Winkel ihres Kopfes verbannen und so tun, als wäre das ein ganz normaler Morgen wie jeder andere auch. Doch ganz verdrängen ließen sich die Gedanken natürlich nicht. Vor allem die Gesichter der Leute gingen ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Als sie am Abend nach ihrer Entscheidung aus dem Haus getreten war, hatte sich die Kunde über Raleas Auftrag schon überall herumgesprochen und in der Stadt hatten sich alle Bewohner darüber unterhalten.
Leider hatte Ralea nicht mehr als einzelne Worte aufschnappen können, denn sobald die Menschen sie bemerkt hatten, waren sie verstummt und hatten sie und den leuchtenden Elfenstein an ihrer Brust anklagend angeschaut. Anklagend – das war das richtige Wort. Anklagend, misstrauisch und oft auch beunruhigt. Ralea konnte sich natürlich denken, was in ihren Köpfen vorging. Wahrscheinlich dachten sie, sie hätte die Versammlung in irgendeiner Weise manipuliert, um gewählt zu werden. Was für ein Irrsinn! Wie hätte sie das denn anstellen sollen? Und warum? Sie würde liebend gerne mit diesen Menschen tauschen, wenn sie ihr dann glauben und ihre Aufgabe übernehmen würden!
Aber fast noch schlimmer war, dass ihr das alles erst jetzt klar wurde. Am Vortag hatte sie die Blicke und das Flüstern zwar wahrgenommen, doch sie hatte sich nicht darum gekümmert. Sie war so berauscht gewesen von ihrem Glücksgefühl, dass es überhaupt nicht richtig bis in ihr Bewusstsein gedrungen war. Doch wo war dieses Glücksgefühl jetzt? Die Zuversicht, die sie gestern noch verspürt hatte, war verschwunden und hatte nur einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.
Ralea griff unter ihr Leinenhemd und holte den Elfenstein hervor, den sie die ganze Nacht über um den Hals getragen hatte. Jetzt leuchtete er zwar nicht mehr, doch war sein Blau trotzdem immer noch wunderschön.
War er etwa verantwortlich für ihre gestrige Gehirnwäsche? Denn nichts anderes war es doch gewesen! Auf einmal hatte er sein merkwürdiges Licht verstrahlt und sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie diese Reise antreten musste. Doch andererseits war es immer noch ein Stein. Natürlich kein gewöhnlicher, aber trotzdem konnte er doch gewiss nicht selbstständig denken oder handeln. Vielleicht war es einfach die in ihm gespeicherte Elfenmagie, die ihr nicht bekam.
Doch warum legte sie ihn dann – jetzt, wo ihr dies alles klar geworden war – immer noch nicht ab?
Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinab, sie steckte den Elfenstein wieder unter ihr Hemd und stand auf, um nicht länger darüber grübeln zu müssen. Das half nun schließlich sowieso nichts mehr. Ihre Entscheidung war gefallen. Ihr Vater war überglücklich gewesen und selbst die misstrauischen Mienen der anderen Leute hatten ihn nicht davon abbringen können, stolz zu grinsen und ihr auf dem Nachhauseweg einen Arm um die Schultern zu legen.
Er hatte es ihr gegenüber nie erwähnt und sich bemüht, es sie nicht spüren zu lassen, doch Ralea wusste, dass er sich insgeheim immer einen Sohn gewünscht hatte. Nach ihrer Geburt war ihre Mutter noch viele Male schwanger gewesen, doch hatte sie jedes Mal eine Fehlgeburt gehabt. Das hatte ihre Eltern stark mitgenommen und ohne ihre Tochter wären sie wahrscheinlich daran zugrunde gegangen. So bemühten sie sich umso mehr, Ralea ein glückliches Leben bereiten zu können, und sie von ganzem Herzen zu lieben. Aber trotzdem hatte Ralea immer das Gefühl gehabt, sie müsse so gut wie drei Kinder auf einmal sein. Als sie jetzt die Freude und den Stolz ihres Vaters gesehen hatte, glaubte sie zum ersten Mal, dass es ihr vielleicht sogar gelungen war. Dass sie vielleicht genau so gut war wie der Sohn, den sich er sich immer gewünscht hatte. Ralea klammerte sich an diesen Gedanken, als sie die Tür öffnete und langsam die knarrenden Stufen der schmalen Treppe nach unten stieg.
Dumm nur, dass ihre Mutter völlig anders reagiert hatte als ihr Vater. Sie hatte Ralea fassungslos angesehen und ihre Augen hatten geglänzt vor zurückgehaltenen Tränen. Unter dem Einfluss der Elfenmagie hatte Ralea keinen Blick dafür gehabt, doch nun plagten sie schreckliche Schuldgefühle und Gewissensbisse. Wie gern würde sie ihr die Wahrheit sagen: Dass sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte und schreckliche Angst hatte fortzugehen. Doch was würde das bringen? Es würde alles nur noch schlimmer, nur noch schwerer machen.
Als sie am Fuß der Treppe angelangt war, stand sie in einem einfachen Raum, der als Küche und Wohnzimmer diente. Ihre Eltern saßen am Tisch und schienen sich eben noch angeregt unterhalten zu haben. Nun blickten sie jedoch Ralea an und ihre Mutter sagte: „Guten Morgen, Schatz. Hast du Hunger?“ Ralea schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihnen. Sie sahen beide müde und erschöpft aus. Wahrscheinlich hatten sie am Abend noch lange diskutiert. Sie meinte sogar, dass ihr Vater gar nicht mehr so zuversichtlich aussah, wie gestern noch. Doch darüber wollte sie lieber nicht nachdenken.
Ihre Mutter gab den Versuch nicht auf so zu tun, als wäre das ein ganz normaler Tag. „Wie hast du geschlafen?“, fragte sie.
„Ganz gut“, antwortete Ralea. Das war die Wahrheit, doch nun fühlte sie sich fast ein bisschen schuldig deswegen, da ihre Eltern wahrscheinlich nicht viel Schlaf bekommen hatten. Gerade wollte ihre Mutter noch etwas sagen, da klopfte es an der Tür. Das Lächeln, das sie bis dahin so tapfer aufrecht erhalten hatte, verrutschte nun vollends zu einer Grimasse. Ralea konnte förmlich sehen, wie ihre Mutter ihre vergeblichen Bemühungen aufgab, als Morgana ungebeten den Raum betrat.
Die alte Frau nickte ihnen höflich zu und schloss die Tür hinter sich. Raleas Vater murmelte einen Gruß, doch ihre Mutter presste nur die Lippen aufeinander und schaute auf ihre Hände.
Wie es Morganas Art war, redete sie nicht lange um den heißen Brei herum. „Ich denke, es ist am besten, wenn wir wieder unter zwei Augen miteinander reden, Ralea.“
„Ach, denkst du?“ Die Stimme von Raleas Mutter durchschnitt die Luft wie ein Peitschenhieb. „Ich denke, Merdrid und ich haben genau so ein Recht darauf zu hören, was du zu sagen hast.“ Sie sah Morgana mit zornesfunkelnden Augen an. „Es geht immerhin um unsere Tochter“, fügte sie noch hinzu.
Morgana hielt ihrem Blick mühelos stand. Ralea fand es ziemlich ungerecht von ihrer Mutter, dass sie der Geschichtenerzählerin scheinbar die Schuld für das Ganze gab. Doch diese nickte nur langsam und sagte ruhig: „Wahrscheinlich hast du recht. Verzeiht mir.“ Die Alte stützte sich schwer auf ihren Gehstock, während sie an den Tisch trat. Ralea sah, dass das an einem Beutel lag, den sie sich auf den Rücken gebunden hatte. Diesen stellte sie nun auf den Boden und ließ sich leise ächzend auf einen freien Stuhl fallen.
„Da ist dein Proviant drin“, erklärte sie auf Raleas neugierige Blicke hin, mit denen sie den ledernen Beutel taxiert hatte.
„Was denn für Proviant?“, fragte Ralea.
„Ein Laib Brot, Dörrfleisch, getrocknetes Obst, Gemüse und Wasser. Teil es dir gut ein. Das Wasser sollte reichen, bis du zum Fluss kommst. Dort kannst du dir die Flaschen neu auffüllen. Bedenke, dass dann der vermutlich schwierigste Teil deiner Reise kommt: die Drachentod-Wüste! Solange du kannst, solltest du dich im Wald von Beeren, Pilzen und Nüssen ernähren. Du weißt doch, was du essen darfst und was nicht?“