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Doch der Baumling antwortete nicht, sondern starrte nur mit ausdruckslosem Gesicht auf den Vogel, den er nun langsam am Spieß über dem Feuer drehte.
„Tajo?“, fragte Ralea etwas lauter.
Keine Reaktion.
„He, Tajo!“ Endlich blickte er sie an und riss die Augen auf, als hätte sie ihn gerade aus dem Schlaf gerissen.
„Alles in Ordnung bei dir?“ Ralea beobachtete etwas besorgt, wie er sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr.
„Ja, sicher.“
„Was war denn los?“
„Ich habe bloß ... zugehört.“
Ralea wurde nur immer verwirrter. „Zugehört? Aber warum hast du mir dann nicht geantwortet?“ Erst da ging ihr auf, dass er nicht ihr zugehört hatte und sie zog scharf die Luft ein. „Du meinst, du hast den Bäumen zugehört?“
Er nickte mit düsterer Miene. „Sie scheinen beunruhigt zu sein.“
Ralea gab sich Mühe, ihre Skepsis nicht zu zeigen. Wenn Tajo sagte, dass er mit den Bäumen reden konnte, dann würde es auch so sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er einen Scherz machte, dazu wirkte er zu ernst. Aber trotzdem war der Gedanke, dass die Bäume ihm gerade etwas erzählt hatten, einfach zu absurd. Sie betrachtete die umstehenden Baumstämme, auf die das Licht des Feuers unstete Schattenspiele zauberte, ganz genau. Fast wartete sie darauf, dass sich ein Astloch bewegen und zu ihr sprechen würde. Doch natürlich tat sich nichts.
„Beunruhigt?“, fragte Ralea nun an Tajos letzte Bemerkung anknüpfend. „Und weswegen?“
Der Baumling machte ein düsteres Gesicht. „Es ist merkwürdig“, antwortete er leise. „Ich habe so etwas noch nie erlebt, aber ... sie wollen es mir nicht genau sagen.“
Ralea schwieg betroffen. Tajo hatte ihr auf ihre vielen neugierigen Fragen hin erzählt, dass sich Bäume und Baumlinge seit jeher unterhalten konnten. Junge Baumlinge mussten es noch nicht mal lernen, sie konnten es von Geburt an. Und da die Bäume sich auch untereinander unterhielten und aufmerksame Beobachter waren, wussten sie quasi alles, was sich in ihrer Reichweite abspielte, und gaben dies an die Baumlinge weiter, denen dadurch ein unerschöpfliches Wissen zuteilwurde. „Der Wald hat mehr Augen und Ohren, als du denkst“, hatte Tajo gesagt. „Die Bäume kriegen alles mit, was hier passiert. Und sie vergessen nie.“
Tajo schien wieder in Gedanken versunken zu sein. Oder lauschte er wieder auf die Bäume? Ralea wartete noch einen kurzen Moment, doch dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. „Was ist denn nun los?“, fragte sie ihrerseits beunruhigt.
Tajo sah sie nachdenklich an. Seine ernsten Augen und das flackernde Licht des Feuers, das im dunkler werdenden Wald auf sein Gesicht fiel, verliehen ihm einen fast schon gespenstischen Anblick. „Ich weiß nicht genau“, sagte er langsam. „Aber es scheint irgendwie mit dir zu tun zu haben.“
Raleas Herz schlug schneller. „Mit mir?“, flüsterte sie ängstlich.
Er nickte. „Ich glaube, sie wollen es dir erzählen.“
„Was soll das heißen?“
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Tajo leicht gereizt. „Das wollen sie mir eben nicht sagen!“
Ralea schlang die Arme um ihren Körper. Ihr war auf einmal kalt, trotz der Wärme des Feuers. War Tajo jetzt etwa sauer auf sie? Er konnte doch wohl nicht ihr die Schuld dafür geben, dass die Bäume ihr etwas sagen wollten, das sie ihm vorenthielten.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte sie vorsichtig.
Tajo schien seine Gereiztheit auf einmal leidzutun. Ralea hatte schon gemerkt, dass er sich schnell wieder beruhigte, wenn er sich mal aufregte. Sanft sagte er: „Du musst keine Angst haben. Sie wollen dir nichts Böses.“
„Ich habe keine Angst!“, entgegnete Ralea trotzig und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Wie albern es doch war, sich vor Bäumen zu fürchten! Was konnten die ihr schon tun, selbst wenn sie wollten? Es war bloß diese gruselige Vorstellung, die ihr Unbehagen auslöste. Die Vorstellung, dass die Bäume ein Bewusstsein hatten und sogar mit ihr reden wollten. Ralea löste die Arme und setzte sich aufrechter hin. Der Vogel war nun goldbraun und verströmte einen köstlichen Geruch, doch ihr war der Appetit vergangen. „Kannst du ihnen nicht sagen, dass sie es dir erzählen sollen und du es dann an mich weitergibst?“
Tajo nickte. Er schaute konzentriert in die Flammen und murmelte etwas vor sich hin. Er sprach so leise, dass Ralea nichts verstehen und nur die Bewegungen seiner Lippen verfolgen konnte. Ein Windstoß ging daraufhin durch den Wald und die Blätter über ihnen in den Baumkronen rauschten laut. Doch irgendetwas war merkwürdig, unnormal. Erst einen Herzschlag später ging Ralea auf, dass sie den Wind überhaupt nicht gespürt hatte. Ehe sie genauer darüber nachdenken konnte, schüttelte Tajo den Kopf. „Hoffnungslos. Sie wollen es mir einfach nicht sagen.“ Er sah so enttäuscht und verwirrt aus, dass Ralea ihn am liebsten in den Arm genommen und getröstet hätte. „Sie sagen nur immer wieder ...“ Er stockte.
„Was?“, fragte Ralea, obwohl sie eigentlich nicht sicher war, ob sie es wirklich wissen wollte. „Was sagen sie?“
„Sie sagen, dass du es lernen musst. Sie zu verstehen, meine ich. Ich soll es dir beibringen.“ Er sah sie erwartungsvoll an.
Ralea musste das erst mal verdauen. Was war so wichtig, dass die Bäume unbedingt wollten, dass sie lernte, mit ihnen zu reden? Und überhaupt: Warum wollten sie es ihr sagen, einem Menschenmädchen, und nicht Tajo, einem Baumling?
„Meinst du wirklich, ich kann ihre Sprache lernen?“
Tajo zuckte mit den Achseln. „Wir müssen es auf einen Versuch ankommen lassen. Es scheint ihnen sehr wichtig zu sein. Die Bäume stellen nur äußerst selten Forderungen und wenn, dann muss man sie unbedingt erfüllen. Das sind wir Baumlinge ihnen schuldig.“
Einen Moment lang fragte Ralea sich, was sie denn den Bäumen schuldig war. Doch sie schob diesen Gedanken beiseite. Sie war mittlerweile viel zu neugierig darauf, was die Bäume ihr wohl sagen wollten. Und die Vorstellung, mit ihnen reden zu können, erfüllte sie mit freudiger Erwartung.
„Ist es schwer?“, fragte sie aufgeregt. „Muss ich eine richtig neue Sprache lernen? Oder einen Zauberspruch murmeln?“
„Immer der Reihe nach“, lachte Tajo. „Die Frage, ob es schwer ist oder nicht, kann ich dir ohnehin nicht beantworten. Für mich ist es so selbstverständlich wie das Atmen, wir Baumlinge verstehen die Bäume schon früher als unsere eigenen Eltern, wenn wir noch Babys sind. Das liegt daran, dass die Bäume keine Sprache im eigentlichen Sinn sprechen. Und damit ist deine zweite Frage ja auch schon beantwortet: Du wirst keine neue Sprache lernen müssen. Sie werden dich auf jeden Fall verstehen, auch wenn du noch so leise flüsterst. Und du wirst natürlich keinen Zauberspruch aufsagen müssen. Ich hab dir doch schon mal gesagt, dass wir Baumlinge mit Magie nichts am Hut haben.“
Ralea wurde immer aufgeregter. Ihre Angst hatte sich vollständig verflüchtigt. Gespannt fragte sie: „Und? Fangen wir schon heute Abend an?“
Tajo lacht leise und machte sich daran, den fertig gegarten Vogel vom Spieß zu lösen. Er gab Ralea eine Hälfte, die nun auch wieder Appetit hatte. „Na ja, je früher, desto besser, oder nicht?“ Ralea biss herzhaft in das zarte Fleisch. Es schmeckte himmlisch. Kauend wartete sie darauf, dass Tajo weiter sprach.
Auch er aß erst einen Bissen. Dann sagte er nachdenklich: „Ich werde versuchen, dir zu erklären, wie es geht. Das ist gar nicht so einfach. Also, erst einmal: Die Bäume sprechen eigentlich nicht. Sie flüstern.“
„Die Bäume flüstern“, hauchte Ralea. „Das hört sich wunderschön an.“
„Das ist es auch“, stimmte Tajo ihr zu. „Und du hast es schon oft gehört. Vielleicht sogar täglich.“
Ralea sah ihn fragend an. „Wie meinst du das?“
„Das meine ich.“ Tajo wies mit einer unbestimmten Geste über sich. Ralea schaute nach oben. Das Blätterdach über ihr war so dicht, dass es den Nachthimmel fast vollständig verdeckte. Nur ab und zu sah man ein paar Sterne aufblitzen. Doch was meinte Tajo? Sie hatte es schon oft gehört? Dann konnte sie es wohl nicht sehen. Natürlich nicht. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich völlig auf die Geräusche des Waldes. Die Vögel waren schon verstummt, doch sie vernahm kleinere Tiere, die im Unterholz raschelten, ab und zu einen Ast bewegten, der knackte, und sie hörte tatsächlich das leise Wispern der raschelnden Blätter über ihr ...
„Die Blätter!“, rief Ralea. „Das Rauschen der Blätter! Ist das das Flüstern der Bäume?“
Tajo nickte. „Sehr gut“, lobte er.
Ralea lächelte zufrieden. „Ich muss also lernen, dieses Rauschen zu verstehen?“
Wieder nickte Tajo. „Ganz genau.“
Raleas Lächeln war wie weggewischt. Das schien ihr unmöglich. Wie sollte das gehen? Gab es da etwa einen Trick, den Klang jedes einzelnen Blattes zu unterscheiden? Und ergaben dann verschiedene Klänge, die man miteinander kombinierte, Wörter und Sätze? Das zu lernen würde Jahre dauern – wenn nicht ein ganzes Leben.
„Das schaffe ich nie“, sagte sie mutlos.
Tajo schluckte den letzten Bissen des Abendmahls hinunter und winkte unbesorgt ab. „Sei doch nicht direkt so unmotiviert – du hast doch noch nicht mal angefangen! Morgen erkläre ich dir, wie du es machen musst. Jetzt ruh dich erst mal aus.“ Er legte sich ganz nah an das Feuer und gähnte herzhaft. „Gute Nacht!“
„Gute Nacht“, murmelte Ralea und legte sich ebenfalls zur Ruhe. Sie rollte sich zu einer kleinen Kugel zusammen und lauschte beim Einschlafen auf das Flüstern und Wispern der Blätter. Was die sich wohl gerade erzählten ...
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