Il Vesuvio - Die Ehrenwerte Gesellschaft

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Sir Edward war sehr mit sich zufrieden. Er hatte soeben einen gigantischen Aktiengewinn eingefahren. Und wie immer in solchen Fällen war er auch großzügig. Nicht er allein wollte sich an seinem Erfolg erfreuen, seine Angestellten sollten eine Prämie erhalten. Bei erstbester Gelegenheit würden sie gemeinsam eine Fahrt nach Capri unternehmen. Seine Jacht war geräumig genug, auch für eine Übernachtung geeignet. Und dass seinen Damen ein Bummel durch die einladenden engen Gässchen in Capri genehm sein werde, dessen war er gewiss. Schließlich gab es dort Designerartikel zu erwerben, von denen man anderenorts nur träumte. Selbstverständlich gestalteten sich auch die Preise entsprechend. Aber das spielte keine Rolle.
Über das Gesicht des Lords huschte ein kleines Lächeln: Seine Gespielin Marie würde er am Sonntag mit einem schönen Schmuckstück überraschen. Er hoffte sehr, dass sie dann geneigt war, ihm ganz besondere Wünsche zu erfüllen.
Sir Edward lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und streifte in Gedanken Marie die Kleidung ab, stellte sich vor, wie sie nackt vor ihm lag, ihm ihren wunderschönen Körper willig überließ. Er spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte …
Ein Pochen an der Tür des Arbeitszimmers weckte ihn unsanft aus seinem Tagtraum.
»Ja bitte!«, rief er mit belegter Stimme und legte den Gefühlsschalter auf ›sachlich‹ um.
Frederic trat ein und verbeugte sich gemessen. »Ein leichtes Mittagessen ist im Wintergarten serviert, Sir. Wie Sie gewünscht haben.«
Höflich blieb der Butler an der Tür stehen. Natürlich entging ihm das gerötete Gesicht des Lords nicht, auch nicht dessen etwas rascherer Atem. Oh, Sir Edward hatte sich allem Anschein nach in Gedanken mit seiner sonntäglichen Besucherin vergnügt. Alle wussten um dieses Hobby, keinem war jedoch bekannt, um welche Art Gespielin es sich dabei handelte, denn noch nie hatte jemand sie zu Gesicht bekommen. Die Dame besaß einen Schlüssel zu einem bestimmten Eingang des Hauses, der für das Personal nicht einsehbar war. Frederic hatte sich einmal die Mühe gemacht und sich zu gegebener Zeit auf die Lauer gelegt, um einen Blick auf die geheimnisvolle Besucherin zu werfen. In der Dunkelheit vermochte er nur vage Details zu erkennen – durchschnittliche Größe, langes Haar, wohlproportioniert. Diese Beschreibung passte auf viele Frauen. Und so ging das Rätseln weiter.
Sir Edward hatte inzwischen einige Mal kräftig durchgeatmet, sich aus dem Arbeitssessel erhoben und trat nun durch die vom Butler offen gehaltene Tür.
»Danke, Frederic, sehr freundlich«, sagte er. »Für heute Abend ist auch alles bereit? Weiß man in der Küche Bescheid, dass der Avvocato mit uns speisen wird?«
»Sehr wohl, Sir! Marie hat alles geplant. Sie hat sich eine wahrlich kulinarische Reise einfallen lassen für heute Abend. Darin ist sie eine Künstlerin.«
Der Name Marie verursachte Sir Edward wie stets einen kleinen, angenehmen Kitzel und er bestätigte: »Ja, das ist sie.«
Beim Genuss eines köstlich-leichten Salates mit Hühnerstreifen blätterte er in den Seiten der Financial Times und schmunzelte wiederum, als er den Höhenflug der Aktien betrachtete, die er zu einem wesentlich niedrigeren Kurs gekauft hatte.
Sein Blick glitt nach draußen: Während noch gestern ein Sturm über den Golf von Neapel zog, sandte die Sonne heute ihre wärmenden Strahlen herab. Die kleinen, unbedeutenden Schneeflächen innerhalb der Gartenanlage waren verschwunden und im Wintergarten herrschte wohlige Wärme trotz ausgeschalteter Heizung.
Lord Lindsay sah dem Butler zu, der damit beschäftigt war, das Geschirr abzuräumen. »Ich unternehme jetzt einen Rundgang im Garten«, sagte er. »Dann werde ich mich noch eine kleine Weile zurückziehen. Gegen sechzehn Uhr möchte ich gern den Tee serviert haben. Könnten Sie das veranlassen, Frederic?«
»Selbstverständlich, Sir.«
Auch Frederic würde sich ein Nickerchen gönnen. Mit Unbehagen dachte er daran, dass heute Abend wieder dieser ungehobelte Malcolm Mortimer erschien. Man musste keine besondere Menschenkenntnis besitzen, um festzustellen, dass dieser Mann sich am besten darauf verstand, Schwierigkeiten zu machen.
In der Küche lief alles auf Hochtouren. Marie übertraf sich diesmal selbst. Wie bei solchen Anlässen üblich, gab es kleine Menükärtchen, die auf dem Tisch stehen würden.
›Fischcarpaccio – Soup de poisson – Hummerspieße – Pavlova‹
Es handelte sich um Speisen aus internationalen Küchen und Pavlova war eine Süßspeise aus Neuseeland: Ein Baiser-Traum mit Schlagsahne und Erdbeeren. An wen hatte Marie wohl gedacht, als sie dieses Nationalgericht der Kiwis, wie die Bewohner Neuseelands scherzhaft bezeichnet wurden, zauberte? Frederic lief das Wasser im Mund zusammen. Wusste er doch, dass es die gleichen Köstlichkeiten auch für die Angestellten gab. Darauf bestand der Lord: Sein Personal sollte die gleichen Annehmlichkeiten haben, wenn es ihn und seine Gäste bei solchen Festen bediente.
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Der Avvocato traf als erster Gast ein. Lord Lindsay hatte ihn gebeten, etwas früher zu kommen. Die beiden Herren standen im Salon und diskutierten bei einem Aperitivo über die aktuellen Ereignisse, heute insbesondere über die Entführung des Sohnes von Gianna Garibaldi, der Besitzerin einer großen Boutique in Neapel. Nur wenig war davon an die Öffentlichkeit gedrungen. Aber der Avvocato besaß Informationsquellen an einflussreicher Stelle. Entführung gehörte eigentlich nicht zu den Geschäften der Camorra, und der Name Gianna Garibaldi war nie mit der ›Ehrenwerten Gesellschaft‹ in Zusammenhang gebracht worden. Es wurde gemunkelt … der Avvocato flüsterte dem Lord etwas ins Ohr, das dieser kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm.
Man würde sehen, wie sich die Sachlage entwickelte.
Das Gespräch wandte sich dem geplanten Film zu. Der Rechtsanwalt wiegte bedenklich den Kopf. »Der Regisseur wird sehr vorsichtig sein müssen, wenn er diesen Film wirklich drehen will. Sonst sitzt er bald mit Bleischuhen auf dem Meeresgrund. Ich kenne natürlich das Drehbuch nicht. Vielleicht beschönigt er ja die Taten der ›Ehrenwerten Gesellschaft‹ und …« Das Läuten am Portal hinderte ihn an weiteren Ausführungen.
Frederic öffnete und ließ die Gäste ein. Er registrierte sofort, dass Malcolm Mortimer fehlte und atmete erleichtert auf. Höflich übernahm er den Mantel Ronalds und die Jacke Karls und brachte sie in die nicht einsehbare Garderobe.
Karl blickte sich unauffällig um: Keine Spur von Marie. Aber er würde sie ja sehen, wenn sie die Speisen servierte. Doch darin irrte er.
Die Enttäuschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als Francine geschäftig auf und ab lief und geschickt bediente. Weil er schlecht fragen konnte, womit Marie beschäftigt war, widmete er seine Aufmerksamkeit schließlich dem Tischgespräch.
Marie hätte nicht einmal eine Sekunde Zeit gehabt, die Küche zu verlassen. Jedes Gericht erforderte eine spezielle Dekorierung auf dem Teller und sie ließ es sich nicht nehmen, alles selbst zu arrangieren. Für diesen Abend hatte sie Pierre die Arbeit abgenommen, der nun mit Argusaugen über ihre Kochkünste wachte – aber nichts auszusetzen fand.
»Ach, Marie, die Männer wissen gar nischt, was sie loben sollen, weil es sie so gut schmeckt.« Francine verdrehte theatralisch die Augen. Mit jedem neuen Gang, den sie servierte, bekam sie ein Lob an die Köchin mit. Auch der Lord war von der heutigen Kreation begeistert. Er hatte es ja schon immer gewusst, diese Frau war in jeder Beziehung eine Perle.
Erst das Dessert servierte Marie selbst. Schließlich hatte sie ja über das Internet herausgefunden, was es in Neuseeland an kulinarischen Besonderheiten gab. Die Erdbeeren, die sie im mercato erstanden hatte, leuchteten glänzend rot aus der geschlagenen Sahne und die luftigen Baisers lockten jeden Gourmet.
Auch Karls Augen glänzten, als Marie das Esszimmer betrat. Er drückte seine Hände fest auf die Tischplatte. Gern wäre er aufgesprungen und hätte ihr geholfen. Er erkannte sofort, was hier serviert wurde. Das konnte kein Zufall sein! Aber er musste es sicher wissen. Als Marie ihm die Pavlova mit freundlichem Lächeln vorsetzte, fragte er: »Kennt man diese Nachspeise auch hier in Italien?«
»Nein, Mister Landmann«, antwortete Marie wahrheitsgemäß. »Das Internet hat mir verraten, was es auf der anderen Seite der Erdkugel für wunderbare Süßspeisen gibt. Guten Appetit, die Herren!« Und dann verließ sie mit Frederic das Zimmer.
Sir Edward beobachtete den Neuseeländer verstohlen. Dessen Blicke galten eindeutig nicht dem Rücken des Butlers, sondern der ansehnliche Kehrseite Maries. Nun war er also nicht mehr allein mit der Erkenntnis, dass Marie etwas Besonderes war.
Genussvoll schloss Karl die Augen, als er den letzten Happen des Desserts im Mund zergehen ließ – Heimat! Und Marie hatte sich diese Mühe eindeutig für ihn gemacht.
Sir Edward schlug vor, die näheren Details des Vertrages und der Dreharbeiten im Wintergarten durchzusprechen. Bislang war die Abwesenheit Malcolm Mortimers mit keinem Wort erwähnt worden. Erst als sie in den bequemen Korbsesseln Platz genommen hatten, erkundigte sich der Lord: »Wo ist denn Ihr Staatsanwalt? Ich hoffe, er lässt Sie während der Dreharbeiten nicht auch im Stich?«
Ronald wog seine Antwort sorgfältig ab. Es machte ja kein gutes Bild, die wahren Hintergründe zu benennen. »Mister Mortimer hat es vorgezogen, in einem anderen Film mitzuwirken, um näher bei seiner Familie zu sein.«
Die darauf folgende Bemerkung des Lords ließ die Anwesenden aufhorchen. »Nun, das ist eine gute Entscheidung, die sich gewiss nicht zu Ihrem Nachteil auswirken wird.« Es klang fast, als fiele das Ausscheiden Mortimers als Plus für eine positive Entscheidung des Lords in die Waagschale.
In den nächsten Stunden herrschte intensive Arbeitsatmosphäre: Beschäftigt mit Vertragsklauseln, Drehbuchinterpretationen und technischen Details, ließen sich die Männer auch nicht stören, als ihnen Francine Käsegebäck servierte und Frederic dafür sorgte, dass die Getränke nicht ausgingen.
Mitternacht war schneller erreicht als die Männer dachten. Erstaunt blickten sie einander an, als die antike Pendeluhr zwölf Mal schlug – das Läuten von Big Ben erklang. Eine Hommage des Lords an seine Heimat?
Sir Edward nahm als erster den Gesprächsfaden wieder auf: »Mir scheint, dieses Thema war wirklich abendfüllend. Fürs erste ist es wohl genug. Mister Graham, der Vertrag ist Ihnen sicher. Über gewisse Details haben wir gesprochen. Falls es noch Unklarheiten Ihrerseits geben sollte, wenden Sie sich an Avvocato Girardi.«
Der Anwalt reichte Ronald daraufhin seine Karte. Auch er war zufrieden. Ohne größere Schwierigkeiten hatte er den Vertrag so gestaltet, dass dem Lord keinerlei Kleingedrucktes zum Verhängnis werden konnte. Zudem schien dieser Ronald Graham ein angenehmer Geschäftspartner zu sein. Vielleicht lag es ihm nicht, Verträge zu formulieren, aber aufs Verhandeln verstand er sich.
Was das Projekt selbst betraf, nun, die Durchführung konnte schwierig werden, aber Girardi fand das Drehbuch interessant und er versprach, seine Beziehungen spielen zu lassen. Dieser Umstand würden Ronald Türen öffnen, die ihm sonst sicher verschlossen geblieben wären. Ein weiterer positiver Aspekt in diesem Projekt war der Schauspieler Landmann, der verschiedene gute Ideen eingebracht hatte. Ja, der Film hatte eine Chance! Girardi würde ein Treffen mit Don Carlos bewerkstelligen, keine leichte Aufgabe, aber ohne Zustimmung des unumstrittenen Hausherrn von Neapel würde niemand wagen, eine Statistenrolle im Film anzunehmen.
Nicht einmal der Bürgermeister, in Wahrheit nur eine Marionette, vermochte die Machtstellung des Padrone zu überbieten.
»Sir Edward, da wäre noch etwas, eine Bitte …« Ronald hielt zögernd inne.
Überrascht blickte der Lord auf. Was gab es, was jetzt noch besprochen werden musste? »Ich höre, Mister Graham!«
»Wäre es möglich, Ihre Angestellte, Signora Marie als Sprachmittlerin zu gewinnen?« Ronald war stolz, dass er sich signora gemerkt hatte.
Das Erstaunen des Lords wich unverhohlener Belustigung. »Warum gerade Marie?«
Wahrheitsgemäß bekannte Ronald: »Ich wüsste keine Alternative. Und wie es scheint, spricht Marie die Sprache dieses Landes sehr gut. Sie ist … schlagfertig …, energisch und hat dennoch einen guten Draht zu den Leuten, zumindest hatte ich gestern diesen Eindruck, als wir ihr am Hafen begegneten.« Gut, dass der Lord nicht ahnte, woran Graham bei ›schlagfertig‹ wirklich gedacht hatte!
Sir Edward Blick streifte Karl Landmann, durchaus nicht so zufällig wie es schien. Oh! Es würde sich unter Umständen eine äußerst prickelnde Situation ergeben, vorausgesetzt, Marie sagte Ja zu Grahams Anliegen.
»Fragen Sie Marie. Es liegt ganz bei ihr«, sagte der Lord scheinbar gelassen. »Solange ihre …«, er stockte, setzte aber gleich fort, »… Arbeit für mich nicht darunter leidet, will ich ihr die Möglichkeit nicht versagen, einen Blick in die Welt des Films zu werfen. Morgen, wenn Sie den Platz für die Trailer besichtigen, wird sich bestimmt eine Gelegenheit bieten, mit ihr zu reden.«
Die Gedanken Sir Lindsays schweiften zum Wochenende … und zu Marie.
Abschließend betonte der Lord daher noch einmal mit großem Nachdruck, dass er von Samstagabend bis Montag früh von den Filmleuten keinen sehen oder hören wolle. »Sofern diese Anordnung auch nur ein einziges Mal missachtet wird, müssen Sie Ihren Film woanders drehen.« Die Stimme Sir Edwards ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er es ernst meinte.
»Selbstverständlich halten wir uns an die Abmachung«, versprach Ronald eilig. »Meine Leute werden ebenfalls froh sein, dass ich ihnen hin und wieder Ruhe gönne.«
Graham zerbrach sich jedoch insgeheim den Kopf, was an diesem Ruhetag für den Lord so wichtig sein konnte. Hatte es etwas mit Glaubensangelegenheiten zu tun? Sehr unwahrscheinlich. Vielleicht würde er es mit der Zeit herausfinden. Im Augenblick war es nicht weiter von Interesse und deshalb leitete er das Ende der Zusammenkunft ein: »Eure Lordschaft, wir danken Ihnen für Ihre Gastfreundschaft und vor allem für die großzügige Unterstützung unseres Filmprojektes.« Dann wandte sich an den Rechtsanwalt: »Auch Ihnen herzlichen Dank, Avvocato. Sie lassen es mich bitte wissen, ob Sie einen Termin bei Don Carlos erwirken konnten.«
Signore Girardi neigte bejahend den Kopf.
Hände wurden geschüttelt und ein wie aus dem Nichts erscheinender Frederic hielt Mäntel und Jacke der beiden Herren bereit, die nun zurück ins Rex fahren würden. Vor dem Portal wartete ein Taxi mit laufendem Motor auf Ronald und Karl. Beide bedankten sich für diese vorausschauende Geste überschwänglich. Lächelnd honorierte Frederic das Loblied und freute sich, dass man seine Umsicht würdigte.
Karl begrub seine Hoffnung, Marie noch einmal zu Gesicht zu bekommen.
Frederic, der neben dem sechsten auch einen siebten Sinn zu besitzen schien, bemerkte entschuldigend: »Es war ein anstrengender Tag für die Damen, die das Essen zubereitet haben. Sie schlafen bereits.«
Karls Wangen brannten und er war froh, dass dies in der Dunkelheit niemand bemerkte. Ronald allerdings grinste in sich hinein. Na, das würde etwas werden, falls Marie einwilligte, sich als Sprachmittlerin zu betätigen und außerdem die ihr zugedachte Rolle zu übernehmen. Sollte sie gar bei dem Treffen mit Don Carlos Berlotta auf den Padrone den gleichen Eindruck machen, wie auf den guten Karl, konnte ja fast nichts schiefgehen.
Im Wagen sprach Karl kein Wort. Ehe er ins Taxi gestiegen war, hatte er die dunkle Fassade des Hauses gemustert. In der geringen Helligkeit, die die Außenleuchten der Anlage hergaben, hatte es den Anschein, als bewege sich hinter dem Fenster oberhalb des Portals erst der Vorhang und dann ein Schatten. Himmel – sah er schon Gespenster? In Zukunft würde er sich zurückhalten, wenn es um Marie ging – falls ihm das gelang.
Auch jetzt zwang er sich, an etwas anderes zu denken und rief sich das Telefongespräch mit Victor ins Gedächtnis.
Er hatte den Freund beim Malen erreicht. ›Inspiration des Wassers‹, nannte er sein neuestes Werk. Das Telefonat hatte sich eine ganze Weile hingezogen, denn schließlich musste er Victor den Inhalt des Drehbuchs in möglichst kurzer Form nahebringen.
›Du sollst die Rolle eines Staatsanwalts übernehmen, eine lebensgefährliche Aufgabe, glaub' mir'‹, hatte er gelockt und dass Victor sich nebenbei noch für sein neues Bild inspirieren lassen könne, weil er hier ein ganzes Meer dafür zur Verfügung habe.
Letztendlich waren sie so verblieben, wie Karl es erwartet hatte: Victor würde sich mit Ronald in Verbindung setzen.
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Victor stand vor der Leinwand, auf die er soeben die ersten Farbtupfer gesetzt hatte. Seine abgetragenen Jeans waren mit Farbe bekleckst, ebenso das Hemd.
Von Zeit zu Zeit zog er sich in sein Atelier zurück, besann sich auf die eigentlichen Werte des Lebens und genoss es, seinen Gefühlen mittels Farbe freien Lauf zu lassen.
Ohne Schuhe lief er dann in seiner Malerwerkstatt umher, damit seine Füße die Kraft des Bodens aufnahmen und sie in seine sensiblen Hände hinaufschickten. Dann konnte es geschehen, dass er stundenlang nicht von seiner Staffelei wich, bis er urplötzlich den Pinsel sinken ließ, als werde ein Lichtschalter ausgedreht – das Werk war vollendet.
Während er mit geschlossenen Augen und angespanntem Sinn in sich hineinlauschte und die Idee für sein neues Werk reifen ließ, läutete schrill das Telefon.
Nein, er würde den Hörer nicht abheben! Aber der helle, sich unaufhörlich wiederholende Ton, zerstörte die Kraft der Inspiration. Seufzend meldete er sich.
Es war Karl! Seine Stimme hallte ein wenig wider. Überrascht vernahm Victor, wo der Freund sich derzeit aufhielt. Und schon bald setzte er sich auf den einzigen Stuhl des Ateliers, als er begriff, dass man ihm die Rolle als Staatsanwalt in einem Mafia-Thriller anbot. Nein, im Moment habe er kein Angebot für einen Film, versicherte er. Allerdings sei er froh, nach den letzten Dreharbeiten eine kleine Auszeit nehmen zu können. Ein wenig Zeit für sich selbst, brauche jeder mal, ehe man wieder von einem Termin zum nächsten hetze. Und er erzählte von der Idee für ein neues Bild, die langsam Gestalt gewinne. Karl wollte das nicht gelten lassen, drängte ihn, das Angebot nicht auszuschlagen.
Die Aussicht, einen Blick in die Wiege der Mafia zu werfen, reizte Victor tatsächlich. Dass eine kriminell organisierte Gesellschaftsschicht einen ganzen Landstrich zu beherrschen vermochte, ohne dass der Staat etwas dagegen unternahm, war schon ein Phänomen! Doch ehe er sich in dieses Filmprojekt einbrachte, würde er ein paar grundsätzliche Erkundigungen einziehen.
»Es ist schön, Karl, dass du an mich gedacht hast«, sagte er nun. »Meine Neugier ist bereits geweckt. Ich werde ein oder zwei Tage darüber nachdenken und dann Ronald Graham anrufen. Gib mir seine Nummer.« Damit war das Thema für Victor vorerst abgeschlossen und er erkundigte sich: »Was gibt es Neues bei dir?«
Karl erzählte ihm, was er bislang in Neapel erlebt hatte und so ganz nebenbei fiel auch ein paar Mal der Name Marie. Victor kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass sich da offenbar etwas anbahnte. So sehr ihn männliche Neugier auch trieb, er hielt sich mit Fragen zurück. Eile mit Weile! Und so beendete er das Gespräch, mit der Versicherung, er müsse jetzt natürlich einige Dinge klären. »Ich melde mich, so schnell wie möglich. Und halte dich von Frauen fern, Karl! Das schwächt die Schaffenskraft.«
Er lachte ungeniert in den Hörer hinein und legte auf.
Mit der ›Inspiration des Wassers‹ war es vorbei. Victor wusch die Pinsel sorgfältig aus und legte sie beiseite. Erst einmal galt es zu prüfen, wie die Annahme des Engagements zeitlich zu managen war. Seine bereits festliegende Bilderausstellung mit gekoppelter Vorlesung wollte er nicht absagen: Zu lange war dieser Termin mit der entsprechenden Galerie ausgehandelt worden. Und die geduldig wartenden Fans wollte Victor keinesfalls enttäuschen. In der Öffentlichkeit machte er sich nämlich eher rar, daher musste dieser Event in jedem Fall stattfinden.
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Karl hatte keine Gespenster gesehen! Marie lag im ersten noch leichten Schlaf, als die Geräusche, die der Aufbruch der Besucher verursachte, sie weckten. Ein wenig benommen war sie zum Fenster gehuscht, hatte den Vorhang zur Seite geschoben und erkannt: Unten stand ein Taxi. Seine abgeblendeten Scheinwerfer warfen Licht auf die gepflasterte Zufahrt. Frederic begleitete soeben zwei Männer die Portaltreppe hinunter. Einer der Gäste drehte sich um, ehe er ins Taxi stieg und blickte herauf.
Mit klopfendem Herzen war sie rasch einen Schritt zurückgewichen und hatte den Vorhang fallen lassen. Ob Karl Landmann sie erkannt hatte? Sie vernahm das Geräusch zuschlagender Autotüren und wagte sich noch einmal ans Fenster. »Gute Nacht«, murmelte sie. Der Gruß galt dem Mann, der gestern ihr Gefühlsleben, das sie fest im Griff zu haben glaubte, in nur wenigen Minuten ziemlich durcheinandergebracht hatte.
Rasch sprang Marie wieder ins Bett. Der Fliesenboden war kalt und eine Erkältung wollte sie nicht heraufbeschwören. Der gestrige Regentag hatte ihr ohnehin einiges abverlangt.
Sie schmiegte sich in die Kissen und ließ die gestrigen Erlebnisse noch einmal Revue passieren. Der vermehrte Pulsschlag, den die Erinnerung hervorrief, bestätigte ihr, dass es gut gewesen war, heute Abend einem längeren Zusammentreffen mit dem Neuseeländer ausgewichen zu sein. Der Küchendienst hatte ihr eine wunderbare Ausrede geliefert. Pierre hätte ohne Zweifel so gut wie sie die Dekoration der Speisen übernehmen können.
Schließlich hatte sie der Versuchung, sich zu zeigen, doch nachgegeben. Karl Landmanns Blick war unbeschreiblich gewesen, als sie die Pavlova servierte: Ungläubiges Staunen? Dankbarkeit? Zuneigung? Marie hatte seine Blicke nicht zu deuten vermocht. Jedenfalls aber schien ihr, als seien sie beide allein im Raum gewesen. Sie seufzte: Wer hätte gedacht, dass sie in ihrem Alter noch einmal wie ein junges Mädchen empfinden werde? Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte einzuschlafen.
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Karl und Ronald trennten sich mit einem eher gemurmelten ›Gute Nacht‹ auf dem Korridor. Das Bedürfnis zu reden war gedeckt. Morgen – das hieß eigentlich heute – wollten sie den Platz begutachten, an dem man die Trailer aufstellen konnte. Ein paar Stunden Schlaf mussten also genügen.
›Ob Ronald morgen mit Marie sprechen wird?‹, dachte Karl. ›Ich sollte ihn vielleicht daran erinnern.‹ Er trat einen Schritt in den Korridor zurück und sagte halblaut: »Es geht ja morgen auch um die Besetzung der Geliebten …« Weiter kam er nicht.
Ronald – die Hand am Türknauf, die Augen vor Müdigkeit fast geschlossen – gähnte herzhaft und nuschelte: »Kannst du an nichts anderes denken? Hau dich ins Bett.«
Auf Karls Stirn erschien eine steile Falte, er ärgerte sich maßlos über sich selbst. »Also dann, bis zum Frühstück«, murmelte er.
Ronald hatte die Tür schon geschlossen.
Karl warf sich fast angezogen aufs Bett und schlief wider Erwarten sofort ein.
Weil er vergessen hatte, die Vorhänge zuzuziehen, lachte ihm Stunden später eine strahlende Morgensonne direkt ins Gesicht. Schlaftrunken richtete er sich auf und stellte fest, dass er nicht mal das Hemd ausgezogen hatte. Das holte er nun nach und trat hinaus auf den kleinen Balkon. Keine Spur von Wind, doch der kalte Schauer, der ihm über den nackten Oberkörper lief, erinnerte ihn deutlich daran, dass es noch Winter war und die Sonnenstrahlen die Wärme nur vorgaukelten. Rasch trat er ins Zimmer zurück und verschwand im Bad.
Trotz kurzer Nacht erschien er erfrischt und beschwingt als Erster zum Frühstück.
Ronald schien noch zu schlafen. Karl bediente sich ausgiebig am Buffet und stellte schnell fest, dass ihm der Espresso in der Bar besser geschmeckt hatte, als der allgemein bekannte Kaffee, den er hier serviert bekam.
Ronald erschien mit einem säuerlichen Ausdruck im Gesicht im Speisesaal. In der Hand hielt er ein Blatt Papier. Karl dachte im ersten Anflug, es handle sich um eine schlechte Nachricht in Bezug auf Victor. Aber es war ein Rechnungsbeleg, den Graham dem Ahnungslosen in die Hand drückte.





