Il Vesuvio - Die Ehrenwerte Gesellschaft

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»Das wäre wirklich außerordentlich reizend.« Der Butler deutete eine galante Verbeugung an.
Francine kicherte. Frederic und Marie verstanden es perfekt, die Gesten und Redeweisen der vornehmen Gesellschaft nachzuahmen, so zu tun als ob … Schon viele Male hatten sie alle damit bestens unterhalten. Die Französin stieg nun in den angenehm temperierten Kombi und rief: »Au revoir, Frederic!«
Marie fuhr den Wagen langsam an. Das Tempo würde sich schnell ändern, fädelten sie sich erst in den täglichen Chaosverkehr Neapels ein. Langsame oder gar ängstliche Autofahrer waren dort fehl am Platz. Nicht, dass Marie die Fahrt scheute, sie fürchtete nur die Unberechenbarkeit der starken Böen. Das ging selbst den routiniertesten einheimischen Autofahrern nicht anders.
Auf den Straßen sah man noch die Überreste der gestrigen Fußballveranstaltung in Form von weggeworfenen Pappbechern, Flaschen und zerrissenen Papierfähnchen des leider unterlegenen neapolitanischen Clubs. Bei diesem Wind lohnte es sich nicht, den Müll wegzuräumen.
»Se bastasse una canzone …«, trällerten Francine und Marie. Die Eros Ramazotti-CD im Auto verleitete sie, laut mitzusingen. Francines französisch klingendes Italienisch wirkte geradezu erheiternd.
»Madonna mia!«, ärgerte sich Marie über einen die Fahrbahn blockierenden Kleinlaster. Hupend und gestikulierend reihte sie sich nach dem riskanten Überholmanöver in den inneren Kreis der Tangentiale ein. Wenig später befand sie sich auch schon in der Nähe des Hauptbahnhofes, von dem aus sie durch unzählige vicoli, kleine Gässchen, zur Galleria gelangte. Ohne den Motor abzustellen, ließ sie Francine aussteigen.
»Hast du dein telefonino mit?«
»Ja, ja, isch ‘abe ihm.« Francine nickte zusätzlich noch bejahend.
Marie beugte sich in Richtung Beifahrersitz, um Francine noch etwas zu sagen. »Ich ruf' dich an, wenn ich vom Hafen wegfahre. Dann hast du gut fünfzehn Minuten, um dich hier wieder einzufinden.«
»Wunderbar. Soll isch für disch schauen wegen die 'übsche Bluse?«, erkundigte sich die Französin. Beim letzten gemeinsamen shopping war ihr nicht entgangen, dass sich Marie für dieses Teil, eine Seidenbluse, interessiert hatte.
Marie überlegte. »Ja, kauf sie«, stimmte sie zu.
»Viel Spaß bei die Fische«, rief Francine, warf die Autotür zu und war – ruckzuck – im Eingangsportal der Galleria verschwunden. Es blieben ihr gut zwei Stunden Zeit für Einkäufe.
Über Schleichwege, abseits der Hauptverkehrsstraße, gelangte Marie zum Frachthafen, der auf der anderen Seite des Personenhafens lag. Die Möwen, die laut kreischend über den Fischerkähnen kreisten, ließen sich auch von den Windböen nicht beirren, die zum Glück etwas nachgelassen hatten. Marie zwängte sich in eine eigentlich kaum vorhandene Parklücke und hielt die Luft an, als sie sich durch einen engen Spalt aus dem Auto quetschte.
Wie immer, wenn sie hier am Hafen war, galt ihr erster Blick dem Vulkan, dem die Gegend – im Ernstfall eines Ausbruchs – auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Berechnungen zufolge würde der Lavastrom des Vesuvs höchstens sechs Minuten brauchen, um das Meer zu erreichen. Sechs Minuten! Natürlich gab es auch Evakuierungspläne für einen solchen Fall. Doch eine Räumung der gesamten Stadt würde mindestens sechs Tage in Anspruch nehmen – ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Und so hoffte jedermann, der hier und in der Umgebung des Vulkans wohnte, dass der Vesuv noch viele Jahre weiterschlafen werde. Oft schon war Marie oben beim Krater gewesen und hatte in den tiefen Schlund hinabgeschaut, dessen Sohle sich so harmlos gab. Allgegenwärtig waren dort oben nur der feine Schwefelgeruch und die Blöcke der erstarrten Lava.
Marie wandte sich ab. Wollte sie noch vor der frühen Dämmerung des kurzen Wintertages mit der Auswahl der Fische fertig sein, war es Zeit, damit zu beginnen.
Die kleinen Kutter schaukelten auf den vom Wind bewegten Wellen. Geschäftig liefen am Kai Händler, Großabnehmer und Seeleute umher. In der Luft lag intensiver Fischgeruch und vom Meer wehte eine salzige Brise. Beides Dinge, die Marie immer wieder begeisterten. Sie liebte dieses Land und seine Leute, die so offen und voller Herzlichkeit waren, kannte man sie erst einmal. Anfangs war die Art ihres Lebensstils sicher gewöhnungsbedürftig, hatte man sich damit aber angefreundet, war es nicht schwer, sich hier wohlzufühlen.
***
Die Fensterläden – die er vor dem Einschlafen nicht geschlossen hatte – schlugen im Takt der Böen gegen die Hauswand. Ronald versuchte das Geräusch zu ignorieren, indem er die Decke über Ohren zog. Fehlanzeige.
»Shit«, fluchte er und kroch ärgerlich aus dem Bett, öffnete das Fenster und fing die Läden ein. Er verriegelte sie und im Zimmer entstand sofort der Eindruck von Nacht. Es war jedoch fast acht Uhr morgens.
Ronald hatte seit gestern nichts mehr gegessen und sein Magen meldete dies ungnädig. Ob Mortimer und Landmann auch schon wach waren? Karl konnte er ja unbesorgt über das Zimmertelefon anzurufen, bei Malcolm ließ er es lieber, um sich den Morgen nicht selbst zu verderben. Wenn nicht heute, vielleicht oder sogar ziemlich sicher brachten die nächsten Tage eine Entscheidung, was den Verbleib Mortimers in der Crew betraf. Denn das war ihm nach reiflicher Überlegung am Vorabend klargeworden: Ein Verhalten wie das seine konnte das gesamte Konzept zum Scheitern bringen!
Er wählte Karls Zimmernummer und der nahm auch sofort ab. »Morning, Karl. Ich gehe zum Frühstück und wollte fragen, ob du mitkommst?«
»Ich mache mich auch gleich auf dem Weg«, antwortete der Neuseeländer. »Wir treffen uns bei der Treppe.«
Karl trug wie Ronald Jeans und einen dicken Pullover. Sein Gesicht umrahmte – nach Tagen ohne Rasur – wieder einmal ein dunkler Bart, der ihm das Aussehen eines Südländers verlieh. »Ist Malcolm wach?«, fragte er.
Ronald zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Und ich werde mich hüten, ihn zu wecken. Seine Laune von gestern reicht mir noch für heute.«
»Geht mir ebenso. Es scheint, als sei ihm das ganze Projekt zuwider.« Karl schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich frage mich nur, warum er dann zugesagt hat.«
»Ihr habt ihn seinerzeit vielleicht zu sehr genötigt«, grummelte Ronald. »Aber egal! Wenn er so weitermacht, fliegt er. Der vermiest ja nicht nur uns die Laune, sondern vergrault mir auch die Eingeborenen, wenn wir erst mal ein paar eingefangen haben, und das kann alles zum Erliegen bringen.«
Karl nickte zustimmend. Blöde Situation! Er war froh, nicht in Ronalds Haut zu stecken.
Der Regisseur war mit seinen Gedanken schon wieder beim Film. »Frage von gestern«, nahm er den Gesprächsfaden auf. »Was denkst du? Wird der Lord seine Zustimmung geben?«
»Sir Edward machte immerhin einen aufgeschlossenen Eindruck«, erinnerte Karl. »Vielleicht solltest du ihn als Berater für gewisse Dinge in die Dreharbeiten einbinden. Sein Wissen über Land und Leute ist groß. Hab' ich ja gestern schon gesagt.«
Ronald nickte nachdenklich. »Ich brauche auch dringend einen Sprachmittler«, gestand er. »Ich verstehe ja hier nur ›Bahnhof‹.«
Karl gab seufzend zu: »Da geht's dir wie mir. Ich dachte, ich käme mit Englisch durch.«
Tourismus hin oder her: Im Süden Italiens bestand eine unausgesprochene Abneigung in Bezug auf die englische Sprache. Wenn es nicht anders ging, sprach man lieber ein paar Brocken Deutsch, eine Hommage an die zahlreichen betuchten Gäste, die alljährlich in Scharen aus Germany einfielen. Gelegentlich hörte man auch einige französische Ausdrücke, ein Mitbringsel der vielen – teils illegalen – Zuwanderer aus den nordafrikanischen Staaten.
Die beiden Männer setzten sich im Frühstücksraum an den ihnen zugewiesenen Tisch und waren erfreut, dass der Kellner Englisch verstand. Wie überall in den großen Hotels üblich, gab es auch hier ein reichhaltiges Frühstücksbuffet.
Von Malcolm war weit und breit nichts zu sehen.
Durch die großen Panoramafenster des Saales blickte man auf das bewegte Meer hinaus – auf beeindruckende Wellen und zischende Gischt. Das Wasser sah grau und wenig einladend aus, keinesfalls blau wie auf den Postkarten. Die Zweige der immergrünen Gewächse vor dem Hotel schwankten und bogen sich im heftigen Wind.
»Tolles Wetter«, bemerkte Ronald sarkastisch. »Ich dachte, in Italien gäbe es das ganze Jahr über nur Sonne.«
Außer ihnen saßen nur noch drei ältere Ehepaare im Saal. Ende Jänner war nicht wirklich eine Reisezeit. Zwar lockten die nahen Inseln Ischia und Capri mit günstigen Angeboten, ebenso die Costa Amalfitana, aber hier – direkt in Neapel – gab es zu dieser Jahreszeit nicht viel zu sehen.
»Ich denke, wir erkunden heute mal ein wenig die Gegend«, schlug der Regisseur vor. »Das kann man ja auch bei schlechtem Wetter machen. Fangen wir am besten mit dem Zentrum Neapels an.«
»Fahren wir mit dem Taxi?«, wollte Karl wissen. »Soweit ich mich an die gestrige Fahrt zu Sir Edward erinnere, war das ziemlich teuer. Aber ›per pedes‹ wird es wohl ein bisschen zu tagesfüllend werden.«
»Ich dachte eher daran, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen«, erklärte Ronald. »Dann sehen wir mehr von Land und Leuten.«
»Gute Idee! Ich habe gleich an der Straße gestern eine Tafel bemerkt; sah sehr nach einem Busfahrplan aus«, erinnerte sich Karl. Vor dem Hotel gab es tatsächlich eine fermata, eine Haltestelle des Linienbusses.
Graham verdrückte mit Genuss ein Croissant. »Wir brauchen unbedingt einen Stadtplan. Wer weiß, wo wir sonst landen.« Die Mutmaßungen darüber ließen gelöste Heiterkeit aufkommen.
In diese Frühstückunterhaltung platzte Malcolm wie ein Gewitter in ein sommerliches Picknick. Während Karl mit seinem Seeräuberbart ansprechend aussah, konnte man das vom unrasierten Gesicht Mortimers nicht behaupten. Er wirkte unausgeschlafen und gereizt. Mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck ließ er sich auf den freien Stuhl fallen. »Geht's euch gut ohne mich? Es ist zum Kotzen: Im Zimmer ist es kalt und das Essen, das ich mir gestern Abend bestellte, war ein Albtraum. Also hier werde ich nicht alt. Übrigens, Ronald, ich habe heute mit meiner Frau telefoniert. Zu Hause erwartet mich ein tolles und vor allem finanziell ansprechendes Angebot für ein Filmengagement, das ich nicht ausschlagen möchte. Ich bin dann auch näher bei meiner Familie und muss mich nicht hier mit den ›Spaghetti-Fressern‹ herumärgern. Etwas Bindendes in Bezug auf dein Projekt habe ich nicht unterschrieben, also dürfte es kein Problem sein, mich aus deinen Plänen zu streichen. Mein Flugzeug geht morgen Abend.« Als Ronald etwas entgegnen wollte, winkte Malcolm ab. »Nein, gib dir keine Mühe! Du kannst mich nicht überreden zu bleiben. Mein Entschluss steht fest.«
»Oh, ich wollte eigentlich sagen, dass deine Entscheidung in Ordnung ist. Guten Flug!« Der Ton, in dem Regisseur dies sagte, klang lässig und keineswegs, als sei soeben einer seiner Hauptdarsteller abgesprungen.
Karl verschluckte sich fast an seinem panini, als er in das verblüffte Gesicht Mortimers blickte.
Mit dieser Antwort hatte Malcolm nicht gerechnet. Mindestens ein intensives Flehen, er möge doch bleiben, und vor allem das Angebot einer Aufbesserung der Gage hatte er erwartet, nicht aber, dass Graham ruhig sein Croissant futterte und ihn quasi zwischen zwei Bissen völlig emotionslos verabschiedete.
Es gelang Malcolm nicht, seine maßlose Enttäuschung zu verbergen. »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«, murrte er.
»Hmmmh!« Ronald deutete auf seinen vollen Mund. Als er den Bissen hinuntergeschluckt hatte, tupfte er sich mit der Serviette die Lippen ab und versicherte: »Ach, es war mir doch klar, dass ein Star wie du nicht im Ernst in dem kleinen Film eines noch fast unbekannten Regisseurs mitwirken würde. Ich war eher überrascht, als du damals zusagtest. Mach dir also keine Gedanken. Es ist völlig in Ordnung, dass du das lukrativere Angebot wählst.« Er griff er nach der Kaffeetasse und trank den Rest aus.
»Können wir?«, fragte er dann in Karls Richtung, Mortimers Anwesenheit ignorierend.
Malcolms Gesicht drückte Fassungslosigkeit aus. War er im falschen Film? »Wohin geht ihr denn?«, fragte er.
Karl antwortete. »Wir wollen nur ein bisschen durch Neapel laufen. Ist nichts für dich, da wir ja nach Schauplätzen für einzelne Filmszenen Ausschau halten. Genieße nur in Ruhe dein Frühstück. Es ist wirklich ausgesprochen gut. Außerdem – das Wetter ist ja nicht besonders einladend und solche Tage werden wir hier noch einige haben.«
Die beiden Männer erhoben sich mit einer Geste des Abschiednehmens und Malcolm blieb allein am Tisch zurück. Der ›große Star‹ stierte in seine noch leere Tasse und begriff allmählich, dass nicht er derjenige war, der die Rolle abgelehnt hatte, sondern dass er soeben – sage und schreibe – gefeuert worden war. Diese Tatsache nagte an seinem Ego. So schnell abserviert zu werden, konnte nur bedeuten, dass Ronald bereits Ersatz für ihn gefunden hatte. Aber wen? Das würde er wohl frühestens aus dem Internet oder den Programmheften der Kinos erfahren, vorausgesetzt, das Projekt kam überhaupt auf die Beine. »Wird es nie und nimmer, schwachsinniges Thema, idiotisches Drehbuch«, murmelte er und stand schließlich auf. Der Appetit war ihm gründlich vergangen.
Sie standen an der fermata und warteten auf den Bus.
Ronald war bester Laune. Malcolms selbstherrliche Absage ersparte ihm die mühevolle Erklärung, warum dieser sich nicht für die Rolle des Staatsanwalts in seinem Film eignete, verbunden mit der Bitte, auf die Rolle zu verzichten. Nein, er hatte noch keinen Schimmer, wen er nun engagieren sollte, aber es würde ihm schon etwas einfallen.
In seine Gedanken hinein fragte Karl: »Waren wir nicht doch zu unfreundlich?« Allerdings grinste er bei dieser Frage. Besser hätte Graham Mortimers ›Ausladung‹ gar nicht hinkriegen können.
Ronald wiederholte: »Unfreundlich? Findest du? Na ja, vielleicht … aber jedenfalls passend zu Malcolms Stil.« Und er überlegte laut weiter: »Jetzt muss ich nur noch einen finden, der die Rolle des Staatsanwalts übernehmen kann. Wir brauchen einen Darsteller, dem man Gerechtigkeitssinn abkauft, sobald er den Schauplatz betritt, einen, der Courage und Selbstdisziplin besitzt. Vielleicht frage ich Sir Edward?« Die Vorstellung, den alten Lord in der Rolle von Recht und Gesetz zu sehen, war einerseits gar nicht so abwegig, anderseits löste sie Heiterkeit beim Regisseur aus.
Karl konnte sich ein Lachen nicht verbeißen. Doch er hatte eine Idee. »Ich könnte mir da einen vorstellen. Aber ich weiß nicht, vielleicht hat mein Freund im Moment ein anderes Angebot.«
»Mensch, wer ist das? Ich rufe ihn sofort an.« Ronald war schnell zu begeistern, obwohl er noch nicht einmal wusste, von wem die Rede war.
»Zu Victor würde diese Rolle gut passen«, dachte Karl weiterhin laut nach.
»Victor, wer?« Ronald gelang es nicht sofort, diesen Vornamen mit einem Schauspieler in Verbindung bringen.
»Victor Anderson, du weißt schon.« Karl begann die Filme aufzuzählen, in denen sein Freund mitgewirkt hatte, und sah sich schon mit ihm in einer gemütlichen Bar am Meer sitzen und ein Bier trinken.
»Ja, ja, ja, ich weiß es wieder«, wurde er von Ronald ungeduldig unterbrochen. »Und wo erreiche ich Victor?«
»Krieg' ich Vermittlerprovision?«, spottete Karl. »Ich hab' natürlich seine Nummer. Ich rufe auch an und frage, ob er interessiert ist. Wenn, dann wird er sich melden.«
»Ja, doch! Aber mach schon!«
Karl deutete auf die Uhr. »Bestimmt nicht jetzt. Ich würde Victor zu dieser Stunde infolge der Zeitverschiebung höchstens wecken.«
Damit musste Ronald sich wohl oder übel zufriedengeben.
»Wann kommt denn dieser verdammte Bus endlich?«, knurrte er missmutig.
Keiner der beiden konnte auf dem vergilbten Fahrplan etwas Lesbares erkennen. Die Hinweistafel blieb ihnen schon deshalb ein Rätsel, weil keiner eine Ahnung hatte, welche Tage der Woche mit den italienischen Bezeichnungen gemeint waren. Wie wenig Relevanz Fahrpläne in Italien an sich besaßen, wussten sie ebenfalls – noch – nicht. Die waren eher eine Empfehlung, ähnlich wie die Verkehrsregeln. Und dass die Busse dort auch hielten, wo sie sollten, ließ sich mit einem Roulettespiel vergleichen. Karl und Ronald hatten Glück. Ein blauweißer Linienbus steuerte schließlich auf die fermata zu.
Eine füllige mamma in mittleren Jahren, die Karl schon an der Haltestelle mit verklärtem Blick verschlungen hatte, erwies sich nun als äußerst hilfreich: Sie bewerkstelligte für die Männer den Kauf der Fahrkarten. Das war gar nicht so einfach. Die biglietti hätten sich die beiden nämlich schon vorher besorgen sollen. Doch die Neapolitanerin überfiel den Busfahrer mit einem von wilden Gesten begleiteten, schier endlosen Redeschwall, bis ihm nichts anderes übrigblieb, als die zwei Euro einzustecken und die Fahrt als bezahlt zu betrachten. »Sempre questi touristi!«, stöhnte er kopfschüttelnd.
Die Männer verstanden nur ›Touristen‹ und erkannten am Tonfall, dass dies nicht als Kompliment gemeint war.
Sitzplätze gab es im Bus keine, nur Halteschlaufen. Karl ließ seinen Charme spielen und hielt ihrer gemeinsamen Gönnerin die Einkaufstasche, bis sie einige Stationen weiter ausstieg. »Ciao, bello mio«, flüsterte sie Landmann ins Ohr, quetschte ihren Busen etwas näher als nötig an seiner Brust vorbei und bedachte ihn mit einem feurigen Augenaufschlag, ehe sie sich durch die Bustür zwängte.
Ronald grinste von einem Ohr zum anderen. »Wenn das so weitergeht, besitzt du am Ende der Dreharbeiten einen Harem. Wirklich reizend, die Dame. Sie kann sicher gut kochen, ihrem Aussehen nach zu urteilen.«
Erst ein nicht ernst gemeinter Stoß in die Rippen ließ den Regisseur verstummen, aber das Grinsen wich nicht aus seinem Gesicht.
Nach dem Aussteigen – die Haltestelle war von den Männern willkürlich gewählt – erstanden sie an einem schmuddelig wirkenden Kiosk einen Stadtplan von Neapel, dessen Aktualität ihnen sehr fragwürdig erschien. Sie versuchten erst einmal, ihren Standort zu lokalisieren. Als ihnen das endlich gelungen war, bewegten sie sich weiter, in ständigem Kampf mit dem Wind. Der pfiff durch die Gassen und wirbelte Kleinmüll durch die Luft. Ronald notierte sich Einzelheiten, die ihm bemerkenswert erschienen oder fertigte kleine Skizzen an. Karl gab acht, dass der in seine Aufzeichnungen vertiefte Regisseur nicht fortwährend gegen Passanten stieß.
Irgendwann erreichten sie schließlich die Galleria Umberto, einen prachtvollen Bau, über dessen pseudobarocker Fassade sich ein Dach aus Glas und Gusseisen wölbte. Im Zentrum der Galleria, wo sich die Einkaufsgässchen trafen, überspannte eine große Glaskuppel das Einkaufsparadies.
Die Bar, die Karl und Ronald ansteuerten, wurde von zwei Modegeschäften flankiert. Vor dem Lokal hatte der Besitzer Stühle und kleine Tische aufgestellt. Ein Blick durch die offene Tür verriet auch sofort, warum. Im Inneren war wirklich nur Platz für die Theke, an der ein paar Leute lehnten und miteinander diskutierten.
»Wollen wir?« Ronald deutete mit dem Kopf zu den Sitzgelegenheiten. »Ich brauche jetzt einen Kaffee.«
»Da widerspreche ich nicht.« Karl nickte zustimmend. »Kaffee hätte ich auch gern.«
Erschöpft vom Kampf mit dem Wind ließen sich die Männer an einem der Tische nieder. Nach geraumer Zeit erschien ein junger Bursche in schwarzer Hose und weißem Hemd und machte ihnen in einem langen italienischen Wortschwall etwas klar.
Karl nahm an, dass es um ihre Wünsche ging und bestellte – mit den Händen gestikulierend – zwei Kaffee. Der Jüngling nickte. »Capito! Due caffè.« Wenig später landeten zwei Espressos vor Ronald und Karl mit – tja, mit einem Schuss Schwärze darin. Was sie nicht wussten – wenn man in Italien einen Kaffee bestellte, erhielt man automatisch einen Espresso. Und der war nun mal stark, schwarz und bestand aus einem Fingerbreit Flüssigkeit in einer Puppentasse.
Ronald blickte belustigt auf seinen Kaffee. »Ich denke, wir hätten davon zwei Kannen bestellen sollen.« Vorsichtig nippte er an dem heißen Getränk: Zu wenig, aber gut. Cremig und stark. Daran könnte man sich gewöhnen.
Auch Karl nickte beifällig. »Nicht schlecht, aber eindeutig für Zwerge berechnet.«
Der Neuseeländer musterte interessiert die Passanten. Das Publikum hier war eindeutig ein anderes als in den Gassen: Italienerinnen, wie man sie in Modemagazinen vorgeführt bekam – modern gekleidete Püppchen, in jeder Hand eine Einkaufstasche, deren Firmenemblem zeigte, in welch teurem Geschäft sie ihr neuestes Kleidungsstück erstanden hatten, hier und in noch kostspieligeren Geschäften auf dem Toledo oder in der Via Chiaia. Lässige Typen in Armani-Anzügen lehnten rauchend an den runden Stehtischen der nächsten Bar. Dies war nicht der Platz für die Neapolitaner, die irgendwo in einer der Nebengassen wohnten. Hier war die ›Ehrenwerte Gesellschaft‹ zu Hause, wenn man das so nennen wollte. Hier galt: Sehen und gesehen werden!
Unauffällig musterte auch Ronald die Männer in seinem Blickfeld. Ob Mafiosi darunter waren? Vielleicht der Mann mit den schwarzen, nach hinten gekämmten Haaren und dem offenen Hemd, um den Hals einige Goldketten? Oder die beiden, die eben mit einem vielsagenden Grinsen im Gesicht aus dem Buchladen vis à vis kamen? Der Regisseur fragte sich, ob man die Mitglieder der Camorra tatsächlich am Aussehen erkannte oder erst, wenn sie einem schon das Messer in den Bauch rammten?
Seine Vorstellungen, die ›Ehrenwerte Gesellschaft‹ Neapels betreffend, beruhten auf Informationen, die er in jahrelanger Kleinarbeit aus Zeitungsarchiven zusammengetragen hatte. Sie wurden ergänzt durch Recherchen aus dem Internet, stammten aus Polizeiberichten zu diesem Thema und nicht zuletzt aus Büchern, die er gelesen hatte. Den Ausschlag dafür, dass er diesen Film drehen wollte, hatte dann das Treffen mit einem ehemaligen Angehörigen der sizilianischen Mafia gegeben, der mittlerweile unter anderem Namen und mit neuer Identität in New York lebte. Ganz zufällig war er diesem Mann auf einer Party begegnet und ebenso zufällig mit ihm ins Gespräch gekommen. Je länger er sich mit diesem Aussteiger unterhalten hatte, desto vielversprechender erschien ihm der Plan, einen Film über die Mafia zu drehen – L'onorato famiglia, Ehrenwerte Familie, schwebte ihm damals als Titel vor.
Karl zog die Blicke so mancher schönen Frau auf sich.
Ronald fragte sich ohne Neid, was der Mann an sich hatte, dass er auf Frauen eine solche Wirkung ausübte. Er betrachtete Ausstrahlungen eher unter dem Aspekt der Auswirkung auf einen Film, der dadurch zum Publikumsmagnet wurde. Und da sah er im Geist die Top-Besetzung an männlichen Frauen-Idolen in seinem Film: Brendon Pitts, Karl Landmann und nun vielleicht auch noch Victor Anderson. Fiele die Oscarverleihung in weibliche Zuständigkeit, seinem Film wäre mit Sicherheit eine dieser hübschen Statuen sicher. Und die zarten, romantischen Ansätze des Actionfilms, die eigentlich nicht ins Gewicht fielen, weil sie sich nur am Rande ereigneten, würden dennoch einige Frauenherzen höherschlagen lassen. Aber das waren hochfliegende Träume – erst einmal hieß es abwarten. Die wichtigsten Fragen standen noch offen: Würde der Lord zusagen? Würde Victor Anderson die angebotene Rolle übernehmen? Nicht zu vergessen das Gespräch mit Don Carlos Berlotta, dem Padrone von Neapel, falls die beiden ersten Hürden erfolgreich genommen waren.
Gemessen daran war es gegenwärtig sein kleinstes Problem, wie er ohne Sprachkenntnisse nochmals zu ein paar Tropfen Kaffee kam. Eifrig winkte er dem jungen Kellner und deutete auf die beiden Tassen. Der Bursche nickte diensteifrig. Ein tüchtiges Volk, die Italiener! Man konnte notfalls mit Händen und Füßen sprechen und wurde verstanden.
Während Karl und Ronald – diesmal bei einem caffè latte – weitere Einzelheiten des Films besprachen, meldete sich auch ihr Magen. Schließlich hatten sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Ein Blick in das Innere des kleinen Lokals zeigte, dass in der Vitrine auch Panini und Tramezzini angeboten wurden, etwas Ähnliches wie Sandwiches, zumindest dem Aussehen nach. Mittlerweile – schließlich saßen sie schon über eine Stunde vor der Bar – wussten die beiden auch, dass der Kellner Roberto hieß. Hier würden sie wohl – wenn der Film gedreht wurde – noch öfter sitzen, nicht zuletzt deshalb, weil die Bar den Namen Il Vesuvio – der nun endgültige Filmtitel – trug. Die Vorräte der leckeren Brötchen waren erheblich geschwunden, nachdem Karl und Ronald ihren Hunger gestillt hatten.





