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Anfang Mai hatte er das erste Mal an ihrer Tür geklingelt. Sie hatte gezögert, ob sie öffnen solle.
Aber sie sah ihn aus ihrem Fenster mit seinem Rollstuhl dort unten vor der Haustür. Er erschien ihr erbärmlicher und hilfloser als sie selbst. Doch sie sollte sich täuschen.
Sie öffnete. Er lud sie ein. Er sähe sie häufig an seinem Haus vorbei gehen und er würde sich sehr freuen, wenn sie bei Gelegenheit mit ihm Kaffee trinken würde.
Zu dieser Zeit hatte sie schon mächtig an Gewicht zugenommen. Ihre Haare waren kurz geschoren, ihre Hüte der Reihe nach, bis auf einen einzigen, vernichtet, ihre Ringe und Perlenketten dem Juwelier überlassen, und sie frönte ihren neuen Leidenschaften, dem Lesen und den Delikatessen.
Sie zögerte. Sie war es nicht mehr gewöhnt, mit jemandem persönliche Worte auszutauschen, und sie bestand einen leisen, inneren Kampf, bis sie sich entschließen konnte. Sie sagte schließlich zu, sagte wieder ab, sagte wieder zu, bis sie dann doch eines Tages an seinem Tisch saß und mit ihm Kaffee trank. Es war mittlerweile wieder August geworden.
Er hatte Pflaumenkuchen gebacken, und sie wunderte sich, wie er im Rollstuhl sitzend so vieles bewältigen konnte, was ihr selbst nicht gelang. Sie schwieg hartnäckig und antwortete nur einsilbig auf seine Fragen.
Sie tranken den heißen Kaffee auf der Terrasse.
Diese war mit Hecken und Weinlaub zugewachsen.
Man sah sie von der Straße nicht.
Das beruhigte sie.
Sie aß von dem Pflaumenkuchen zwei Stück und sah sich in seiner Wohnung um: alles weitläufig und viel Platz. Er konnte sich überallhin bewegen. In einer Ecke ein altes Klavier. Bilder im Raum verteilt. Sie glühten in Farben und reflektierten das Licht. Sie konnte sie nicht direkt ansehen, so sehr blendeten sie ihre Augen. Das Atelier?
Sie wollte es nicht sehen.
Bücher. In den Regalen viele Bücher.
Das kam ihr im Augenblick vertrauter vor.
Und auch ein Gemälde an der Wand! Hieroglyphengleich waren Farben und Zeichen darauf verteilt. Man musste seine Geheimschrift entziffern. Sie griff fast wahllos eines der Bücher, stellte es wieder in das Regal, suchte weiter. Er reichte ihr einen dünnen Band, den sie nach Hause trug mit dem Titel: “Glut“
„Warum diesen Band?“, dachte sie. Die Glut ist in mir erloschen. Bedauerlich. Sie fühlte sich für einen Moment wieder kalt und leer.
Sie las, brachte das Buch zurück, trank wieder Kaffee bei ihm, las ein neues Buch, das er für sie bereitgelegt hatte, brachte es wieder zurück, bis sie eines Abends zusammenblieben und gemeinsam Wein tranken. An diesem Abend rollte er seinen Rollstuhl zum Klavier und begann zu spielen, eine Gefahr, die sie witterte, die sie aber ausblendete.
Doch sie spürte, das hier war ihre Welt.
Die Bücher, die Musik, die Bilder, die Farben, die Formen, das Licht. Das Glück war zurückgekommen. Was im Einzelnen passiert war, konnte niemand sagen. Charlotte B. erschien nach einer längeren Pause wieder im Ort, schön, schlank und mit Hut.
Diesmal trug sie ein neues Modell mit lila Federn, und die Menschen drehten sich wie früher bewundernd, neidisch, lästernd und anerkennend nach ihr um.
Ergraut, aber elegant, an der Seite den zwanzig Jahre jüngeren Maler Max Rendy im Rollstuhl, betrat sie das Rathaus, um das Aufgebot zu bestellen. Der Ort stand Kopf. Einige waren skeptisch, mache schüttelten den Kopf, viele beglückwünschten sie. Anschließend gab es ein Fest mit einem spektakulären Feuerwerk, das den Himmel über der Ortschaft erleuchtete. Auch Nachbarn, Freunde und Bekannte waren eingeladen.
Paula war ebenfalls dort. Sie stand allein und ein wenig frierend im Garten und sah der funkelnden, blitzenden, krachenden und Sterne sprühenden Illusion zu, die sich am Nachthimmel abspielte. Sie dachte an ihre eigene, verflossene Liebe, an die Einsamkeit und an die Zweisamkeit.
Charlotte und Max Rendy eröffneten wenig später ihre bis heute erfolgreiche Galerie, in der sie mit Fingerspitzengefühl und Fachkenntnis junge Talente entdeckte, und er sich ein Publikum für seine eigene Kunst erobern konnte.
PAULAS NEUES LEBEN
Paula lernte KA in der Galerie Rendy anlässlich einer Ausstellung kennen. Er stand mitten im Raum, umgeben von einer Schar eifriger Frauen.
Sie umschwärmten ihn wie Bienen einen Honigtopf.
KA aber konzentrierte sich auf die Begrüßung und die Laudatio, beobachtete das Geschehen um sich herum, versenkte sich in die Betrachtung der Bilder, blieb seinen Begleiterinnen gegenüber freundlich und zugewandt, ließ sich aber nicht vereinnahmen. Er schien unabhängig, was Paula beindruckte.
Paula beobachtete ihn von ihrem Standort aus. Sie fand ihn sympathisch. Sein markantes Gesicht, seine Haarpracht, sein wilder Bart hatten etwas von einem Seemann an sich, der die Weite liebte, den Blick frei bis zum Horizont. Gleichzeitig aber strahlte er Sensibilität und Feinfühligkeit aus. Paula fand: eines seltene Mischung.
Immer wieder schaute sie zu KA herüber, der eigentlich Konrad Anton Kirsch hieß, der aber der Abkürzung halber KA genannt wurde. Paula übernahm sogleich den Namen und konnte sich später nicht mehr umstellen.
KA also war an diesem Tag so eng von einer ihn umschwärmenden Damenschar umgeben, dass es nicht zu einer näheren Begegnung kam, auch nicht zu einem einzigen Wort. Sie ging wieder nach Hause und KA strebte in eine andere Richtung davon. Doch Paula traf ihn von da an immer wieder, mal bei Jazzkonzerten, bei einer Ausstellung oder einem Vortrag, ohne dass sich ein Kontakt ergab. Irgendwann aber musste es passieren. Paula war nun schon acht Jahre allein. Sie war ausgefüllt und zufrieden mit ihrem Leben. Aber sie begann die Zweisamkeit zu vermissen.
Die Begegnung mit KA entzündete ihre Phantasie, sodass sie sich öfter dabei ertappte, wie sie ihn in ihre Zukunft einplante und mit ihm unterwegs war.
Auch KA hatte begonnen, Paula bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen der regionalen Kulturszene zur Kenntnis zu nehmen. Er sah sie rank und schlank, eine leger gekleidete, jugendlich wirkende Person, etwa gleich alt wie er selbst, mit ergrauten Haar, in das der Friseur hübsche, rotbraune Strähnchen gezaubert hatte. Hinter ihrer dicken Hornbrille entdeckte er aufmerksame Augen. Einmal lächelten sie sich zu.
Ansonsten nahm er sie wahr wie einen vorübergehenden Film, an den man sich gerne erinnert. Sein wirkliches Leben spielte aber in einem anderen Orchester. KA war Leiter einer Institution für Erwachsenenbildung und dort von Dozentinnen und Sekretärinnen umgeben, die ihn anhimmelten, ihn bewunderten und tagtäglich in den Genuss seiner hervorragenden Fähigkeiten kamen: Klugheit und scharfer Verstand, soziales Einfühlungsvermögen und Souveränität sowie männliche Ausstrahlungskraft. Er wurde aufgrund dieser Eigenschaften der Held mancher Frauenträume. Einige machten sich Hoffnungen, da KA seit kurzem solo war.
Paula wollte keinen Helden. Vor allem keinen Frauenhelden, deshalb ging sie ihm aus dem Wege und suchte keine Gelegenheit, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Sie wollte eine seriöse Reisebegleitung in ihrem Alter. Keine Abenteuer. Keine Aufregung. Die Gelegenheit ergab sich aber trotzdem, und es ergab sich noch eine zweite Gelegenheit, die dann zu einer dauerhaften Verbindung führte.
Allein unterwegs wie so häufig, an einen Pfeiler im Raum gelehnt, ein Sektglas in der Hand, feierte sie mit anderen geladenen Gästen die neue dadaistisch anmutende Malerei von Max Rendy, zu dessen Ehre die heutige Matinee stattfand.
Nichts als Schnipsel, Collagen aus aktuellen Zeitungen auf Leinwand fixiert, und darüber große, schwarze Kleckse, die alles infrage stellten, und mittig Fotografien aus der digitalen Welt, Tablets, Smartphones, Notebooks, fragile Zeichen wie aus der Geisterwelt gerufen. Die Tradition hatte mal wieder ausgedient. Max beschäftigte sich seit einiger Zeit mit dem Thema und hatte seine eigene Version anlässlich eines DADA Gedenkjahres auf die Leinwand gebracht.
Außerdem hing ein großes Plakat mit dem Text aus einer DADA-Zeitschrift der 1920er Jahre mitten im Raum, das allen in die Augen sprang.
Was ist Dada?
Eine Kunst? Eine Philosophie? Eine Politik?
Eine Feuerversicherung? Oder: Staatsreligion?
ist dada wirkliche Energie?
oder ist es>>>>>>Garnichts.
Alles?
In dem Augenblick, als Paula das Plakat las, entdeckte sie, an die Rückseite der Säule gelehnt, KA, alleine, ohne Frauenschwarm. Er wandte sich ihr zu und begann ein Gespräch über die Ausstellung.
Paula war in dem Moment, als er sie ansprach, so überwältigt, dass sie das Sektglas in der Hand vergaß und es zu Boden gleiten ließ. Das Ganze sollte ja gut beginnen!
KA lachte!
Scherben bringen Glück!
Er nahm ein großes, altmodisches Taschentuch aus seiner Westentasche – extra für solche Gelegenheiten, wie er sagte – und wischte die Sektbrühe von Paulas Kleid - oder Rock oder Hose, oder was auch immer sie damals trug.
Um sie herum sammelte man die Scherben ein und im Nu wäre das Malheur vergessen gewesen, wenn sie nicht kurz darauf zum zweiten Mal das Sektglas hätte fallen lassen.
Diesmal ergoss sich der süße und prickelnde Inhalt in den Ausschnitt von KAs Sekretärin, die herbeigeeilt war (möglicherweise um KA vor fremden Frauen zu retten) und dabei in der Enge der Umstehenden über den Schuh eines Mann stolperte, der in einer Gesprächsrunde direkt vor Paula stand.
Obwohl Paula daran unschuldig war, weil sie angerempelt wurde, nahmen sie die anwesenden Gäste nun als störend und unbeholfen wahr.
Nur KA ließ sich nicht beeindrucken.
Er blieb souverän.
Er kannte die Ursache.
Er verlor seinen Humor nicht.
Er wies im allgemeinen Getümmel laut darauf hin, dass es sich heute um eine DADA-Ausstellung handeln und die Einlage als Impuls ausgezeichnet zum Thema passen würde. Ja, dass sie die Einstimmung in diese Kunstform erst so recht anschaulich machte, worauf ein entspanntes Gelächter entstand, und die Umstehenden Paula zu dieser guten Idee beglückwünschten. Es ging dann so weit, dass Max Rendy sein Sektglas nahm, das vor ihm auf einer Staffelei platzierte Gemälde mit dem prickelnden Inhalt sozusagen taufte und gut gelaunt die Aktion als geplante Performance bezeichnete.
Damit aber endete vorerst wieder der Kontakt zwischen Paula und KA.
Erst Wochen später, im Winter, kam es zu der wirklichen und entscheidenden Annäherung. KA war bei einem Vortrag in der Stadtbibliothek anwesend. Auch Paula war dort. Sie interessierte sich für das Thema, einen Reisebericht über das Leben in den kanadischen Wäldern. Zu spät gekommen, hatte sie nahe der Eingangstür Platz genommen. Sie wollte auch sehr bald nach Hause.
Sie verabschiedete sich von einigen Bekannten, die sie immer irgendwo traf und legte draußen, kurz hinter der Eingangstür einen uneleganten Salto hin: sie war der Länge nach ausgerutscht.
Es war spiegelglatt. Eisglätte. Blitz Eis. Glück.
Das war die Gelegenheit für KA, der sie in sein Auto beförderte und sie direkt bis zu ihrer Haustür fuhr. Von diesem Zeitpunkt an hatte auch Paula wieder einen Begleiter.
KASCHMIR UND SEIDE
Vorige Woche waren Paula und KA schon zum dritten Mal im Tramuntana-Gebirge und besuchten dort auch zum dritten Mal den Ort Valldemossa, der mit seinem Kartäuserkloster weit über das Tal in Richtung Palma blickt, und vor dem sich die mediterranen Gärten mit Zitronen-, Orangen- und Olivenhainen bis weit in die Ebene ziehen. Sie besichtigten dort noch einmal eben dieses Kloster.
Die Kartause, eine Einsiedelei.
Die Kartäuser, ein Schweigeorden.
Nur einmal in der Woche trafen sich die Mönche in ihren weißen Gewändern für eine halbe Stunde zum Gespräch in der Bibliothek. Sonst Stille, Gebet und Kontemplation, soweit nicht die Gärten, welche vor den Mönchszellen liegen, bearbeitet und gepflegt werden mussten, um den Lebensbedarf sicherzustellen.
Auch KA und Paula schweigen oft. Sie ähneln den Kartäusermönchen. Manchmal hängen sie ihren Gedanken und Träumen nach, jeder für sich allein.
Manchmal schweigen sie bewusst, denken über dieselben Geschehnisse nach und warten nur auf den richtigen Moment, die Worte zu finden.
Manchmal ist das Schweigen an der Seite von KA für Paula das höchste Gefühl. Ja, es ist ein hoheitsvolles Gefühl, zu schweigen und still zu sein, wo man sonst nur Belangloses spricht. Man ist eingehüllt in das Wesentliche.
Man kann vordringen zu Dingen, die man sonst nicht wahrnimmt. Manchmal. Ja, manchmal ist das Schweigen ein großer Segen. Manchmal aber auch ein Fluch, wenn die Dialoge sich verirrt haben und Missverständnisse aufgetreten sind. Dann kann das Schweigen eisig sein.
Jetzt gab es keine Missverständnisse. Jetzt schlenderten sie bei Sonnenschein und unter Palmen und Orangenduft durch die Gärten von Valldemossa.
Paula schob ihre Hand in KAs Hand. Sie ließen sich vom Touristenstrom durch enge Pflasterstraßen treiben, wie man mühelos in einem Fluss zu einem Ziele treibt.
KA blieb manchmal stehen und fotografierte einen Brunnen, ein altes, mallorquinisches Haus, geschmückt mit Blumenpracht und handbemalten Wandfliesen, einen Waschtrog, wie man ihn in den Dörfern noch benutzte, und dann standen sie vor einer Boutique, die recht schöne, einheimische Handarbeiten bot: Tongefäße, Bilderrahmen und Schalen aus Olivenholz, glitzernde Quasten und Handtäschchen aus bunten Glasperlen, bestickte Tücher sowie einen breiten Schal, ein Einzelstück, den man als Stola verwenden konnte. Eine spanische Handarbeit.
Sie kauften den Schal als Mitbringsel für Paulas Tochter Susanna. Er war von warmem Braun, übersät mit kleinen, bunten Blüten, die mit einer zartgrünen Blätterranke verbunden waren. Das würde zu Susanna passen, ihrem braunen Haar, ihren grünen Mandelaugen. Sie könnte sich den Blütenschal um die Schultern legen, um sich an kühlen Sommerabenden im Garten sitzend zu wärmen, oder ihn als Schmuckstück tragen, wenn sie ausginge und so weiter und so fort, dachte Paula laut vor sich hin. Zufrieden stiegen sie in ihren Land Rover, einen Leihwagen, den sie gar nicht bestellt hatten und der ihnen großzügig zur Verfügung gestellt worden war, weil das gebuchte Objekt kurz vor Übergabe den Geist aufgegeben hatte.
Sie fuhren nun bequem zu ihrem Ferienort zurück.
Es war später Nachmittag. Während die Bucht von Andratx immer näher rückte und das blaue Meer ihnen wieder entgegenleuchtete, sagte KA: Wir wollen auch einen Schal für Veronica besorgen.
Veronica, KAs Tochter, ist viel auf Reisen. Alle freuen sich das ganze Jahr über auf das Wiedersehen an Weihnachten. – Natürlich werden sie einen ebenso schönen Schal für Veronica kaufen. Morgen werden sie wieder losfahren und einen suchen.
Sie wollten ein Tuch für Veronica besorgen, und zwar auch in spanischer oder mallorquinischer Handarbeit und keines „Made in China“ oder „Made in Indian“. Es soll ähnlich sein wie das von Susanna. „Ja“, sagte Paula, „Veronica soll auch einen solch schönen Schal haben. Wir werden ihn finden.“ Doch das war nicht so leicht.
Sie suchten mehrere Tage lang. Der Urlaub ging dem Ende zu. Überall hingen Tücher und Schals in allen Farben und Nuancen, jedoch keines der bunten Stofftücher war ein Stück einheimischer Handarbeit, nicht vom spanischen Festland und nicht von der Insel, auf der sie ihre Ferien verbrachten. Auch fern der Touristenströme schienen sie kein Glück zu haben.
Dann aber endlich – in den letzten Urlaubstagen, als sie wieder durch das Tramuntana-Gebirge fuhren, über Serpentinen und durch Felsschluchten, an herrlichen Ausblicken über das strahlende Mittelmeer vorüber und schließlich in eine abgelegene Bergwelt vordrangen, kamen sie in einen majestätischen Ort mit einer hohen Kirche und einer steilen Treppe, die hinauf führte zu einem Brunnen.
Sie kämpften sich die Stufen hoch – Schritt für Schritt. Es war ein heißer Tag. Paula war müde und die Hoffnung auf so einen Schal hatte sie schon fast aufgegeben. KA nicht – KA gab niemals auf.
Und oben, hinter dem Brunnen, fanden sie tatsächlich ein kleines Geschäft mit spanischen Leder- und Webwaren, – und im Fenster hing der gesuchte Schal. Weinrot. Eine mallorquinische Handarbeit, eine Stola, bestickt mit Blüten. Schön war sie.
Schöner hatte Paula nie ein Tuch gesehen. Ihr Herz klopfte, als es so vor ihr lag.
Rot wie Burgunderwein.
Rot wie die Liebe.
Rot wie der Schmerz.
Rot wie die Lebensfreude.
Geschmückt mit einer Girlande von goldgelben Margeriten und zartgrünen Blätterranken. Ein Einzelstück, ein Unikat, nicht doppelt erhältlich.
Ein Zauber ging von ihm aus.
Wie eine Komposition von Chopin lagen die Blumen auf dem Tuch, eine Symphonie von Blütenranken, die in einer ganz großen, sich öffnenden Blume als Finale endete. Die zierliche, schwarzhaarige Geschäftsinhaberin nahm das Tuch aus dem Fenster. Paula hielt ein Gewebe aus Kaschmir und Seide in den Händen – die Blütenranke darauf: ein Kunstwerk der Handarbeit. Was es kostete, war für KA keine Frage mehr.
Wir nehmen es, sagte er.
Es wird ein Weihnachtsgeschenk, und er meinte, Veronica. Paula erschrak. Sie kam schlagartig wieder in der Wirklichkeit an. Denn in ihren Gedanken gehörte der Schal längst ihr. Wie viele Jahre hatte sie ihn gesucht. Wie viele Sehnsüchte hatten sie getrieben. Wie viel Mangel hatte sie erlitten, wie viele Träume geträumt, wie viele Wege war sie ergebnislos gegangen, um diesen Schal zu finden.
Rot wie die Liebe. Rot wie Blut.
Rot wie die Freude.
Rot wie das Leben. Rot wie die Kraft. Rot wie Burgunderwein. Der Schal gehörte ihr. Er war die Fülle des Lebens, extra für sie selbst gemacht.
Hundert Hände hatten ihn gewebt, hundert Finger sich blutig gestochen, und fein und zart wurde er für eine Königin bestickt. So träumte Paula – und sie erwachte und sah: Der Schal gehörte Veronica, und als die Spanierin ihn nahm und ihn sich eng um den Körper wickelte, um ihn dann wie zum Tanz auseinanderzubreiten, wurde ihr Wunsch, ihn zu besitzen, noch größer.
Aber auch der Schmerz, dass sie ihn nicht besitzen würde, wurde ebenfalls groß, so, dass ihr plötzlich die Tränen über die Wangen liefen.
Still und schweigend hatte Paula zu weinen und dann zu lachen begonnen. Sie weinte und lachte gleichzeitig - und sie stand da, mitten in dem vornehmen und dunklen Verkaufsraum, während draußen die Sonne gnadenlos schien und war zerrissen in einem Kampf, und während der Film ihres zurückliegenden Lebens vor ihrem inneren Auge ablief, nahm KA ganz sanft Paulas Hand und sagte: Der Schal gehört dir.
Die spanische Geschäftsinhaberin, jung, zierlich, dunkelhaarig wie Veronica, lächelte verständnisvoll, sprach mallorquinisch und vermischte ihre Muttersprache mit einigen deutschen Wörtern. Paula schien es, als sänge eine Nachtigall oder eine Lerche:
Stola ist wunderbar.
Stola passt Signora wundervoll.
Signora müssen Stola tragen.
Sie legte ihr das Tuch um die Schulter. Weich und warm hüllte es Paula ein. In diesem Tuch würde sie sterben wollen. Und doch, gleichzeitig, nahm Paula schon Abschied. Sie spürte den notwendigen Verzicht, auch wenn sie sich ihm noch nicht stellen wollte. Der erste Augenblick des Abschieds war schon eingetreten, ehe sie den Schal jemals besaß.
Doch sollte es noch eine Weile dauern, bis Paula ein wirkliches „Ja“ sagen konnte. Aber es war ihr bewusst: Dieser Schal gehörte nicht ihr. Das Schicksal hatte ihn für Veronica bestimmt. Es würde kein Weg daran vorbeiführen.
Oder doch?
War es Paulas Schicksal, immer zu verzichten?
Was bedeutete überhaupt Schicksal?
Reden wir uns das nicht oft ein, um uns vor Entscheidungen zu drücken? Was gab ihr die Gewissheit, dass der Schal, die Stola, der Blütentraum Veronica gehöre?
Paula war der Blick nicht entgangen, mit dem KA kurz zuvor die Stola betrachtet hatte und sie dann entschlossen kaufte. Für Veronica, nicht für Paula.
Veronica, die er so selten sah. Veronica sollte den Schal von ihrem Vater haben. Ein Schal der Lebensfreude und der Schönheit, ein Zeichen menschlicher Phantasie und Kunst. Ein Zeichen auch seiner Verbundenheit. Ja, Paula musste lernen, mit Großmut zu verzichten. Sie musste mit Freude diesen Schal weitergeben. Der Akt brauchte ihren inneren Segen.
Einige Tage noch dauerte es, bis diese Entscheidung gefallen war. Einige Tage noch dauerte der innere Kampf. Auf der Rückfahrt mit dem Land Rover durch das Gebirge Mallorcas, vor ihr die Felsen abstürzend ins Meer, sang und weinte es in ihr, und immer wieder strich die Hand von KA über Paulas Arm, während sie fuhr und fest das Steuer hielt, und sie schwiegen wie die Mönche über das, was sich in ihren Seelen abspielte.
Sie schwiegen viel die nächsten Tage. Jeder hing seinen Gedanken nach und die Erinnerungen begannen sie zu umgarnen und hielten sie die ganze Zeit gefangen in ihrem Netz.
Sechzig Jahre, ein Leben!
Kindheit und Jugend, Liebe und Verlust. Aufgaben.
Arbeit, Krankheit, Hunger und Sehnsucht. – Kinder, Eltern und Großeltern tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Jeder war für sich alleine und doch waren sie einander verbunden - unausweichlich mit dem roten, mallorquinischen Schal, der zu einer Metapher wurde für das Leben selbst.
Jeden Abend packten sie ihn aus. Sie öffneten das zarte, goldumrandete Geschenkpapier und breiteten ihn auf der Bettdecke aus. Dann packten sie ihn wieder ein.
Jeden Abend, bis zur Abreise.
Am letzten Abend saßen sie wie gewohnt in der Ecke ihres Speisesaales und blickten auf das Meer.
Viele Gäste waren schon abgereist. Der Winter nahte. Leise spielte Musik. Die Kellner brachten die Suppe, die Vorspeisen, den Wein – da nahm KA lächelnd die Hand seiner Begleiterin und sagte: Paula, ich habe lange überlegt.
Ich mache Dir noch einmal das Geschenk.
Der rote Schal – er gehört Dir.
In diesem Moment erst traf Paula endgültig die Entscheidung. Wehmütig – und doch schon frei, gab sie den Schal ab. Die Tränen, die aufstiegen, waren Tränen der Erlösung. Sie hatte sich von dem Requisit, das sie an ihre Lebensträume erinnerte, verabschiedet. So war es: Der Schal gehörte Veronica und sie überließ ihn ihr gerne.
Zu KA sprach sie leise, aber entschlossen. Höre zu, sagte sie, ich danke dir von ganzem Herzen. Dein Geschenk an mich zeigt auch deine Liebe zu mir, aber ich habe in meinem Inneren die Gewissheit, dass ich dein Geschenk nicht annehmen darf. Der Schal gehört Veronica. Denn es ist ein Geschenk eines Vaters an seine Tochter, das ein Zeichen der Liebe setzen soll und sagen: So ist das Leben, voller Schmerz, aber auch voller Freude und Schönheit.
So schön und kostbar ist das Leben. Lebe es mit Leidenschaft, dann erhältst du die Fülle. Das wolltest du Veronica mit deinem Geschenk sagen. Ich habe es in deinen Augen gelesen und deine Gedanken erkannt.
Und, sage selbst, wie sollte ich den mallorquinischen Schal mit Freude tragen, wenn ich weiß, das Schicksal hatte ihn für Veronica bestimmt als ein Zeichen der Liebe zwischen Tochter und Vater. – KA schaute Paula lange überrascht und mit Bewunderung an. Dann lächelte er und nickte erleichtert.
Bald danach erhielt Paula eine Fotografie vom mallorquinischen Schal, so, wie sie es sich gewünscht hatte. Es war nur ein Foto, ein fernes Abbild dieses einen Traumes. Aber Paula träumte ihn weiter – und träumte ihn immer wieder neu. Es war der Traum vom erfüllten Leben und der leidenschaftlichen Zustimmung und dem Mut, den Paula dazu immer wieder braucht.
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