- -
- 100%
- +
„Ja, das stimmt.“ Tajo lächelte vor sich hin. „In den nördlicheren Wäldern sind die Bäume sehr viel höher und breiter als hier. Wir leben oben in ihren Kronen, die über die anderen Bäume hinausragen.“
„Das heißt, ihr habt euch Baumhäuser gebaut“, sagte Ralea fasziniert.
„Gebaut kann man es eigentlich nicht nennen“, erklärte Tajo. „Es stimmt, dass wir in einer Art Baumhaus leben, doch diese sind natürlich gewachsen. Die Bäume formen ihre Äste zu einem oder auch mehreren miteinander verbundenen Räumen. Die Wände bestehen zum größten Teil aus Blättern und sind erstaunlich robust gegenüber Wind und Regen. Natürlich müssen wir hin und wieder mit den entsprechenden Werkzeugen und Materialien nachhelfen, doch die meiste Arbeit macht der Baum selbst.“
„Das ist ja unglaublich!“, rief Ralea. „Wie bringt ihr die Bäume dazu, so zu wachsen? Mit Magie?“
„Oh nein!“ Tajo schüttelte entschieden den Kopf. „Mit Magie haben wir Baumlinge genauso wenig am Hut wie ihr Menschen. Nein, es ist viel einfacher: Wir bitten einfach.“
Ralea stutzte. „Bitten? Wen denn?“
„Na die Bäume!“ Tajo sah sie an, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt. „Wusstest du nicht, dass wir mit den Bäumen reden können?“
Ralea sah ihr Gegenüber skeptisch an. „Nein“, sagte sie schließlich.
„Du glaubst mir nicht.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung Tajos. Sein leicht enttäuschter Unterton machte Ralea ein schlechtes Gewissen.
„Doch, ich glaube dir“, sagte sie, obwohl sie sich wirklich nicht ganz sicher war.
„Mich wundert bloß, dass du das nicht wusstest“, meinte Tajo.
„Die Menschen wissen herzlich wenig über euch“, sagte Ralea. Sie musste wieder an Tajos Behauptung denken, dass sich die Menschen für nichts außerhalb ihres Dorfes interessierten. „Schade eigentlich“, überlegte sie. „Wenn wir mehr über die Baumlinge wüssten, würden wir sie auch besser verstehen.“ Doch Raleas Wissensdurst war noch immer nicht gestillt. „Aber wie lebt ihr dort oben?“, fragte sie. „Und wie oft kommt ihr von den Bäumen runter?“
Tajo schien sich über Raleas Neugier zu freuen und ihr ihre anfängliche Skepsis ihm gegenüber verziehen zu haben. „Die Bäume sind über Seilbrücken und Stege miteinander verbunden, sodass man dort oben große Strecken zurücklegen kann, ohne auf den Boden runter zu müssen. Einen Brunnen wie die Menschen haben wir beispielsweise nicht. Wir trinken das Regenwasser aus den trichterförmigen Blättern eines Baumes, der hier nicht vorkommt. Trotzdem kommen wir fast täglich von den Bäumen herunter, um zu jagen.“ Er grinste.
Ralea schaute verträumt zu dem dichten Blätterdach über ihr. „Es muss wunderbar sein, dort oben zu leben“, seufzte sie.
„Ja, das ist es wirklich.“ In Tajos grünen Augen lagen Stolz und Sehnsucht.
Ralea nahm all ihren Mut zusammen und stellte die Frage, die ihr eigentlich schon den ganzen Tag auf der Zunge lag: „Warum bist du dann von dort weggegangen? Warum willst du mich unbedingt begleiten? Ich dachte, die Baumlinge würden so gut wie nie ihren Wald verlassen.“
Eine Zeit lang antwortete Tajo nicht, sondern starrte nur vor sich hin. Schließlich sagte er leise und ein wenig traurig: „Weil ich nicht so bin, wie alle anderen Baumlinge.“
Er machte eine kurze Pause, dann sah er Ralea tief in die Augen. „Es stimmt, normalerweise verlassen die Baumlinge nie den Wald. Was wollen sie schließlich auch anderswo? Im Wald gibt es alles, was sie kennen, lieben und zum Leben brauchen. Im Grunde sind sie in dieser Beziehung gar nicht so viel besser als die Menschen, nur dass ihr Gebiet nicht ganz so beschränkt ist. Die Baumlinge erzählen sich zwar immer Geschichten von fernen Ländern oder vom Gebirge am anderen Ende von Romanien, doch mit eigenen Augen sehen wollen sie diese Gegenden nie.“
„Auch da sind sich die meisten Menschen aus meinem Dorf und die Baumlinge gar nicht so unähnlich“, dachte Ralea.
„Bei mir war das schon immer anders“, fuhr Tajo unterdessen unbeirrt fort. „Seit ich denken kann, war da diese Abenteuerlust in mir. Diese Neugier auf alles Fremde und Unbekannte – dieses Fernweh! Ich habe schon immer davon geträumt, einmal loszuziehen und diese fernen Gegenden zu erkunden, eins dieser Abenteuer zu erleben, von denen immer erzählt wird. Die anderen haben mich wohl nie wirklich ernst genommen. Noch nicht mal meine Eltern oder Geschwister – ich habe zwei kleine Brüder und eine große Schwester. Und als alle davon zu reden begannen, dass Luramos bald aufwachen würde und dass ein Mensch losziehen würde, um den Zauber zu erneuern, da habe ich meine Chance gewittert. Ich dachte, ich könnte mich diesem Menschen anschließen. Ich habe am Abend vor meiner Abreise mit meinen Eltern darüber geredet, doch sie haben bloß nachsichtig gelächelt, als wäre ich ein drei Jahre altes Kleinkind, das davon erzählt, dass es einen Drachen gesehen hat!“
Seine Stimme und sein Gesicht spiegelten die Bitterkeit und den Zorn wider, den er empfand. „Ich habe mich einfach in der Nacht davongeschlichen. Es hat niemand versucht, mich aufzuhalten.“ Er zuckte mit den Achseln, fast so, als wolle er die Gefühle wegwischen, die er gerade so offen gezeigt hatte. „Tja, und als ich dann bei deinem Dorf ankam, wurdest du gerade verabschiedet. Ich war genau rechtzeitig am richtigen Ort. Ich bin dir hinterhergelaufen, weil ich erst weiter wegwollte vom Dorf, bevor ich mich dir zeige. Wahrscheinlich war der Sicherheitsabstand, den ich dabei gehalten habe, ein bisschen zu großzügig bemessen, denn ich habe erst reichlich spät gemerkt, dass ich nicht der Einzige war, der dir hinterher geschlichen ist.“ Er lächelte, als wollte er sich dafür entschuldigen. „Und den Rest kennst du ja.“
Ralea nickte. Was für eine Ironie des Schicksals, dachte sie, dass Tajo so gerne in die weite Welt ausziehen wollte und dafür nur belächelt wurde, während sie, die eigentlich nie von ihrem Dorf hatte weggehen wollen, dafür auserwählt worden war, durch halb Romanien zu ziehen und das größte Abenteuer ihres Lebens zu bestehen. „Ehrlich gesagt bin ich verdammt froh darüber, dass du mit mir kommst.“ Die Worte waren schon draußen, bevor Ralea überhaupt merkte, was sie da gesagt hatte. Sie wurde vor Scham puterrot.
Doch Tajo schien sich darüber zu freuen. Er grinste sie wieder breit und an und sagte: „Tatsächlich? Ich hatte schon fast befürchtet, du wärst so eine abgebrühte Einzelgängerin, der ich eigentlich tierisch auf den Geist gehe.“
Ralea lachte laut auf. „Ich? Oh nein! Hast du denn nicht gesehen, wie sehr ich geheult habe, als ich mich von meiner besten Freundin verabschiedet habe? Am liebsten wäre ich nie weggegangen von meinem Dorf, aber ich musste, weil der Elfenstein nur eine einzige Wahl akzeptiert. Und die fiel nun mal auf mich.“
Auch Tajo lachte leise. „Gut, wirklich geglaubt habe ich es auch nicht. Dafür heulst du wirklich zu viel rum.“
„Was?!“, rief Ralea mit gespielter Entrüstung und schubste Tajo gegen die Schulter, sodass er mitten ins Gebüsch fiel.
„He!“, rief er überrascht und fing sich gerade noch an einem tief hängenden Ast ab. Ralea streckte ihm die Zunge raus und wich seiner Hand aus, als er versuchte, sie zu erwischen.
Eine Weile alberten sie noch herum, dann liefen sie schweigend weiter. Dabei war es kein unangenehmes Schweigen. Ihre gegenseitigen Geständnisse hatten die Atmosphäre zwischen ihnen aufgelockert und sie näher zusammen gebracht.
Ralea konnte nicht aufhören, sich über sich selbst zu wundern. Sie war noch nie so ausgelassen gewesen gegenüber jemandem, den sie erst einen Tag lang kannte. Doch das lag wahrscheinlich an ihrer außergewöhnlichen Situation. Außerdem hatte Tajo so etwas Heiteres und Gelassenes an sich, das es einfach unmöglich machte, ihm gegenüber schüchtern zu sein.
Als es auf den Abend zuging und sie sich erneut eine Stelle zum Schlafen suchten, dachte Ralea bei sich, dass sie als Fremde aufgewacht waren und als Freunde einschlafen würden.
*
Waldgeflüster
Kaum dass der nächste Morgen graute, wurde Ralea ziemlich unsanft dadurch geweckt, dass jemand sie an den Haaren zog. Verschlafen schlug sie die Augen auf – und schaute mitten in das feixende Gesicht einer Pitzi. Ruckartig fuhr sie auf und stieß im selben Moment einen spitzen Schrei aus: Ihre Haare waren mit einem Strauch hinter ihr verknotet.
Die Pitzi lachte keckernd und flog davon. Erst jetzt bemerkte Ralea, dass es nicht die einzige war. Überall um sie herum flogen Pitzi durch die Luft, räumten ihren Proviantbeutel aus, schmissen seinen Inhalt durch die Luft und spielten mit Tajos Pfeilen, der gerade erst von Raleas Schrei aufgewacht war.
Auch er war sofort hellwach und sprang auf die Füße – seine Haare hatten sie wenigstens nicht mit irgendwelchen Pflanzen verknotet! Während er fluchend versuchte, dem Pitzi seine Pfeile abzunehmen, machte Ralea sich daran, ihre Haare von dem Strauch zu lösen. Ihre Kopfhaut brannte höllisch und sie riss sich einige Strähnen aus, bis sie endlich aufstehen konnte.
Pitzi waren eine Unterart der Elfen. Sie waren etwa so groß wie Raleas ausgestreckte Hand, hatten libellenartige Flügel und lebten im gesamten Waldgebiet Romaniens. Sie hatten blasse Haut und ebenso farbloses Haar, das sie jedoch gewissenhaft mit dem Saft von giftigen Beeren färbten. Sie fertigten sich einfache Kleidung aus Blättern und unterhielten sich mit ihren piepsigen Stimmen in einer schnellen, unverständlichen Sprache. Sie verirrten sich zwar selten in die Menschendörfer, doch Ralea hatte sie trotzdem schon kennen – und fürchten – gelernt. Zwar waren sie nicht besonders groß, doch machten sie das durch ihre Anzahl und Dreistigkeit locker wett. Es waren furchtbare Quälgeister, die jede Chance nutzten, um jemandem eins auszuwischen oder ihm einen Streich zu spielen. Und wenn man sich dann aufregte und versuchte, sie zu verscheuchen, stachelte man sie nur noch mehr an.
Tajo hüpfte immer noch wild durch die Gegend und versuchte den Pitzi seine Pfeile abzunehmen. Diese waren leider viel zu schnell für ihn: Sie flogen dicht an ihn heran, streckten ihm die Zunge raus und wedelten mit den Pfeilen vor seiner Nase herum, doch wenn er dann zupacken wollte, flogen sie blitzschnell davon und lachten ihn lauthals aus.
Unter anderen Umständen hätte wohl auch Ralea über Tajos wilde Luftsprünge lachen müssen, doch jetzt fuhr ihre Hand wie automatisch zu dem Elfenstein unter ihrem Leinenhemd – ein Glück, er war noch da! – und dann sprintete sie auf drei Pitzi zu, die ihren Lederbeutel in die Luft hoben und auf den Kopf stellten, sodass der gesamte Inhalt sich auf den Waldboden ergoss.
Als sie Ralea auf sich zu kommen sahen, wollten sie erschrocken davon fliegen, doch der Beutel war für drei so kleine Wesen ziemlich schwer und Ralea hatte das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Sie erwischte den Beutel an einer Ecke und riss ihn mit einem Ruck an sich. Die Pitzi drohten ihr mit ihren kleinen Fäusten und beschimpften sie in ihrer keckernden Sprache, doch Ralea beachtete sie nicht weiter. Sie bückte sich schnell und versuchte die Sachen wieder in den Beutel zu stecken. Bevor jedoch auch nur die Hälfte wieder sicher verstaut war, kamen andere Pitzi und schnappten die Lebensmittel weg.
Ralea richtete sich stöhnend auf und sah mutlos in die Luft, die voll von lachenden und rufenden Pitzi war. Sie saßen sogar auf den Bäumen und bewarfen sie und Tajo mit Vogelbeeren.
Tajo kam keuchend neben ihr zum Stehen. „Das hat keinen Zweck“, sagte er. Er hatte bloß drei seiner Pfeile retten können. „Lass uns einfach weitergehen und sie ignorieren. Irgendwann wird es ihnen langweilig, dann schmeißen sie die Sachen auf den Boden und hauen ab.“
Ralea nickte und drückte ihren Lederbeutel an die Brust. Würde sie ihn auf den Rücken ziehen, hätten die Pitzi ihn in kürzester Zeit erneut geplündert. So machten sie sich also wieder auf den Weg und gaben sich Mühe, die frechen Pitzi nicht zu beachten. Das war gar nicht so einfach, denn sie schwirrten überall um sie herum, die Luft war erfüllt von ihrem nervtötendem Stimmengewirr und sie rissen an Kleidern und Haaren.
Tajo ließ sich davon nicht beirren. Er ging einfach stur geradeaus und knurrte nur einmal leise: „Wie ich diese Nervensägen hasse!“ Ralea versuchte, es ihm gleichzutun und nach einer Weile bewahrheitete sich tatsächlich seine Vorhersage: Einer nach dem anderen ließen die Pitzi die Pfeile und das Essen fallen und schwirrten zurück in den Wald. Tajo und Ralea sammelten ihre Habseligkeiten auf, beide seufzten erleichtert auf und setzten ihren Weg nun ungestört fort.
Schon bald begannen sie wieder, sich gegenseitig Fragen zu stellen, und schließlich vertrieben sie sich die Zeit damit, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Denn auch wenn Tajo sich vielleicht in vielerlei Hinsicht von seinen Artgenossen unterschied, so teilte er doch auf jeden Fall ihre Liebe zu Geschichten und Erzählungen. Er fragte Ralea nach ihrer Lieblingsgeschichte und sie erzählte ihm eine, die auch Morgana ihr früher immer und immer wieder hatte erzählen müssen.
„Sie handelt von einer Elfe, die ohne Flügel geboren worden ist“, begann Ralea ihre Erzählung. „Deshalb wird sie immer von den anderen Elfen bemitleidet und bemuttert. Zwar wird sie nie gehänselt, da so etwas grundsätzlich bei den friedliebenden Elfen nicht vorkommt, aber sie wünscht sich sehnlichst, gleichberechtigt zu sein und respektiert zu werden. Außerdem wünscht sie sich von ganzem Herzen, fliegen zu können. Eines Tages ist sie furchtbar traurig und geht in den Wald, um allein sein und weinen zu können. Dort findet sie ein verwundetes Reh, das im Sterben liegt. Sie ist darüber so schockiert und ergriffen, dass sie ihren eigenen Kummer völlig vergisst. Wie es der Zufall will, läuft ihr eine gute Fee über den Weg, die ihr die Erfüllung eines Wunsches verspricht. Sofort wünscht sich die Elfe, dass das Reh wieder gesund ist. Die Fee schwenkt ihren kleinen Zauberstab und schon ist das Reh geheilt. Es steht auf, wirft der überglücklichen Elfe einen langen, dankbaren Blick zu und springt davon. Erst da geht der Elfe auf, dass sie gerade die Chance ihres Lebens vertan hat. Trotzdem kann sie nicht wirklich traurig darüber sein, weil sie weiß, dass sie etwas Gutes getan hat. Die Fee aber bemerkt die Niedergeschlagenheit der kleinen Elfe sofort und sieht auch ihr gutes Herz, das schwer vor Kummer über ihren unerfüllbaren Wunsch ist. Als Belohnung für ihre selbstlose Tat zaubert sie der Elfe die größten und schönsten Flügel aller Zeiten und von da an lebt die kleine Elfe glücklich bis an ihr Lebensende.“
Als Ralea geendet hatte, schaute sie erwartungsvoll zu Tajo herüber. Sie konnte lange nicht so schön erzählen wie Morgana, doch diese Geschichte hatte sie schon so oft gehört, dass es ihr trotzdem ganz gut gelungen war, so fand sie selbst zumindest.
„Es ist keine besondere Geschichte“, sagte sie schnell, als müsse sie sich rechtfertigen. „Aber als ich klein war, war das meine absolute Lieblingsgeschichte.“
„Sie ist wirklich schön“, sagte Tajo. In seinen grünen Augen konnte Ralea lesen, dass er es absolut ehrlich meinte.
„Und? Was ist deine Lieblingsgeschichte?“, fragte sie neugierig.
„Da muss ich nicht lange überlegen!“, antwortete der Baumling eifrig und fing sofort an zu erzählen. Das Erzählen schien ihm ebenso in die Wiege gelegt worden zu sein wie Morgana. Auf jeden Fall nahm Ralea schon nach den ersten vier Sätzen kaum noch den Wald um sich herum wahr, so eingenommen war sie von dem Klang seiner Stimme und den Bildern, die sie in ihrem Kopf wach rief.
In Tajos Geschichte ging es um einen jungen Baumling, der eines Nachts davon träumte, dass es noch Drachen gab, die in den Bergen lebten und die Magier überlebt hatten. Als er aufwachte, war er felsenfest davon überzeugt, dass er eine Vision gehabt hatte, die ihm die Waldgeister gegeben hatten. Er erzählte den anderen Baumlingen davon, doch die lachten ihn nur aus und sagten ihm, dass er sich das aus dem Kopf schlagen solle. Er dachte aber nicht daran und machte sich auf, nach diesen Drachen zu suchen. Nach einer langen und beschwerlichen Reise quer durch die Drachentod-Wüste erreichte er das nördliche Gebirge.
Lange Zeit suchte er vergebens, doch als er gerade aufgeben wollte, fand er tatsächlich Drachen. Sie waren anders, als diejenigen, die früher im Zentrum Romaniens gewohnt hatten – sie waren lang und dünn wie Schlangen und hatten zwei Hauer aus Kristall, die denen von Wildschweinen ähnelten – doch sie waren ebenso friedlich wie ihre toten Verwandten. Außerdem waren sie begeistert von der Vorstellung, in der Drachentod-Wüste leben zu können und so der ewigen Kälte zu entfliehen. So kehrten wieder Drachen in Romanien ein und der Baumling wurde bei seiner Rückkehr als Held gefeiert.
„Toll!“, hauchte Ralea, als Tajo geendet hatte und sie wieder in die Wirklichkeit eintauchte. „Du kannst einfach super erzählen. Und die Geschichte ist auch wunderschön!“ Ihr war es total ernst damit. Die Vorstellung, dass es außer Luramos noch Drachen geben könnte, war einfach unglaublich. Sie konnte nicht anders, als zu fragen: „Meinst du, es könnte etwas Wahres daran sein?“
Tajo sah sie überrascht an. „Daran, dass es noch Drachen gibt? Ich glaube nicht. Es ist nur eine Geschichte, die sich irgendjemand ausgedacht hat. Vielleicht ist dir ja auch aufgefallen, dass sie ein paar Lücken in der Handlung hat. Über die erste kann man ja noch hinwegsehen: nämlich darüber, dass ein Baumling freiwillig seinen Wald verlässt, um durch Romanien zu wandern!“ Er lachte leise.
Auch Ralea lächelte amüsiert. „Na gut. Und was noch?“
„Es wird mit keinem Wort erwähnt, wovon die Drachen sich ernähren sollen. In der Drachentod-Wüste gibt es doch nichts mehr, weder Pflanzen noch Tiere.“ Ralea seufzte leicht enttäuscht. Natürlich war es nur ein Märchen, doch der Gedanke hatte sie dennoch fasziniert. „Ich mag die Geschichte trotzdem gerne“, sagte Tajo und Ralea stimmte ihm begeistert zu.
Langsam bekamen sie Hunger und beschlossen, eine Pause einzulegen. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm und Ralea teilte etwas von dem gepökelten Fleisch und dem Brot unter ihnen auf, das sie schweigend aßen, jeder in seine Gedanken vertieft. Als sie sich etwas ausgeruht hatten, tranken sie noch etwas – Tajo trug an einem Gürtel eine kleine Wasserflasche bei sich – und gingen weiter.
Ralea genoss die friedliche Atmosphäre des Waldes immer mehr. Sie lauschte beim Laufen andächtig dem Singen der Vögel, atmete tief die frische Waldluft ein und bewunderte fasziniert die Schönheit um sich. Sie konnte nicht fassen, dass ihr diese vorher nie aufgefallen war, obwohl ihr Heimatdorf doch von Wald umgeben war. Aber sie war damit groß geworden, dass die Erwachsenen sie vor dem Wald und seinen Gefahren gewarnt hatten. Immer wieder war ihr und den anderen Kindern eingebläut worden, sich bloß nicht zu weit vom Dorf zu entfernen. „Bei meiner Rückkehr wird sich das ändern“, dachte Ralea nun bei sich. Der Gedanke gefiel ihr. Außerdem war Ralea begierig darauf, noch mehr Geschichten zu hören, und Tajo wurde nicht müde, ihr eine nach der anderen zu erzählen.
Schließlich fragte er sie, ob sie noch eine Lieblingsgeschichte kannte. Nach kurzem Überlegen antwortete Ralea: „Eine der Geschichten, die die Kinder aus meinem Dorf immer gerne gehört haben, ist die, in der es um die Magier, Luramos und den Elfenstein geht. Doch die kennst du ja auch schon ...“
„Erzähl sie trotzdem! Es ist bestimmt interessant mal zu hören, wie die Menschen das überliefert haben“, meinte Tajo. Ralea nickte und gab sich Mühe, die Geschichte, so gut es ihr möglich war, zu erzählen. Als sie fertig war, sagte Tajo: „Im Großen und Ganzen ist sie genau so wie die, die wir Baumlinge kennen. Bloß den Teil mit Ketaris hast du vergessen.“
Ralea runzelte irritiert die Stirn. „Wieso? Was hab ich denn da vergessen?“
„Das mit seiner Rettung und so weiter ... du weißt schon.“
Ralea schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber ich weiß nicht, was du meinst.“
Tajo sah sie mit großen Augen an. „Nicht? Erzählt man sich bei euch nicht davon, dass Ketaris, der junge Sohn von Argaron, überlebt hat, irgendwo in den Bergen ausharrt und auf Rache hofft?“
„Nein. Wie soll er denn überlebt haben? Der Elfenstein hat sie doch alle vernichtet.“
„Ja, aber als der Elfenkönig den Stein in die Höhe hielt, erkannte Argaron, welche Macht in ihm gespeichert war. Noch ehe der König dazu kam, diese Macht auf sie loszulassen, wusste er, dass sie alle sterben würden, und wandte all seine Magie darauf, seinen Sohn Ketaris weit weg in die Berge zu zaubern, wo die Kraft des Elfensteins ihm nichts mehr anhaben konnte. Dort lebt er angeblich bis heute und sinnt auf Rache.“
Noch einmal schüttelte Ralea den Kopf. „Davon habe ich noch nie etwas gehört. Hältst du die Geschichte für wahr?“
Er zuckte mit den Schultern. „Nein, ehrlich gesagt nicht. Aber es macht das Ganze etwas spannender, findest du nicht?“
Ralea stimmte ihm zu. „Und er soll da jetzt seit dreihundert Jahren leben? Warum hat er sich denn nie gezeigt? Nein, wenn das stimmen würde, dann wüssten die Menschen sicher auch etwas davon.“ Sie konnte Tajo förmlich ansehen, wie er sich eine bissige Bemerkung über das Wissen der Menschen verkniff.
Stattdessen sagte er: „Vermutlich hast du recht.“ Er gähnte einmal tief und herzhaft. „Es ist mittlerweile ziemlich spät. Sollen wir so langsam mal zu Abend essen?“
Ralea lachte laut auf. Das Wort Abendessen schien hier – mitten im Wald und weit weg von ihrem Dorf – völlig fehl am Platze zu sein. „Na klar“, erwiderte sie spöttisch. „Zur Abwechslung heute mal Pökelfleisch und Brot?“
Tajo grinste geheimnisvoll. „Da habe ich eine bessere Idee. Warte hier auf mich!“ Und schon sprang er ins Gebüsch und entschwand ihren Blicken.
„He!“, rief Ralea überrascht. „Was machst du denn?“
„Bin gleich wieder da!“, rief er zurück. „Kannst ja schon mal Feuer machen!“ Seine Stimme schien schon ein Stück entfernt zu sein.
Verdattert hockte Ralea sich auf eine dicke Wurzel, die ein Stück aus der Erde ragte, und setzte ihren Beutel ab. Was für eine Wohltat, ihn nicht mehr auf dem Rücken tragen zu müssen! Trotzdem fühlte sie sich nicht wohl. Sie hatte sich so sehr an Tajos Anwesenheit und seine muntere Stimme gewöhnt, dass der Wald ihr ohne ihn auf einmal schrecklich still und leer vorkam. Wie von selbst wanderte ihre Hand unter ihr Hemd und schloss sich fest um den Elfenstein. „Stell dich nicht so an“, ermahnte sie sich selbst. Sie zwang sich, nicht zu sehr auf die Schatten zu achten, welche die Büsche und Bäume auf den Waldboden warfen, und begann, ein paar Stöcke und Äste zu sammeln. Diese schichtete sie dann so auf, wie sie es bei Tajo gesehen hatte. Mit den Feuersteinen einen Funken zu schlagen, bereitete ihr mehr Probleme, doch schließlich gelang es ihr. Der Anblick der Flammen, die an dem Holz leckten, erfüllte sie mit leisem Stolz. Das Knistern und die Wärme des Feuers beruhigten sie und sie entspannte sich etwas. Trotzdem hoffte sie, dass Tajo bald zurückkommen würde.
Sie musste nicht mehr lange warten. Kurze Zeit später trat er aus dem Gebüsch, in den Händen einen toten Vogel, dessen Art Ralea völlig unbekannt war.
Tajo grinste wieder sein breites Grinsen, das Ralea mittlerweile schon bekannt war, und fragte gut gelaunt: „Besser als Brot und getrocknetes Obst?“
„Allerdings!“, sagte Ralea erfreut. Sie wunderte sich schon gar nicht mehr darüber, dass sie ihn nicht hatte kommen hören. Er konnte sich fast völlig geräuschlos durch den Wald bewegen und sah dabei auch sehr viel eleganter aus als Ralea, unter deren Schritte immer wieder Äste knackten oder Blätter raschelten.
Der Baumling machte sich daran, den Vogel zu rupfen und mithilfe eines kleinen Messers, das er an seinem Gürtel trug, auszunehmen, während Ralea einen Stock suchte, auf den sie ihn später aufspießen konnten.
Als Tajo fertig war, fragte Ralea: „Ist es eigentlich einfach, mit Pfeil und Bogen umzugehen?“ Sie war fasziniert von dem Gedanken, dass Tajo den Vogel ganz allein gefangen hatte, und kam sich furchtbar dumm vor, als ihr bewusst wurde, dass sie sich nur wieder von ihrem Proviant hätte satt essen können.