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Wieder war ein Keuchen direkt neben ihr zu hören. Sie brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass mehrere der Bestien sie eingeholt hatten und auf gleicher Höhe mit ihr liefen. Ralea versuchte verzweifelt, ihr Tempo zu steigern, doch sie war zu erschöpft. Plötzlich brach sie aus dem Unterholz und stand inmitten einer kleinen runden Lichtung. Die verhältnismäßig weite Sicht an diesem Ort überraschte sie und sie geriet ins Stolpern. Der Beutel rutschte ihr von den Schultern und fiel zu Boden. Er enthielt ihr gesamtes Wasser und ihren Proviant, doch sie ließ ihn an Ort und Stelle liegen und rannte weiter, auf den gegenüberliegenden Rand der Lichtung zu.
Aber ehe sie dort ankam, sprang eines der gelbäugigen Monster vor ihr aus dem Unterholz und fletschte die Zähne. Ralea sprang erschrocken zurück und lief in eine andere Richtung, doch auch dort sprang ihr eines der Biester entgegen und blieb fauchend stehen. Panisch drehte sie sich im Kreis und suchte nach einem Ausweg, doch überall standen sie, scharrten mit den Krallen und starrten sie an.
Raleas eigener Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, auf einen Baum am Rande der Lichtung zu klettern, doch sie verwarf ihn noch im selben Moment.
Es war aus.
Sie hatte keine Chance.
Sie würde ihr Dorf niemals wiedersehen! Ihre Eltern, Lora ...
Die Bestie ihr gegenüber verzog den Mund zu einer Grimasse, die auf grauenhafte Weise an ein hämisches Grinsen erinnerte. Langsam kam sie auf sie zu, auch die anderen schlossen den Kreis um sie enger, kamen näher und näher ...
Dann sirrte plötzlich etwas durch die Luft. Ralea nahm eine schnelle Bewegung am Rande ihres Blickfeldes wahr, dann noch eine. Zwei der Bestien ihr gegenüber heulten auf. Eine brach sofort zusammen und regte sich nicht mehr. Ein gefiederter Schaft ragte aus ihrer Schläfe. Die andere gab einen ohrenbetäubenden Schrei von sich, der auch die anderen Monster innehalten ließ. Die verwundete Bestie wälzte sich am Boden, sprang dann wieder auf die klauenbewehrten Füße und rannte blindlings los und in den Wald hinein. Die anderen schienen unschlüssig darüber zu sein, was sie tun sollten, und Ralea wagte es, einen verrückten Moment lang Hoffnung zu schöpfen, dass sich alles zum Guten wenden könnte.
Doch dann kamen die Bestien auf sie zu. Schneller und schneller. Ralea wich zurück. Wieder flog etwas durch die Luft. Endlich erkannte sie, was es war: Drei Pfeile bohrten sich schnell hintereinander in die Bäume hinter den fünf verbliebenen Bestien. Diese zogen erschrocken die Köpfe ein. Sie schienen es nun doch mit der Angst zu tun zu bekommen. Als ein vierter Pfeil durch die Luft sirrte und eine der Bestien nur um Haaresbreite verfehlte, schrak diese zusammen und rannte schnurstracks zurück in den Wald. Drei weitere folgten ihr sofort und verschwanden im Dickicht. Die letzte jedoch zögerte. Einen Moment lang blieb sie ungerührt stehen und sah Ralea mit ihren blicklosen gelben Augen hasserfüllt an. Dann folgte auch sie dem Beispiel ihrer Artgenossen und rannte davon.
Ralea sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie zitterte am ganzen Körper und schluchzte mit bebenden Schultern. Die Erleichterung vertrieb ihre Angst, selbst die Schmerzen in ihren aufgekratzten Beinen und Armen fühlten sich herrlich an, waren sie doch ein sicheres Zeichen dafür, dass sie noch am Leben war. Sie war sich so sicher gewesen, dass es vorbei war, und hatte sich bereits mit der Tatsache abgefunden, zu sterben. Jetzt noch zu atmen, das Gras zu spüren und ihre salzigen Tränen zu schmecken war genauso wunderbar wie unwirklich.
„Hey, alles klar bei dir?“
Ralea stieß einen erstickten Schrei aus, sprang hastig auf die Füße und wirbelte herum.
Hinter ihr stand ein junger Baumling, der sie besorgt musterte. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken!“, sagte er schnell und lächelte schief.
Ralea wischte sich mit dem Handrücken notdürftig über die tränennassen Wangen. „Da...das macht doch nichts“, sagte sie mit schwacher Stimme.
Nachdem der erste Schock vorüber war und sie wieder klar denken konnte, musterte sie ihr Gegenüber genauer. Sie hatte in ihrem Leben noch nicht viele Baumlinge gesehen. Sie lebten für gewöhnlich tief in den Wäldern und zeigten sich den Menschen nur bei den seltenen Tauschgeschäften, die sie untereinander führten. Dabei brachten die Baumlinge Früchte oder erlegte Tiere mit, die es nur in den nördlicheren Wäldern gab, und erhielten dafür Kleidung oder Pflanzen, die die Menschen auf den kleinen Feldern, die sie dem Wald abgerungen hatten, anbauten.
Der Baumling, der nun vor ihr stand, war fast einen Kopf größer als sie, doch Ralea schätzte, dass er ungefähr ihr Alter hatte. Er war schlank und drahtig, wie alle Baumlinge, und alles an ihm war grün: die Iris seiner Augen, seine Haare, die er zu vielen kleinen Zöpfen geflochten und dann zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und sogar seine Haut und seine langen spitzen Ohren. Nur seine Kleidung und Stiefel ähnelten der von Ralea – mit der Ausnahme, dass er eine Hose trug und keinen Rock. Gut möglich, dass er sie von den Menschen erworben hatte. Über seiner Schulter hing ein Köcher, in dem noch etwa ein halbes Dutzend dünner gefiederter Pfeile steckte, und in der Hand hielt er einen kleinen, schlichten, aber eleganten Bogen.
Ralea war so eingenommen von seinem fremdartigen Äußeren, dass ihr erst jetzt bewusst wurde, dass er sie ebenso neugierig und unverhohlen musterte wie sie ihn. Beschämt schlug sie die Augen nieder.
Auch er räusperte sich etwas verlegen und sagte dann: „Ich sollte mich wohl erst mal vorstellen: Mein Name ist Tajo.“
„Ich bin Ralea“, sagte Ralea. „Du sprichst meine Sprache?“, fragte sie schließlich schüchtern.
Der Baumling nickte stolz. „Die hat mein Vater mir von klein auf beigebracht. Er führt die Tauschgeschäfte mit den Menschen und möchte, dass ich diese Aufgabe einmal übernehme.“
Ralea nickte beeindruckt. Tatsächlich sprach er einwandfrei und hatte nur einen schwachen Akzent, der auf die kehlige Sprache der Baumlinge hinwies. Dann fiel ihr Blick plötzlich auf das tote Monster, das am Ende der Lichtung lag. Ein Schauer durchfuhr sie. Tajo hatte ihre Reaktion wahrscheinlich bemerkt, denn er drehte sich um und folgte ihrem Blick.
„Was ist das für eine Kreatur?“, flüsterte Ralea angewidert. Und dann kam ihr ein ganz anderer Gedanke und die Angst kroch wieder in ihr hoch. „Und was, wenn die anderen zurückkommen?“
Tajo schüttelte den Kopf und ging langsam auf die Leiche zu. Ralea folgte ihm zögernd, während er sagte: „Ich habe so etwas zwar noch nie in meinem Leben gesehen, aber ich glaube, dass ich Geschichten darüber gehört habe. Bei uns Baumlingen erzählt man sich gerne Geschichten und in einigen ist von Gnomen die Rede, die angeblich in den Bergen leben. Sie wurden genau so beschrieben, wie dieses Wesen hier aussieht. Ihr Charakter soll ihrem Äußeren übrigens in nichts nachstehen. Angeblich sind sie gerissen und falsch, nicht besonders intelligent und brutal. Aber sie sollen auch ängstlich sein und ihr eigenes Leben über alles andere stellen. Ich glaube nicht, dass sie noch einmal wiederkommen werden. Ich frage mich nur, was sie hier im Wald wollten.“ Er war mittlerweile vor dem toten Gnom stehen geblieben und schielte nun zu Ralea hinüber, die in einigem Abstand hinter ihm stand. „Was ich mich bei dir übrigens auch frage. Was macht ein Menschenmädchen so weit ab von der Heimat? So weit ich weiß, entfernt ihr Menschen euch doch sonst nie weiter als zehn Meter von eurem Dörfchen.“
Ralea ärgerte sich über seinen spöttischen Ton. Was vielleicht auch ganz gut war, denn es hinderte sie daran, ihm alles zu erzählen, ihm ihr ganzes Herz auszuschütten – und vermutlich wieder in Tränen auszubrechen. So tröstlich seine Anwesenheit auch war, sie durfte nicht zu gutgläubig sein. Dieser grauenhafte Überfall der Gnome hatte doch gezeigt: Sie musste überaus vorsichtig sein, wollte sie ihre Mission nicht gefährden. Also zuckte sie die Schultern und sagte: „Dann weißt du anscheinend nicht viel über die Menschen.“
Tajo zog zweifelnd eine Augenbraue hoch – was sie großzügig übersah –, drehte sich dann plötzlich um und bückte sich. Die Bewegung war so schnell, dass Ralea sie kaum mit den Augen verfolgen konnte. Auf einmal stand er wieder genauso da wie vorher, nur dass er in der rechten Hand seinen Pfeil hielt, von dem zähes, schwarzes Blut tropfte. Übelkeit stieg in Ralea hoch und sie wandte sich angewidert ab.
Der Baumling ließ sich davon nicht stören. Er wischte den Pfeil so gründlich wie möglich am Gras und an den umstehenden Büschen ab und machte sich dann daran, die restlichen Pfeile aus den Bäumen zu ziehen. Ralea beobachtete ihn schweigend und überlegte, wie viel sie ihm wohl sagen konnte. Eigentlich hatte doch niemand erwähnt, dass sie ihr Vorhaben geheim halten musste, oder? Sie bemerkte, wie sie – mehr oder weniger gegen ihren Willen – begann diesen Baumling zu mögen. Doch war das verwunderlich? In ihrer Situation hätte sie sogar den Dorfobersten gemocht, wenn er ihr über den Weg gelaufen wäre. Schon deshalb, weil sie dann nicht länger so allein gewesen wäre.
Nachdem Tajo alle seine Pfeile eingesammelt hatte, kam er zu ihr geschlendert und sagte frei heraus: „Na schön, ich gebe zu, ich habe dich angeflunkert. Ich weiß genau, weswegen du allein im Wald unterwegs bist.“ Ralea klappte die Kinnlade herunter, was er mit einem amüsierten Zucken um die Mundwinkel registrierte. „Du bist die Auserwählte!“, hauchte er verschwörerisch.
Ralea gab sich Mühe, nicht allzu überrascht zu wirken. „Ach ja?“, fragte sie betont lässig. „Und woher weißt du das, wenn ich fragen darf?“
„Ich hab dich beobachtet.“
„Verfolgt meinst du wohl.“ Der Gedanke, dass er ihr die ganze Zeit über nahe gewesen war, gefiel Ralea überhaupt nicht. Sie dachte daran, wie sie auf den Elfenstein eingeredet hatte, und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
Tajo schien das zum Glück nicht zu bemerken. Und wenn doch, dann besaß er so viel Taktgefühl, es nicht zu zeigen. Tatsächlich wirkte er ein wenig schuldbewusst. Allerdings nur kurz. Dann erwiderte er trotzig: „Eigentlich solltest du mir dankbar sein. Ich habe dir immerhin gerade das Leben gerettet!“
Nun war es an Ralea, schuldbewusst zu sein. „Vielen Dank“, murmelte sie beschämt.
„Gern geschehen!“, grinste Tajo.
„Jetzt, wo wir geklärt haben, warum ich hier allein durch die Gegend laufe“, sagte Ralea, „würde mich noch interessieren, was du hier machst. Ich dachte, ihr Baumlinge lebt viel tiefer in den Wäldern?“
„Wie gesagt: Ich habe dich beobachtet.“ Er schaute Ralea ohne Anzeichen von Scham in die Augen.
Diese wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. „Ja ... und ... warum?!“, stammelte sie schließlich.
„Weil du einen Beschützer brauchst!“
„Einen Beschützer?!“
„Allerdings!“
„Das glaub ich kaum!“
„Ach, und was war dann das hier?“ Er wies mit dem Zeigefinger auf den toten Gnom, der immer noch hinter Ralea am Boden lag.
„Bloß ein paar ... kleinere Schwierigkeiten. Damit wäre ich auch ohne dich klargekommen.“
„Sicher!“ Er verdrehte die Augen.
Ralea wusste selbst nicht richtig, warum sie ihn so offensichtlich anlog. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht eingestehen wollte, wie froh sie sich gefühlt hatte, als er sich als ihr Beschützer vorgestellt hatte. Wie schön wäre es, mit jemandem zusammen auf diese Reise gehen zu können! Doch sie wusste, dass das unmöglich war. Was für eine Schande für sie und alle Menschen, wenn selbst die vom Elfenstein Auserwählte nicht ohne anderweitige Hilfe ihre Aufgabe erfüllen könnte! Außerdem hatte Morgana gesagt, dass in dem Vertrag geschrieben stand, dass man allein gehen musste. Und was der Vertrag sagte, war Gesetz. Das musste jedem Romanier klar sein – auch diesem frechen Baumling hier!
„Ja, sicher! Und jetzt entschuldige mich – ich habe eine Aufgabe zu erfüllen!“ Damit drehte sie sich um und stolzierte übertrieben hochnäsig auf das Ende der Lichtung zu – natürlich nicht, ohne einen weiten Bogen um den toten Gnom zu machen.
„Ähm ... gehört das dir?“
Wie vom Donner gerührt blieb Ralea stehen und sah sich zu Tajo um, der auf der Lichtung stand und ihren Lederbeutel in der Hand hielt. Mit hochrotem Kopf ging sie auf ihn zu, riss ihm den Beutel gröber als nötig aus der Hand und murmelte unwillig: „Ja. Nochmals vielen Dank!“
„Kein Problem!“ Er grinste wieder, wobei seine strahlend weißen Zähne in der einsetzenden Dunkelheit zu leuchten schienen.
Schon drehte Ralea sich um und wollte ihren Weg fortsetzen, da rief er hinter ihr her: „Jetzt warte doch mal! Willst du jetzt wirklich noch weiter gehen? Es ist gleich stockduster!“
„Nein, ich möchte mich hinlegen und schlafen!“, fauchte sie und fügte in Gedanken hinzu: „Bitte komm mit, ich will nicht allein sein in der Nacht!“ Mit schnellen Schritten holte er sie ein und lief neben ihr her. Ralea hasste sich selbst dafür, wie sehr sie sich darüber freute.
„Lass uns doch wenigstens ein gemeinsames Lager für die Nacht aufschlagen. Sicherer ist es allemal. Und morgen können wir dann weiterreden.“
Ralea seufzte resigniert und erwiderte betont genervt: „Meinetwegen.“ Innerlich frohlockte sie. Wobei ihr natürlich klar war, dass sie sich früher oder später daran gewöhnen musste, allein im dunklen Wald zu übernachten. Sie konnte nicht zusammen mit Tajo weitergehen, so gern sie das auch tun würde.
Sie liefen noch ein paar Schritte schweigend weiter, um möglichst weit weg von dem toten Gnom zu sein. Dann setzten sie sich zu den Wurzeln eines großen Baumes.
Tajo entfachte mit Raleas Feuersteinen geübt ein kleines Lagerfeuer, das die Gnome fernhalten sollte – sicher war sicher –, dann knabberten sie noch ein wenig von Raleas Brot und legten sich beide erschöpft in das weiche Moos.
Tajo schlief fast auf der Stelle ein. Sein gleichmäßiger Atem beruhigte Ralea – die sich schon darauf eingestellt hatte, noch stundenlang wach zu liegen und sich hin und her zu wälzen – ungemein und zusammen mit dem Rauschen der Blätter und ihrer eigenen Müdigkeit wiegte es sie schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
*
Gefährten
Als Ralea am nächsten Morgen aufwachte, brauchte sie einen Moment, um sich daran zu erinnern, wo sie war. Um so plötzlicher strömten dann auf einmal die Erinnerungen auf sie ein: der Abschied, der Tag im Wald, die Gnome ... und Tajo.
Tajo! Auf einmal war Ralea hellwach und setzte sich kerzengerade auf. Doch sie war allein. Neben ihr lag ihr Lederbeutel und auf der anderen Seite war die erkaltete Feuerstelle. Von Tajo keine Spur. Vergeblich versuchte sie, ihre Enttäuschung zu ignorieren. Warum war er weggegangen? Hatte er es sich anders überlegt oder hatte er im Grunde nie wirklich vorgehabt, sie zu begleiten? Ralea seufzte und rappelte sich auf. Jetzt noch darüber zu grübeln brachte sowieso nichts mehr – er war weg. Sie schulterte gerade ihren Beutel, als eine Stimme an ihr Ohr drang: „Was, du willst schon weg?“
Ralea fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand Tajo und lächelte sie unschuldig an. „Musst du dich immer so anschleichen?“ Raleas Stimme war unfreundlicher, als sie es beabsichtigt hatte. In Wahrheit jubelte sie: Er war doch nicht gegangen! „Ich habe mich beinahe zu Tode erschrocken. Wo warst du überhaupt?“, sagte sie laut.
„Frühstück besorgen!“ Er hielt zwei dicke erdige Knollen hoch. „Oder hast du etwa keinen Hunger?“
„Und warum nimmst du dafür deine gesamte Ausrüstung mit?“ Ralea sah vielsagend auf den Köcher mit den Pfeilen und den Bogen, die über seiner Schulter hingen.
Er zuckte mit den Achseln. „Alte Angewohnheit. Du findest auch immer was zu meckern, wie? Probier das mal, das wird deine Laune heben!“ Er hielt ihr eine der Knollen hin und wischte seine eigene an seiner Hose sauber.
„Was ist das?“, fragte Ralea interessiert und tat es ihm nach.
„Die Knollen von Knarrwurzen“, antwortete er und biss herzhaft hinein.
„Knarrwurzen?!“, rief Ralea entgeistert. „Die sind giftig!“ Ihre Eltern hatten sie immer vor diesem Kraut gewarnt, das im Wald wuchs und einem höllische Bauchschmerzen und Durchfall bereiten konnte, wenn man es aß.
Tajo winkte ungeduldig ab und schluckte seinen Bissen hinunter. „Ja, die Blätter und die Blüten schon. Aber nicht die Wurzeln. Probier mal – schmeckt echt gut!“
Einen Moment zögerte Ralea, doch dann siegten der Hunger und die Neugier. Vorsichtig biss sie ein kleines Stück heraus, das sie langsam zerkaute. Ein süßlicher Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, der sie ein bisschen an gekochten Mais erinnerte, aber doch war er ganz anders als alles, was sie je gegessen hatte.
„Gut, wasch?“, fragte Tajo mit vollem Mund.
Ralea nickte begeistert. „Warum sind die Menschen nur noch nicht darauf gekommen?“
Tajo zuckte mit den Achseln, als würde ihn das nicht besonders wundern. „Du musst zugeben“, sagte er, „dass die Menschen an so gut wie allem, was sich nicht innerhalb ihres Dorfes abspielt, kein Interesse haben.“
„Das ist nicht wahr!“, protestierte Ralea automatisch, doch dann verstummte sie nachdenklich.
Es stimmte, dass die Menschen ihr Dorf nur verließen, um zu jagen oder Beeren zu sammeln. Und selbst dann entfernten sie sich nur so weit, wie gerade nötig. „Es kann gut sein“, dachte Ralea leicht beängstigt, „dass noch niemand aus meinem Dorf so weit im Wald gewesen ist, wie ich jetzt.“ Ihr nachdenkliches Gesicht schien Tajo Genugtuung zu verschaffen, so zufrieden, wie er aussah. Zum ersten Mal kam Ralea der Gedanke, dass nicht nur die Menschen Vorurteile gegenüber den Baumlingen haben könnten, sondern auch die Baumlinge gegenüber den Menschen.
„Sollen wir uns so langsam mal auf den Weg machen?“, fragte Tajo nach einer Weile.
Ralea hörte auf zu essen. Der Appetit war ihr mit diesem Satz gründlich vergangen. Sie hatte nämlich gehofft, diesen Moment noch etwas hinauszögern zu können. „Ja, das sollten wir“, sagte sie schwach. „Doch nicht gemeinsam.“
Zu ihrer Verwunderung schien Tajo kein bisschen bestürzt über diese Aussage. „Ach!“ Er sah sie mit gespieltem Tadel an. „Geht das schon wieder los!“
„Ja, allerdings!“ Ralea war hin und her gerissen, seine Art furchtbar schmeichelhaft zu finden, weil er so hartnäckig war, oder wütend zu werden, weil er ihre Selbstbeherrschung damit ziemlich auf die Probe stellte. „Wir können nicht zusammen gehen. In dem Vertrag unserer Ahnen steht geschrieben, dass sich nur ein Auserwählter eines Volkes auf den Weg machen wird ...“
Tajo stöhnte genervt. „Wen juckt denn noch, was diese toten Opis vor dreihundert Jahren vor sich hingekritzelt haben?“
Ralea klappte ein paar Mal den Mund auf und wieder zu, ehe sie antworten konnte: „Mich juckt das! Und dich sollte es eigentlich auch jucken!“
Er verdrehte die Augen. Ralea fragte sich, ob wohl alle Baumlinge so respektlos waren, oder ob sie einfach ein besonders schlimmes Exemplar erwischt hatte. „Und was ist, wenn die Gnome wiederkommen?“, fragte er plötzlich.
Ralea wurde totenblass. „Du hast gesagt, die kommen nicht wieder.“
„Ja, aber ich bin mir nicht sicher. Alles, was ich weiß, basiert auf Geschichten, die man sich abends vorm Einschlafen erzählt. Garantieren kann ich für nichts.“
Ralea wusste nicht, was sie erwidern sollte. Allein bei dem Gedanken an diese scheußlichen gelben Augen brach ihr kalter Schweiß aus. „Was wollten die bloß von mir?“, flüsterte sie anstatt einer Antwort.
Tajo schien es leidzutun, ihr so eine Angst eingejagt zu haben. Sanft sagte er: „Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass die Erfüllung deiner Aufgabe Vorrang vor allem anderen hat. Ist doch so, nicht wahr?“
Ralea nickte. „Auf jeden Fall.“
„Und genau das ist in Gefahr, wenn ich dich weiterhin allein und schutzlos durch die Gegend laufen lasse. Es wäre also nur vernünftig, wenn ich dich begleite. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass unsere Ahnen da einer Meinung mit mir wären.“ Er grinste triumphierend und verschlang schmatzend den Rest seiner Knarrwurzknolle.
Ralea starrte nachdenklich vor sich hin. Das war allerdings ein schlagkräftiges Argument. Ihr war zwar immer noch nicht ganz klar, warum er so versessen darauf war, sie zu begleiten – denn das war er ja allem Anschein nach schon gewesen, bevor die Gnome sie überhaupt überfallen hatten – aber das war ihr im Moment auch egal. Sie war viel zu erleichtert, nun einen guten Grund zu haben, ihm gemeinsam gehen zu können – und natürlich war sie froh, jemanden zu haben, der sich verteidigen konnte, falls die Gnome wiederkamen.
„Ich denke, du hast recht“, stimmte sie zu und gab sich Mühe, ihre Freude nicht allzu sehr zu zeigen.
Tajo tat sich da keinen Zwang an. „Wunderbar!“, rief er laut. „Dann sind wir von nun an also Gefährten!“ Ralea lächelte schüchtern.
Ohne ein weiteres Wort machten sie sich auf den Weg. Ralea knabberte beim Gehen an dem Rest ihrer Knarrwurzknolle und warf ihrem neuen Gefährten hin und wieder einen verstohlenen Blick aus dem Augenwinkel zu. Dieser schien sich nicht darüber zu wundern, dass Ralea intuitiv wusste, wo es lang ging.
„Aber natürlich“, dachte sie, „er hat mich ja schließlich seit gestern Morgen beobachtet und sich wahrscheinlich seinen Teil gedacht.“
Das Schweigen hielt nicht lange an. Schon nach kurzer Zeit fing Tajo zwanglos an zu reden. Er fragte sie alles Mögliche über die Menschen: „Wie baut ihr eure Häuser?“, „Welche Festtage kennt ihr?“, „Stimmt es, dass ihr Angst vor Bäumen habt?“, und hörte ihr dann mit solch ehrlichem Interesse zu, dass auch Ralea schließlich ihre ganze Scheu vor ihm verlor. Sie plapperte munter drauf los, erklärte ihm alles, so gut sie konnte, und traute sich später sogar, auch ihm ein paar Fragen zu stellen: „An welche Götter glaubt ihr?“
Tajo sah sie überrascht an. „Wir glauben nicht an Götter.“
„Nicht? Oh ...“ Ralea verstummte beschämt. Der Glaube an die Götter war für sie so selbstverständlich, dass sie überhaupt nicht darüber nachgedacht hatte, dass andere Völker keine Götter kennen könnten.
„Wir glauben an ... wie könnte man das in deine Sprache übersetzen ... vielleicht mit: Naturgeister ...“, erklärte Tajo.
Ralea forderte ihn stumm dazu auf, weiterzusprechen.
„Überall gibt es diese Geister: in den Pflanzen, im Wasser, in der Luft, der Erde – ja sogar im Feuer und in den Sternen. Sie sind immer bei uns, doch sie greifen nicht in unser Leben ein, so wie es deine Götter tun. Sie sind bloß stumme Beobachter und sorgen dafür, dass die Elemente der Welt in Einklang miteinander stehen.“
„Der Gedanke ist schön“, murmelte Ralea. „Und wie ist das mit den Elfen? Glauben sie auch an diese Naturgeister?“
„Nein, soweit ich weiß, glauben sie weder an Götter noch an Geister.“
Ralea machte große Augen. „Das heißt, sie glauben an gar nichts?“ Diese Vorstellung schockierte sie. „Wie erklären sie sich dann den Wechsel der Jahreszeiten? Oder ... die Erschaffung der Welt?“
Tajo zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, bei ihnen gibt es viele Sagen und Mythen. Außerdem haben ihre Gelehrten die abenteuerlichsten Erklärungen. Aber Genaues kann ich dir dazu auch nicht sagen.“
Ralea nickte nachdenklich. Ihr war es nie in den Kopf gekommen, dass Baumlinge und Elfen keine Götter kennen könnten. Andere Götter vielleicht – aber gar keine?
„Erzähl mir etwas über eure Götter“, bat Tajo.
„Nun“, begann Ralea etwas unsicher unter dem Blick seiner grünen Augen. „Es gibt sieben verschiedene Götter, die jeweils für ein Gebiet zuständig sind, über das sie wachen. Zum Beispiel Ferenza, die Göttin der Fruchtbarkeit, oder Gorat, den Gott der Jagd.“
„Wenn also jemand über lange Zeit hinweg viel Pech bei der Jagd gehabt hat, dann muss er zu Gorat beten?“
„Oder ihm Opfergaben darbringen, um ihn milde zu stimmen. Ganz genau.“
Auch Tajo wirkte nachdenklich. Ralea konnte ihm nicht ansehen, was er darüber dachte, doch ihr lag auch schon die nächste Frage auf der Zunge: „Stimmt es, dass ihr auf den Bäumen lebt?“