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Ralea nickte. Selbstverständlich wusste sie das. Die Dorfkinder lernten schon früh, was giftig war und was nicht, um in der näheren Umgebung des Dorfes Beeren und Pilze zu sammeln.
„Das ist ja alles schön und gut“, sagte Raleas Mutter mit kritischer Miene, die genau das Gegenteil ihrer Worte zu sagen schien, „aber wie soll sie den Weg finden? Woher soll sie wissen, in welche Richtung sie gehen muss?“
Morgana nickte bedächtig. „Das wird kein Problem sein. Der Elfenstein wird ihr den Weg weisen.“
„Der Elfenstein?“ Nun war es Raleas Vater, der fragte. „Und wie wird er das machen?“
„Tut mir leid, aber das kann ich euch nicht beantworten. Ich weiß auch nur, was in dem Vertrag unserer Urahnen geschrieben steht.“ Raleas Mutter stieß missbilligend die Luft aus, doch Morgana ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie sah Ralea an und fragte: „Hast du noch Fragen, Kind?“
Ralea nickte. Und ob sie das hatte! „Wie soll ich Luramos einschläfern? In der Geschichte wird gesagt, dass Koras magische Worte spricht, um den Drachen zu verzaubern.“ Ralea dachte auch an die detailliertere Version der Geschichte, die Morgana erzählt hatte. Dabei hatte sie den Kampf mit dem Drachen und Koras’ mutige Heldentat ganz genau beschrieben. Wenigstens würde Luramos noch schlafen, wenn sie zu ihm kommen würde. Sie brauchte nur den Zauber wieder aufzufrischen. Es sei denn, der Zauber verlor früher als gedacht seine Wirkung ... doch daran wollte sie lieber nicht denken.
Morgana nickte wieder und antwortete: „In dem Vertrag, den die drei Völker Romaniens nach dem Sieg über Luramos verfasst haben, steht geschrieben, dass der Stein nur an die Schläfe des Drachen gehalten werden muss. Die Magie in ihm wird wissen, was zu tun ist, da der Stein seinen eigenen Zauber erkennen wird.“
Ralea unterdrückte ein Schaudern. Ihr Unwohlsein lag nicht nur daran, dass sie dem Drachen also verdammt nahe kommen musste. Morganas Worte erinnerten sie auch an ihre Überlegungen von vorhin, ob der Stein wohl denken und handeln konnte wie ein selbstständiges Wesen.
„Da ist noch etwas Wichtiges“, sagte Morgana. „Luramos liegt in einer Höhle, die Bestandteil einer Felsformation ist. Merke dir genau den Weg, wie du zu der Höhle gekommen bist, damit du auch wieder herausfindest.“
„Moment mal! Hast du nicht eben noch gesagt, der Elfenstein würde Ralea führen?!“, rief Raleas Mutter alarmiert.
„Ich war ja auch noch nicht fertig.“ Morgana sah unverwandt Ralea an, der ein wenig mulmig wurde unter dem eindringlichen Blick ihrer klugen Augen. „Der Elfenstein wird dich hinführen, doch nach dem Zauber ist seine Magie verbraucht. Es steht zwar nichts davon in dem Vertrag, doch wir müssen damit rechnen, dass er dich dann nicht mehr führen kann. Du musst also allein wieder dort herausfinden und dich dann immer nach Süden halten. Meinst du, du schaffst das?“
Ralea nickte und rief sich den Kinderreim wieder ins Gedächtnis, den ihr Vater ihr vor Jahren einmal beigebracht hatte: „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergeh’n, im Norden wird sie nie gesehen.“ Da bei ihnen im Dorf und noch dazu mitten im Wald nie die Notwendigkeit bestand, die Himmelsrichtungen zu kennen, bereitete ihr das Ganze etwas Bauchschmerzen, doch sie traute sich das durchaus zu. Was blieb ihr auch anderes übrig?
„Und im Wald?“, fragte ihre Mutter, bestrebt einen schwachen Punkt in der Planung zu finden. „Wie findet sie allein durch den Wald?“
„Sie wird nicht allein durch den Wald finden müssen. Nachdem ihre Aufgabe erfüllt ist, besteht nicht mehr die Notwendigkeit, dass sie allein reisen muss – so wie der Vertrag es vorschreibt. Die Baumlinge werden an der Grenze des Waldes zahlreiche Späher aufstellen, die sie empfangen und sicher nach Hause bringen werden.“
Ralea konnte sich denken, dass ihre Mutter nicht begeistert von dieser Vorstellung war. Zwar entsprach die Geschichte von dem gemeinsamen Sieg, dem Vertrag und der Freundschaft der drei Völker Romaniens der Wahrheit, doch waren dreihundert Jahre eine lange Zeit ... In den vielen Jahren hatten sich alte Vorurteile über die Baumlinge und die Elfen längst wieder in den Köpfen der Menschen festgesetzt.
So galten Baumlinge als wild und unzivilisiert und viele missbilligten ihre Art zu leben – wohlgemerkt, ohne wirklich zu wissen, wie sie lebten. Es war wenig bekannt über die Baumlinge, außer dass sie in den Wäldern hausten und gute Jäger waren. Ralea hatte erst selten welche zu Gesicht bekommen – sie machten manchmal Tauschgeschäfte mit den Menschen – doch sie hatte noch nie ein Wort mit einem von ihnen gewechselt. Trotzdem fand sie die Vorstellung wenigstens auf dem Rückweg eine Begleitung und Führer zu haben, sehr beruhigend.
Morgana öffnete den Beutel, der immer noch neben dem Tisch stand, und förderte ein paar Lederstiefel zutage. „Die hier hatte der Schuster eigentlich für seinen Sohn gemacht, doch er hat sich bereit erklärt, sie dir zu überlassen.“ Sie schob sie Ralea zu, die überrascht die Augenbrauen hochzog. „Du wirst festes Schuhwerk brauchen“, erklärte Morgana auf Raleas ungläubigen Gesichtsausdruck hin.
„Nein, das ist es nicht, was mich so überrascht.“ Ralea rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. „Mich wundert bloß, dass der Schuster ... na ja, gestern sah es so aus, als würden mich alle Leute hassen ...“
„Oh, sie hassen dich nicht!“, sagte Morgana schnell. „Tatsächlich aber gibt es viele, die deinen Fähigkeiten misstrauen und eine erneute Wahl fordern. Andere behaupten, dass ein Mädchen dieser wichtigen Aufgabe nicht gewachsen ist. Doch ich habe mit ihnen geredet und konnte die meisten davon überzeugen, hinzunehmen, dass du die einzig mögliche Wahl bist und dass sie dich lieber unterstützen sollten.“
„Wirklich?“ Sofort fühlte sich Ralea ein ganzes Stück besser.
„Nun probier sie aber mal an. Es müsste ungefähr deine Größe sein.“ Morgana schob ihr die Stiefel über den Tisch zu und Ralea zog sie sogleich an. Tatsächlich passten sie erstaunlich gut. Man hätte sogar meinen können, sie wären eigens für sie angefertigt worden.
„Und meine Kleider? Kann ich die anlassen?“ Ralea schaute an sich herab. Sie trug ein einfaches Leinenhemd und einen Rock, den sie rot eingefärbt hatte – ihre Lieblingsfarbe.
„Selbstverständlich. Gibt es sonst noch etwas, das man klären müsste?“
Ralea schluckte und spürte einen dicken Kloß im Hals. Sollte es etwa jetzt schon losgehen? Aber sie war noch nicht bereit! Am liebsten hätte sie darum gebeten, noch ein paar Tage zu warten, doch sie wusste, dass die Zeit drängt, und sie wollte ihre Angst nicht zeigen. Also schüttelte sie nur stumm den Kopf und vermied es, ihre Mutter anzusehen.
Morgana nickte. „Gut. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich werde vor dem Haus auf dich warten.“ Sie erhob sich und verließ den Raum.
Ein unangenehmes Schweigen entstand. Ralea sah angestrengt auf ihre neuen Stiefel. Ihre Eltern sollten sich also hier von ihr verabschieden. Vielleicht war das besser so. Draußen hätten ihnen zu viele Leute zugesehen. Und zwar nicht nur die Einwohner ihres Dorfes, auch die meisten, die wegen der Versammlung aus anderen Dörfern angereist waren, hatten hier übernachtet, um zu sehen, wie Ralea zu ihrer Reise aufbrechen würde.
Erst als ein Stuhl über den Boden geschoben wurde, blickte Ralea auf. Ihre Mutter war aufgestanden. Die Tränen strömten ihrer lautlos über die Wangen, doch sie lächelte, als sie auf ihre Tochter zuging und sie in die Arme schloss. Ralea klammerte sich an sie und wünschte, sie könnte ebenfalls weinen. Doch ihre Tränen waren viel zu tief in ihr verankert, vielleicht hatte sie sie zu lange zurückgehalten.
„Du weißt, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn du nicht gegangen wärst“, flüsterte Raleas Mutter. „Aber lass dich davon nicht zu sehr verunsichern. Das würde alles nur noch schwerer für dich machen. Ich mache mir einfach so schreckliche Sorgen, verstehst du? Aber das ist schließlich normal – ich bin immerhin deine Mutter!“
Nun schluchzte sie doch und es zerriss Ralea das Herz. „Trotzdem bewundere ich deinen Mut. Das musst du mir glauben. Und ich bin“, sie löste sich von Ralea und sah ihr tief in die Augen, „ich bin unglaublich stolz auf dich. Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Dass du es schaffen wirst! Du warst schon immer so stark und zielstrebig.“ Ihre Stimme erstarb und sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht erneut schluchzen zu müssen.
„Danke Mama ...“ Auch Ralea flüsterte. Hätte sie versucht, laut zu sprechen, hätte sie wahrscheinlich nicht mehr als ein Krächzen zustande gebracht. „Ich werde zurückkommen. Ich versprech’s.“ Allein der Gedanke, dass das kein Abschied für immer war, konnte den Schmerz ein wenig lindern.
Nun stand auch ihr Vater auf. Zwar lächelte auch er, als er auf Ralea zuging, doch sie tatsächlich ein paar Tränen in seinen Augen glitzern, als ihre Mutter von ihr wegtrat und er sie in die Arme schloss. Ralea schmiegte sich an seine Brust, wie sie es auch in der Vergangenheit so oft schon getan hatte, und störte sich nicht daran, dass ihr Vater sie so fest drückte, dass ihr fast die Luft wegblieb.
„Deine Mutter und ich glauben an dich“, sagte er. „Aber es ist wichtig, dass du auch an dich glaubst.“
„Ich weiß“, flüsterte Ralea. Doch war sie sich nicht wirklich sicher, ob sie diese Stärke besaß. Der Vater hielt seine Tochter auf Armeslänge von sich entfernt und betrachtete sie ganz genau, als würde er erst jetzt erkennen, wie groß sein kleines Mädchen geworden war. „Du wirst in die Geschichte eingehen, stell dir vor! Bloß dumm, dass deine Alten wahrscheinlich nicht erwähnt werden ...“ Er zwinkerte ihr zu und Ralea musste gegen ihren Willen lächeln. „Nun aber auf mit dir!“ Bildete sie sich das nur ein oder hatte er sich gerade eine Träne weggewischt? Ralea konnte sich nicht erinnern, ihren Vater jemals weinen gesehen zu haben.
Er trat von ihr weg und stellte sich neben seine Frau. Ralea nahm wie mechanisch den Beutel mit ihrem Proviant auf und schlang ihn sich auf den Rücken.
„Wir werden in Gedanken immer bei dir sein!“, sagte ihre Mutter.
Und ihr Vater fügte hinzu: „Es ist alles halb so wild. Jeder auf deinem Weg wird dir wohlgesinnt sein. Es geht schließlich um unser aller Heimat und Leben!“
Ralea lächelte tapfer. Sie brauchte jedoch all ihre Beherrschung, um sich davon abzuhalten, gleich noch einmal zurückzulaufen und sich ihren Eltern in die Arme zu werfen. Sie standen ganz dicht beieinander und hatten die Hände ineinander verschränkt. Ohne diesen Anblick und die Gewissheit, dass sie sich gegenseitig Halt und Trost spenden konnten, hätte Ralea es wohl nie geschafft, sich umzudrehen und schnellen Schrittes zur Tür zu gehen. Dort konnte sie dann allerdings doch nicht der Versuchung widerstehen, noch einmal zurückzublicken. Ihre Eltern standen unverändert da und lächelten ihr zu.
Ralea formte mit den Lippen die Worte: „Ich hab euch lieb!“ Dann öffnete sie die Tür, trat nach draußen und schloss sie hinter sich mit der gleichen schnellen und endgültigen Bewegung.
Die Straße war zum Glück menschenleer. Nur Morgana lehnte an der Hauswand neben der Tür und sah sie erwartungsvoll an. „Können wir?“ Ralea atmete einmal tief ein und aus. Dann nickte sie und folgte Morgana ein wenig widerstrebend.
Wo waren bloß all die Leute? Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Doch Ralea sollte es recht sein. So konnte sie sich alles noch einmal genau anschauen und einprägen. Und bei jedem Haus, an dem sie vorbeikamen, und jedem Weg, den sie verließen, zog sich ihre Kehle etwas fester zusammen. Ob sie das alles jemals wieder sehen würde? Selbst, wenn sie keine Feinde erwarten würden, so wie ihr Vater es prophezeit hatte, war der Weg durch die Drachentod-Wüste beschwerlich und niemand hatte ihn bisher gewagt.
Morgana, die trotz ihres Gehstocks erstaunlich flink auf den Beinen war, steuerte auf den Waldrand hinter dem Marktplatz zu. Und nun kamen auch die ersten Menschen in Sicht. Sie standen am Wegrand und lächelten ihr zu. Viele riefen ihr Glückwünsche zu oder steckten ihr sogar etwas zu essen zu.
Ralea war überwältigt. Was für eine Überredungskünstlerin Morgana doch war! Obwohl sie das eigentlich nicht wundern durfte, war sie doch so geschickt, wenn es darum ging, ihre Worte zu den schönsten Geschichten zu spinnen. Beim Anblick der begeisterten Menschenmenge breitete sich ein erleichtertes und dankbares Lächeln auf Raleas Gesicht aus. Sie war so damit beschäftigt, sich zu bedanken und ausgestreckte Hände zu schütteln, dass sie erst bemerkte, dass Morgana stehen geblieben war, als sie schon fast gegen sie stolperte. Sie sah auf und erblickte die Bäume. Sie waren am Dorfrand angekommen. Hier gingen die Häuser nahtlos in den Wald über. Ralea merkte, wie sich ihre Kehle von Neuem zuzog.
„Ralea!“
Ralea drehte sich um und sah sich dem Dorfobersten gegenüber. Unwillen breitete sich in ihr aus. Sie hatte nie viel mit ihm zu tun gehabt, deshalb war sie nun ein wenig verwirrt, dass er sich so um sie bemühte. Er räusperte sich und wartete, bis die Menschen um ihn herum einigermaßen ruhig waren. Dann sagte er: „Wir haben uns alle hier versammelt, um dich zu verabschieden. Wir wünschen dir alles Gute auf deinem Weg. Mögen die Götter über dich wachen und mögest du ruhmreich zu uns zurückkehren!“
Ralea starrte ihn an. Das war es also? „Ich ... ich kann noch nicht gehen“, krächzte sie.
Der Dorfoberste wirkte verärgert. „Was ist denn noch?“, fragte er ungeduldig.
„Ich habe mich noch nicht von meiner Freundin verabschiedet“, erklärte Ralea kleinlaut. Auf dem ganzen Weg hatte sie Ausschau nach Lora gehalten, doch sie hatte sie nicht entdecken können. Vielleicht war sie ja da gewesen, aber die anderen Leute hatten sie verdeckt? Vielleicht hatte sie ja nach Ralea gerufen, doch sie hatte ihre Stimme nicht von den anderen unterscheiden können? Diese Gedanken ließen Ralea innerlich zusammenzucken. Sie konnte auf keinen Fall gehen, ohne Lora noch einmal gesehen zu haben.
Da drang eine Stimme zu ihr herüber: „Ralea! Ralea, warte!“
Ralea wirbelte herum und sah, wie Lora atemlos den Weg entlanggelaufen kam. Vor Ralea blieb sie stehen und sagte mit gespielter Empörung: „Ich dachte schon, du wolltest gehen, ohne dich zu verabschieden!“
Ralea grinste. „Und ich dachte, du würdest einmal in deinem Leben pünktlich sein!“
Statt einer Antwort fiel Lora Ralea um den Hals. Endlich kamen die Tränen. Ralea lachte und weinte gleichzeitig. Sie wusste, dass alle Leute ihnen zusahen, doch es war ihr egal. In diesem Augenblick zählten nur sie beide. „Ich werde dich vermissen“, schluchzte Ralea in Loras blondes Haar.
„Und ich werde dich vermissen!“ Auch Lora weinte bitterlich.
So standen die Freundinnen eine ganze Weile in ihre eigene Welt versunken. Als sie sich schließlich voneinander lösten, wirkte der Dorfoberste schon ziemlich ungehalten vor Ungeduld.
„Als ob es auf die paar Minuten ankommt“, dachte Ralea ärgerlich.
„Pass auf dich auf!“, flüsterte Lora so leise, dass nur Ralea es hören konnte. Sie hielt immer noch die Hände der Freundin in den ihren.
„Pass du auf dich auf!“, flüsterte Ralea zurück. Und nach einem kurzen Moment fügte sie hinzu: „Und auf meine Eltern!“
Lora lächelte durch ihre tränennassen Wimpern hindurch. „Du schaffst das. Wenn es jemand schafft, dann du!“ Langsam und unendlich schmerzvoll lösten sich ihre Hände. Lora trat einen Schritt zurück und grinste tapfer. „Na, los! Du hast ein Land zu retten!“
Ralea lachte. Wie schaffte Lora es nur, jeder Situation etwas Komisches abzuringen? Noch ein letztes Mal ließ sie die Augen über die Menschen schweifen, die zwischen den Häusern und auf den Straßen standen. Sie alle lächelten ihr zu. Es waren weitaus weniger als die Massen, die zu der Versammlung am Vortag erschienen waren, doch viel mehr, als Ralea vermutet hatte. Viele waren ihr völlig fremd, doch die meisten waren Bewohner ihres Dorfes, die Ralea seit ihrer Kindheit kannte. Der Dorfoberste wischte sich mit einem Stofftuch den Schweiß von der Stirn. Lora grinste immer noch, doch Ralea kannte sie gut genug, um die Wehmut in ihren Augen zu erahnen. Morganas Miene war wie immer unergründlich, aber in ihren Augen lag ein Funkeln, das Ralea nicht zuordnen konnte.
Dann drehte Ralea sich um. Sie blendete alle Gedanken, alle Gefühle aus, während sie in den Wald ging. Sie schaute nicht zurück, auch nicht, als laute Abschiedsrufe hinter ihr erschallten. Mit jedem Schritt wurde der Wald dichter, die Stimmen leiser. Mit jedem Schritt entfernte sie sich weiter von ihrer Heimat und kam ihrer ungewissen Zukunft näher.
*
Beobachtet
Mechanisch setzte Ralea einen Fuß vor den anderen, folgte einem schmalen ausgetretenen Pfad, der tiefer in den Wald führte. Erst als die letzten Rufe hinter ihr verklungen waren, drehte sie sich noch einmal um. Der Pfad hatte eine sanfte Kurve beschrieben, sodass sie keine Häuser mehr sehen konnte. Eine Welle der Mutlosigkeit und Verlorenheit ergriff sie. Was tat sie hier? Das alles war so schrecklich unwirklich. Schnell ging sie wieder weiter, damit sie sich nicht in ihrer Hilflosigkeit verlor oder gar auf den Gedanken kam, wieder umzukehren.
Noch war der Wald ihr vertraut. Hier vorne auf diesen Baum war sie oft geklettert. Und hier auf der kleinen Lichtung hatten die Dorfjungen immer Schießwettbewerbe mit ihren selbst gebastelten Bogen veranstaltet. Auch Lora hatte oft mitgemacht – bis Limon ihr verboten hatte, seinen Bogen zu benutzen, weil sie so viel besser war als er. Ralea schmunzelte bei der Erinnerung an das beschämte und hochrote Gesicht von Loras großem Bruder.
Sie selbst war auch oft hier entlang gegangen, um Beeren oder Pilze zu sammeln. Doch nie allein, wie ihr jetzt klar wurde. Immer war sie mit ein paar Freundinnen unterwegs gewesen. Sie hatten sich dann ausgelassen unterhalten, hatten sich nie weit vom Dorf entfernt und waren lange vor dem Abend wieder zu Hause gewesen. Auch als sie klein gewesen war, war sie mit ihren Freunden hierher gekommen. Sie hatten Spiele erfunden, waren auf Bäume geklettert oder hatten eine Geschichte nachgespielt, die Morgana ihnen erzählt hatte. Wie oft hatte Ralea darum gebettelt und gekämpft, die Hauptrolle spielen zu dürfen – die des mutigen Helden. Was für eine Ironie, dass sie jetzt tatsächlich zu einem solchen Helden geworden war, in der Fortsetzung einer Geschichte, die Morgana ihnen immer und immer wieder erzählt hatte. Und nun wünschte sie sich von ganzem Herzen, diese Rolle an jemand anderen abtreten zu können.
Plötzlich blieb Ralea alarmiert stehen. Sie war so in ihre Erinnerungen vertieft gewesen, dass sie überhaupt nicht gemerkt hatte, wie der Pfad sich verloren hatte und sie sich ohne seine Hilfe zwischen Baumstämmen und Sträuchern ihren Weg bahnte. War sie so sehr in Gedanken gewesen? Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich – vor allem in so einer Situation, bei der ihre Nerven doch aufs Äußerste gespannt und ihre Sinne geschärft sein sollten!
Morganas Worte gingen ihr durch den Kopf. Der Elfenstein wird dir den Weg weisen.
Ralea griff unter ihr Hemd und holte den blauen Stein hervor. Kühl lag er in ihrer Hand und sie betrachtete ihn eingehend. Erst nach einigen Herzschlägen wurde ihr bewusst, dass sie insgeheim darauf hoffte, dass er wieder in seinem blauen Licht erstrahlen und ihr vorausfliegen würde. Doch war dieser Gedanke wirklich so abwegig? Wie sonst sollte er ihr den Weg weisen? Sie wartete noch einen Augenblick, doch nichts geschah.
„Nun komm schon!“, flüsterte sie, froh, dass niemand sie hören oder sehen konnte.
Immer noch nichts.
Seufzend ließ sie den Stein wieder unter ihr Hemd gleiten und bemühte sich, ihre wachsende Panik niederzukämpfen. Dann würde sie eben allein weitergehen. Vielleicht machte er sich ja erst bemerkbar, wenn sie falsch ging. Ralea sah sich kurz um und wandte sich dann zielsicher nach links, ging zwischen zwei mächtigen Bäumen hindurch, stieg über einen umgefallenen Baumstamm – und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Es war schon wieder passiert. Sie war einfach drauflos gegangen, ohne darüber nachzudenken. Unterbewusst hatte sie jedoch genau gewusst, dass sie richtig war.
Nachdenklich zog das Mädchen noch einmal den Elfenstein hervor. Vielleicht war ja das seine Art, sie zu führen. Vielleicht geschah es durch seine Magie, mit der er ihr das Wissen oder das Gefühl für den richtigen Weg übermittelte. Sie war viel zu erleichtert über diese Erkenntnis, als dass es ihr hätte Angst machen können.
Danach ließ sie es einfach geschehen. Sie hakte ihre Daumen unter die Riemen des Lederbeutels auf ihrem Rücken und bahnte sich mit der stummen Hilfe des Elfensteins zielsicher einen Weg durch den Wald. Sie fand sogar die Muße, zwischendurch ein paar Beeren oder Nüsse zu pflücken, die sie im Gehen aß, und die Schönheit um sie herum zu betrachten.
Denn zu sehen gab es genug: Die Sonne fiel durch die Blätter über ihr und malte Muster aus goldenem Licht auf den Waldboden, die Wurzeln und das Moos. In den Ästen sangen Vögel und die Blätter rauschten im Wind. Nach und nach verflüchtigten sich ihre Ängste und ihre lähmende Beklemmung. Das mochte zum einen an der Elfenmagie liegen, doch zum größten Teil war das wohl der frischen Waldluft und der friedlichen Stille um sie her zu verdanken.
Ralea merkte kaum, wie die Zeit verging. Erst als ihre Beine müde wurden und die Schatten dunkler, registrierte sie, dass es auf den Abend zu ging. Sie würde sich wohl bald ein Lager für die Nacht machen müssen. Als sie zwischendurch etwas getrunken hatte, hatte sie auch zwei Feuersteine in ihrem Beutel entdeckt. Trotzdem breitete sich bei dem Gedanken, die Nacht allein im dunklen Wald zubringen zu müssen, ein äußerst mulmiges Gefühl in ihrem Magen aus. Sie schob den Gedanken daran beiseite. Noch war es schließlich hell genug, um weiter zu wandern. Doch es wurde rasch dunkel und sie wusste, dass sie es nicht ewig vor sich herschieben konnte. Wahrscheinlich war es halb so wild. Sie würde sich einfach hier an diesen Baum setzen und ...
Ralea wirbelte herum. Hatte da nicht gerade hinter ihr ein Ast geknackt? Sie kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren. Doch es war mittlerweile schon ziemlich düster und sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Außerdem war es wahrscheinlich sowieso nur ein Reh, das mehr Angst vor ihr hatte, als sie vor ...
Schon wieder! Diesmal direkt vor ihr. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Bildete sie sich das alles nur ein oder hatte sie da gerade ein Schnaufen gehört? Ein rasselnder Atem, das Rascheln von Laub.
Da war jemand. Ganz bestimmt! Und nicht nur einer. Es mussten mehrere sein. Ralea war unfähig, sich zu bewegen, war starr vor Schreck. Wer konnte das sein? Menschen aus ihrem Dorf? Vielleicht einige von denen, die sich nicht von Morgana hatten überzeugen lassen und immer noch an ihr zweifelten? So sehr, dass sie sie nun verfolgten und sie im Wald, weit ab vom Dorf, überwältigen und von ihrem Vorhaben abbringen wollten?
Ohne Vorwarnung brach etwas vor Ralea aus dem Gebüsch und sprang auf sie zu. Sie sah nicht mehr als schmutzige graue Haut, Krallen, die durch die Luft wirbelten und nach ihr griffen. Und Augen. Schreckliche gelbe Augen ohne Pupille. Ralea stieß einen spitzen Schrei aus und rannte los, noch bevor diese Bestie wieder sicher auf ihren Beinen stand. Sie rannte, wie sie noch nie gerannt war. Äste schlugen ihr ins Gesicht und zerkratzten ihre Beine. Sie stolperte, schlug sich die Knie auf, rappelte sich wieder hoch, rannte weiter.
Auf einmal hörte sie wieder diesen rasselnden Atem. Dieses Wesen war dicht hinter ihr. Gleich würde es sie eingeholt haben ... Und dann sprang tatsächlich eine weitere dieser Bestien direkt vor ihr aus dem Gebüsch. Diesmal blieb ihr der Schrei im Halse stecken. Diese schrecklich gelben Augen! Sie starrten sie an. Sollten sie das Letzte sein, was Ralea sah, bevor sie starb?
Etwas sauste knapp an Raleas Kopf vorbei. Sie spürte den Luftzug auf der Haut. Die Bestie vor ihr heulte auf, doch Ralea nahm sich nicht die Zeit zu sehen, was passiert war. Sie warf sich zur Seite und rannte weiter. Ihre Kehle brannte und ihre Knie schmerzten, doch sie spürte es kaum. Sie hatte nur einen Gedanken im Kopf: Weg, weit weit weg von diesen Monstern!