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Die beiden Beamten stellten in gebührendem Abstand Pannendreiecke auf und fuhren dann zur Straßenmeisterei. Fahrverbotstafeln und Umleitungsschilder mussten aufgestellt, der Streckenteil abgesperrt werden.
5
Als die Kriminalpolizei eintraf, nahm sie Karl direkt am Fundort der Leiche in die Mangel. Was er hier zu tun gehabt habe zu so später Stunde, ob er etwas getrunken, am Tatort irgendwas verändert, Geräusche wahrgenommen, verdächtige Personen gesehen habe. Er gab bereitwillig Auskunft, sichtlich froh darüber, endlich einmal ernst genommen zu werden. Dann verfolgte er aus gebührendem Abstand gebannt die Arbeit der Kriminalpolizei. Zuallererst wurde der Reisighaufen fotografiert, dann der Tote abgedeckt. Der Polizeiarzt untersuchte den Toten akribisch, drehte ihn nach allen Seiten. Man hatte dem armen Teufel nicht nur den Hinterkopf eingeschlagen, sondern auch die Wirbelsäule mit wuchtigen Schlägen zertrümmert. Am schütteren Haarkranz schimmerte verkrustetes Blut. Die hässlichen Kratzspuren an Oberschenkeln, Bauch und Brustkorb deuteten darauf hin, dass der Mann über den Waldboden gezerrt worden war. An den Handgelenken konnte man deutlich blaue Druckstellen erkennen. Der Arzt leuchtete dem Toten in die Augen, in die Ohren, untersuchte sämtliche Körperöffnungen, richtete sich mühsam auf und stellte seine erste Diagnose.
„Nach den Fäulnisveränderungen des Leichnams geschah der Mord vor vier Tagen. Die Autopsie in der Gerichtsmedizin wird meine Annahme bestätigen. Hier im Wald tummelt sich allerlei Getier und anhand des Entwicklungsstadiums und der Art der in den Körperöffnungen gefundenen Fliegenlarven lässt sich der Zeitpunkt des Todes ziemlich genau feststellen.
Die Totenflecken sprechen die gleiche Sprache. Sie entstehen nach dem Tod durch das Absinken des Blutes in den Gefäßen, wir nennen das Hypostase. Die ersten Flecken treten etwa zwanzig bis dreißig Minuten nach dem Herztod auf. Keinerlei Abwehrverletzungen sind zu erkennen. Doch mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit sind Fundort und Tatort nicht ident. Ihr werdet hier weder Blutspuren noch Fingerabdrücke entdecken, der Täter trug sicher Handschuhe. Ohne jetzt einer weiteren Analyse vorgreifen zu wollen, bin ich mir sicher, dass es sich um eine sehr, sehr emotionale Tat handelt. Der Täter muss sein Opfer gekannt haben. Bei der Tatwaffe tippe ich auf ein schweres Rohr oder eine Eisenstange, auf alle Fälle auf einen runden Gegenstand. Mehr werden wir nach einer genaueren Untersuchung des Pathologen erfahren. Bereits der erste Schlag auf den Hinterkopf war tödlich, die anderen Schläge auf Genick und Rücken eine Draufgabe. Solche Übertötungen geschehen meist aus emotionalen Gründen. Wenn ihr den Täter finden wollt, dann forscht in seiner Umgebung nach, wer denn so viel Wut und Hass für ihn empfunden hat. Sollte der Tote tatsächlich der abgängige Finanzprüfer sein, dann gibt es wahrscheinlich eine Menge Anwärter.“
Seipelt rief Adamek, der noch immer jenseits des Absperrbandes stand und mit großem Interesse dem Interventionsteam bei seiner Arbeit zusah, zu, dass er zu der Leiche kommen solle.
„Du kennst doch die Leute vom Finanzamt. Ist das der gesuchte Hieminger?“
Adamek blickte in die toten Augen und wich entsetzt zurück, da sich bereits allerlei Getier daran gütlich tat. Sein Adamsapfel hüpfte vor Erregung auf und ab.
„Ja, das ist der Hieminger, dieses Schwein, der hat mich viel Geld gekostet! Das war ein Blutsauger der Extraklasse, für den jeder Gewerbetreibende ein potenzieller Steuerhinterzieher und Schwarzgeldmacher war. Der hat dir bei den Steuerprüfungen das letzte Hemd ausgezogen! Endlich hat man ihm den Garaus gemacht!“
Jetzt mischte sich Kommissar Reinhart Kalteis von der Kripo ein: „Apropos, weil wir gerade vom letzten Hemd sprechen, warum ist er nackt? Sollte das symbolisch gemeint sein? Hatte er eventuell dem Täter, sprichwörtlich gemeint, ebenfalls das letzte Hemd ausgezogen?“ Er wandte sich an Adamek: „Kollege Seipelt wird Sie nun wieder nach Hause fahren. Aber Sie werden von mir hören, ich denke, Sie haben mir einiges zu erklären! Ihre Äußerungen betreffs Garaus machen und so klingen nicht gerade entlastend für Sie!“
Seipelt war außer sich: „Diese blöde Bemerkung hättest du dir sparen können, Adamek, damit belastest du dich doch selbst! Die ganze Stadt weiß Bescheid über die Strafe, die dir das Finanzamt damals aufgebrummt hat. Du kennst doch die Schadenfreude, die unter der Bevölkerung herrscht, wenn es euch Gewerbetreibende einmal erwischt. Unterlass bitte in Zukunft so saublöde Aussagen!“
Adamek seufzte, da er wusste, dass Seipelt recht hatte. Er kannte all die Vorurteile und auch Gerüchte, die hinter vorgehaltener Hand über die Geschäftsleute des Städtchens verbreitet wurden. Hieminger war zeitlebens ein scharfer Hund gewesen, der bei den Steuerprüfungen akribisch nach dem kleinsten Fehler in der Buchhaltung gesucht hatte. Für Adamek – und nicht nur für ihn, sondern auch für all jene, die er zuvor geprüft hatte – war Hieminger ein rotes Tuch. Alleinstehend, ohne Familie und erst recht ohne Freunde, war das Finanzamt seine einzige Berufung. Bei den Steuerprüfungen ließ er daher seiner sadistischen Art freien Lauf. Quälte Handwerker und Kaufleute bis aufs Blut und suchte so lange nach Unregelmäßigkeiten, bis er zwangsläufig welche fand. Dem Fleischhauer war der Mengenschluss zum Verhängnis geworden. Anhand der verbrauchten Gewürze und anderer Zutaten rechnete ihm Hieminger exakt vor, wie viel Fleisch und Wurst er damit produziert hatte. Das Ergebnis hatte für Adamek katastrophale Folgen, eine saftige Strafe und eine Nachzahlung folgten auf dem Fuß. Alles in allem kostete ihn die leidige Angelegenheit knapp über zwanzigtausend Euro. Zu allem Überdruss schrieb auch noch die Lokalzeitung darüber und der Skandal war perfekt. Die unseriösen Machenschaften des Fleischermeisters schadeten nicht nur ihm selbst, sondern auch dem Image aller Gewerbetreibenden. Wochenlang zerrissen sich die werten Mitmenschen das Maul darüber und machten sich über ihn lustig.
Nun aber war er tot, der Hieminger, und Karl Adameks Mitgefühl hielt sich naturgemäß in Grenzen. Freuen konnte er sich aber nicht darüber, da er nun auf der Liste der Hauptverdächtigen ganz oben stand.
Die Kriminalpolizei schlug ihr Hauptquartier in einem Personalraum des örtlichen Polizeireviers auf. Sie ging harten Zeiten entgegen, da man außer der Leiche selbst nichts in der Hand hatte. Am Fundort fanden die Kriminaltechniker keinerlei Spuren. Weder eine Tatwaffe noch Fingerabdrücke, Fußspuren, Reifenabdrücke oder sonstige Beweise. Damit galt als sicher, dass der Fundort nicht der Tatort war. Der Tote war nackt gewesen, sogar die Uhr hatte man ihm abgenommen. Obwohl das Waldstück Meter für Meter durchsucht wurde, war auch von seinen Kleidern nichts zu finden.
Der Vorstand des Finanzamtes hatte die Leiche ebenfalls identifiziert, der Tote war ohne Zweifel Hieminger. Wie sein Chef den Beamten versicherte, war dieser ein scharfer Hund gewesen, der auch unter den Kollegen keine Freunde hatte. Doch er war erfolgreich und bescherte dem Finanzamt hohe Einkünfte aus Strafen, welche wiederum Belobigungen nach sich zogen. Immer wieder seien jedoch Beschwerden eingelangt betreffs zynischer Bemerkungen und Beleidigungen, welche Hieminger gern vom Stapel ließ, wenn er auf Unregelmäßigkeiten stieß. Trotz all der Vorteile, welche die akribische Spurensuche Hiemingers für die Erfolgsquote des Amtes brachte, war auch sein Vorgesetzter nie ganz glücklich über diese rigide Vorgangsweise seines Kollegen, da sie sich negativ auf den ohnehin nicht so glanzvollen Ruf der Finanzämter auswirkte. Doch erst vor einer Woche hatte ihn Hieminger überraschenderweise um eine vertrauliche Unterredung gebeten. Er hatte das Angebot eines „Golden Handshake“ im Zuge der vom Ministerium vorgeschriebenen Personalreduzierung annehmen und in den frühzeitigen Ruhestand gehen wollen.
Kommissar Kalteis bat den Amtsleiter um eine Auflistung aller Fälle, die in den letzten drei Jahren von Hieminger überprüft worden waren. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass Hieminger durch seine rüde Art, mit der er seine Opfer bedrängt hatte, nun selbst zum Opfer eines dieser Opfer geworden war. Irgendeiner der Geschädigten musste so einen Hass auf ihn empfunden haben, dass er ihn kurzerhand vom Leben in den Tod befördert hatte.
Überhaupt erschien vieles an diesem Fall Reinhart Kalteis, dem Chef der Ermittlung, merkwürdig. Warum war der Tote nackt? Was wollte der Täter damit aussagen? Hatte auch ihm Hieminger „das letzte Hemd ausgezogen“? War der Täter vielleicht durch seine Prüfung pleitegegangen? Oder hatte ihn die Finanzstrafe zumindest an den Rand des Ruins gebracht? War der Täter ein Kaufmann, ein Handwerker, ein Geschäftsmann aus der näheren Umgebung? Kalteis würde Unterstützung durch einen Steuerexperten benötigen, der sich mit all dem Aktenkram zu beschäftigen hatte.
Kalteis, ein alter Hase auf dem Gebiet der Mordermittlung, war mit allen Wassern gewaschen. Da er vor nicht allzu langer Zeit ein Seminar eines Polizeipsychologen besucht hatte, maß er der Nacktheit des Opfers allergrößte Bedeutung zu. Denn die Nacktheit, so wusste er, sollte als Symbol den Menschen im „Urzustand“ darstellen, also ohne jegliche hierarchische Unterscheidungsmerkmale durch die Kleidung. In der christlich-abendländischen Kunst wurden Adam und Eva immer nackt dargestellt, ebenso die Hexen. Während sich die Nacktheit bei Adam und Eva jedoch auf die Ur-Unschuld des Paradieszustandes bezog, wollte man bei den Hexen damit ihre Zügellosigkeit darstellen. Aber auch bei Initiationsriten der Naturvölker war die Nacktheit ein wesentliches Erfordernis im Kult des „Sichauslieferns“ an höhere Mächte und Kräfte, wobei der Mensch alle Bindungen und Knoten seiner Bedeckung löste und auch die sonst stets geschützten Genitalien unverhüllt ließ. Doch dass der Tote seine Nacktheit irgendwelchen obskuren Riten oder Einweihungen zu verdanken hatte, schloss Kalteis aus. Solcherlei Motive waren hier im ländlichen Raum nicht zu suchen und schon gar nicht zu finden. Versteckt im verstecktesten Winkel des Waldviertels lag die Kriminalitätsrate nahe an null und beschränkte sich auf Wirtshausraufereien, kleinere Diebstähle oder Verkehrsdelikte. Übergriffe von Rowdys oder Skinheads waren ebenfalls unbekannt und auch die ältesten Bewohner von Hochstätt konnten sich an keinen Mord erinnern. Also hieß es, Zwängen und Motiven nachzuforschen.
Wahrscheinlich war Hieminger wie immer standesgemäß korrekt mit Anzug und Krawatte bekleidet gewesen, als er umgebracht wurde, überlegte Kalteis weiter. Die Möglichkeit, dass der Täter einen unbändigen Hass auf den Beamten verspürt und ihn durch die Nacktheit noch zusätzlich bloßstellen hatte wollen, durfte man keinesfalls außer Acht lassen.
6
Am nächsten Tag liefen bereits frühmorgens die Ermittlungen auf Hochtouren. Der Steuerexperte überprüfte Hiemingers Akten der letzten drei Jahre. Kalteis und sein Kollege Erwin Schönkirchner untersuchten seine Wohnung in einer Wohnhausanlage am Rande der Stadt. Hiemingers Putzfrau, eine Frau Rosa Panagl, die zweimal pro Woche kam und die Grobarbeiten verrichtete, hatte ihnen aufgesperrt. Wie erwartet, war Hiemingers Wohnung ein Spiegelbild seiner überkorrekten Beamtenseele. Nirgendwo lag auch das kleinste Staubkorn herum, die Schuhe standen blank geputzt Spalier auf einer Fußmatte, in den Kleiderschränken roch es nach Mottenkugeln und Sauberkeit, auch stand kein ungewaschenes Geschirr in der Spüle. Ein Hauch von Unpersönlichkeit und Sterilität machte sich breit. Die Möbel waren von einfacher Geschmacklosigkeit, ohne einen Hinweis auf die Persönlichkeit des Eigentümers abzugeben. So angestrengt sich Kalteis auch umblickte, fand er doch nichts, was auch nur im Entferntesten auf Gemütlichkeit oder Lebensfreude hinwies. Die Rollos waren heruntergelassen, die schweren Vorhänge zugezogen. Hier hatte ein Mensch gelebt, der sich von seiner Außenwelt abgeschottet hatte. Einer, der keinen Kontakt nach außen suchte. Genau so hatte es sich Kalteis vorgestellt. Der Tote wurde ihm immer unsympathischer.
Schönkirchner steckte den Kopf zur Tür herein, riss Kalteis aus den Betrachtungen über die Persönlichkeitsstruktur des Opfers.
„Schau her, was ich gefunden habe“, rief er ihm zu und zeigte ihm eine Pistole. „Die lag in einer Schublade, versteckt unter einem Stoß Handtücher. Das würde man dem alten Knacker gar nicht zutrauen, oder?“
Kalteis nahm die Pistole in Augenschein, es war eine Beretta, mit der offensichtlich noch nie geschossen worden war. Er wandte sich an die Putzfrau: „Haben Sie diese Waffe jemals gesehen?“
„Ja“, kam postwendend die Antwort, „ich wollte die Lade auswischen und da lag sie drinnen. Er hat sich furchtbar aufgeregt und mir dann aber erklärt, dass ich keine Angst zu haben bräuchte, da sie nicht geladen sei. Er hat mir aber verboten, diese Lade jemals wieder zu öffnen!“
„Wie war der Herr Hieminger, so als Mensch?“, wollte Kalteis nun von ihr wissen.
„Da gibt es nicht viel zu sagen. Er war mir gegenüber immer korrekt und zahlte gut. Als er mich einstellte, gab er mir einen genauen Katalog, was und wie oft ich alles machen musste. Was mich was anging und was nicht. Zum Geburtstag und zu Weihnachten bekam ich eine Bonbonniere. Aber er war der unpersönlichste Kunde, den ich jemals hatte. Nie wollte er von mir wissen, wie es mir ging, nie hat er von sich irgendwas preisgegeben. Ich hatte einen Schlüssel, kam zweimal die Woche für jeweils drei Stunden und wurde dafür auch bezahlt. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn wir uns zufällig in der Stadt trafen, dann grüßten wir uns und gingen jeder wieder seiner Wege. Das war’s!“
„Hatte er jemals Besuch? Kamen öfter Freunde, Bekannte oder Verwandte zu ihm?“
„Ich glaube nicht, jedenfalls ist mir nie etwas aufgefallen. Er hat auch nie darüber gesprochen. Aber die Pistole ist nicht das einzige Geheimnis, das er hatte. Wenn Sie mit mir in den Keller gehen, dann zeig ich Ihnen was Interessantes.“
Sie gingen in den Keller hinunter. Dieser war durch Lattenwände in vierundzwanzig gleich große Abteile gegliedert. Frau Panagl öffnete das einfache Vorhängeschloss der letzten Tür. Außer einem Regal, einer Tiefkühltruhe und einem Fahrrad gab es nicht viel zu sehen. Doch das Regal war gespickt voll mit Schnapsflaschen jeglicher Art, daneben hingen große Speckstücke an Schnüren von der Decke. Kalteis stieß einen Pfiff aus.
„Das ist ja eine gänzlich unbekannte Seite im Leben des korrekten Beamten. Das sind ja Hunderte von Flaschen, war er am Ende gar ein Säufer?“
Frau Panagl verneinte: „Ach wo, der Schnaps ist von all den Schnapsbrennern, die hat er im Lauf seiner langjährigen Dienstzeit geschnorrt. Ich glaub kaum, dass er gesoffen hat, jedenfalls standen nie benützte Gläser in der Wohnung herum. Doch das ist noch nicht alles, machen Sie doch mal die Gefriertruhe auf!“
Kalteis tat wie geheißen. Nun verschlug es ihm gänzlich die Sprache. Die riesige Truhe war prall voll mit fein säuberlich abgepackten und beschrifteten Fleischstücken, Blutwürsten und riesigen Brotlaiben. Der Kommissar und sein Partner sahen sich an. Mit solch einer Entdeckung hatten sie nicht gerechnet.
„Das ist ja wahrhaft gigantisch, was unser verblichener Freund hier gebunkert hat. Fürchtete er eine große Hungersnot? Hat er sich von der Weltuntergangsphobie nach dem Maya-Kalender anstecken lassen? Wollte er für Krisenzeiten vorsorgen? Oder hatte er Angstträume, in denen er hungern musste?“
„Nichts von alledem“, entgegnete die Putzfrau. „Dieses Kellerabteil war sein größtes Geheimnis. Ich durfte hier nie heruntergehen, doch eines Tages habe ich seinen Ersatzschlüssel für dieses Schloss gefunden und da hat mich die Neugier gepackt. Da bin ich ihm auf die Schliche gekommen. Weil auf einem Flaschenetikett der Name eines Bekannten von mir zu lesen war, hab ich diesen angerufen. Der hat mir die Augen geöffnet über den angeblich so korrekten Herrn Finanzbeamten. Immer wenn der die Bauern beim Schnapsbrennen kontrolliert hat, hat er so lange gesudert, bis sie ihm Schnaps, selbst gebackenes Brot, Fleisch und Geselchtes, hausgemachte Würste oder Ähnliches mitgegeben haben. Er hat ohne viel Aufhebens seine Tasche hingehalten und ist erst gegangen, wenn sie voll war. Jeder war froh, dass er ihn endlich los wurde, keiner hat sich lumpen lassen. Im Laufe seiner Amtstätigkeit hat er sich so viel erschlichen, dass man damit halb Indien versorgen könnte!“
Abermals pfiff Kalteis durch die Lücke seiner Vorderzähne. „Sieh mal einer an, unser Herr Hieminger war korrupt und hat sich durch solch milde Gaben bestechen lassen! Erwin, notier die Namen auf den Etiketten und mach eine Bestandsaufnahme des Inhaltes der Kühltruhe! Ich durchkämme einstweilen mit Frau Panagl die Wohnung nach weiteren Beweisstücken.“
Die Putzfrau motzte: „Das wird wohl nicht nötig sein, ich kann Ihnen versichern, dass Sie nichts Aufregendes finden werden!“
Da Kalteis nicht lockerließ, gingen sie wieder hinauf in den zweiten Stock. Er hatte Lunte gerochen und war neugierig geworden. Langsam, aber sicher entwickelte sich in seinem Gehirn ein gänzlich neues Charakterbild des Ermordeten.
Gemeinsam mit der Putzfrau durchsuchte er Schrank für Schrank, Regal für Regal, Lade für Lade. Wie nicht anders zu erwarten, strotzte alles vor Sauberkeit und Ordnung. Die Anzüge hingen fein säuberlich auf Kleiderbügeln, die Hemden lagen ordentlich gefaltet und zu Stößen aufgeschichtet in den Schrankfächern, Unterwäsche und Socken ebenso. Auf der Garderobe im Vorzimmer hingen ein blauer Anorak und ein Regenmantel, im Schuhkasten standen zehn blank polierte Schuhpaare, exakt ausgerichtet wie Gardesoldaten bei einer Parade. Auch das Badezimmer wirkte steril wie ein Operationssaal. Dusche, Waschbecken, Gastherme und ein alter Spiegelschrank waren zu sehen. Alles in allem normaler Standard einer städtischen Wohnhausanlage. Das WC war wie üblich mit Klomuschel, Spülkasten, Handwaschbecken und einem kleinen Hängeschrank mit Putzmitteln ausgestattet. Routinemäßig hob Kalteis den Deckel des Spülkastens ab, blickte hinein, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches darin entdecken. Die Durchsuchung des Schlafzimmers blieb ebenso ergebnislos. Das Wohnzimmer nahm mehr Zeit in Anspruch. Ein riesiges Bücherregal bedeckte die Wand neben der Tür zum Schlafzimmer. Hunderte von prächtigen Bildbänden über Kunst und ferne Länder, ledergebundene Klassiker der Weltliteratur und bemerkenswerterweise eine ansehnliche Sammlung erotischer Bildbände von Helmut Newton und anderen großen Fotografen. Fachbücher über Steuerrecht und Betriebswirtschaftslehre ergänzten das Sortiment. Ein moderner Flachbildschirm und eine teure Stereoanlage waren ebenfalls zu sehen.
Die Wohnung strotzte vor Sauberkeit. Nichts lag herum oder am falschen Platz. Noch nie hatte Kalteis so einen bis in den höchsten Grad unpersönlichen Raum untersucht. Kein einziges Foto war zu sehen. Weder an den Wänden noch auf irgendeiner der Kommoden. Es schien, als ob Hieminger all seine Erinnerungen an ihn selbst eigenhändig gelöscht hätte. Einzig und allein zwei Belobigungsschreiben hingen an der Wand zum Vorzimmer.
Kalteis wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Wohnung und Keller widersprachen sich auf erstaunliche Art und Weise, wiesen auf eine gespaltene Persönlichkeit hin. Die Wohnung in all ihrer Sterilität zeugte von Hiemingers Korrektheit und seinem verbissenen Kampf gegen jegliche Art von Missständen. Sein Kellerabteil jedoch spiegelte die dunkle Seite seiner Seele wider, die nicht anders konnte, als Macht bis zum Exzess auszuüben. Die Macht des Kontrolleurs über den Kontrollierten. Die Gier und Frechheit von denen zu fordern, die ihm ausgeliefert waren. Die Unersättlichkeit, Dinge in dem Bewusstsein anzuhäufen, dass man sie nie gebrauchen würde, aber dann doch nahm, da sie leicht zu bekommen waren.
7
Tags darauf fuhren Kalteis und Schönkirchner zu drei Schnapsbrennern, deren Namen auf den Etiketten standen. Keiner ließ ein gutes Haar an dem Toten. Sie bezeichneten ihn als unkorrekten Beamten, der ständig nur herumgenörgelt, dem dies und das nicht gepasst hatte und der erst abgezogen war, wenn man seine Taschen gefüllt hatte. Der sich hin und wieder erdreistet hatte, Frau und Tochter unsittliche Anträge zu machen. Rudolf Grubeck, ein Großbauer aus dem Nachbarort, bekannt für seine unverblümte Direktheit, traf mit seiner Aussage den Nagel auf den Kopf.
„Der Hieminger war der größte Falott in Gottes freier Wildbahn, der hat uns Bauern behandelt, als wären wir seine Leibeigenen. Man sollte dem Mörder direkt dankbar sein, dass er uns von dieser Last befreit hat!“
Kommissar Kalteis stand vor einem Rätsel. Selbst ihm, dem alten Hasen der Kripo, war so ein Fall noch nie untergekommen. Wohin er auch kam, mit wem er auch sprach, fand niemand ein gutes Wort über das Mordopfer. Auf dem Finanzamt blies man in dasselbe Horn. Seine Kollegen beschrieben Hieminger als mürrischen Einzelgänger, der jeglichen Umgang mit ihnen vermieden, weder an Betriebsausflügen noch an Jubiläumsfeiern oder Ähnlichem teilgenommen hatte. Er galt als Radfahrer, der nach unten trat und nach oben buckelte. Doch auch seine Vorgesetzten waren aus ihm nie schlau geworden. Der Leiter des Finanzamtes bezeichnete ihn als erfolgreichsten Fahnder des Landes, der dem Amt Jahr für Jahr eine stolze Summe an Finanzstrafen eingebracht hatte. Seine Trefferquote war österreichweit seit Jahren unerreicht, sodass er in den Statistiken seit Langem an erster Stelle rangierte. Dessen ungeachtet hatte man nicht viel Freude mit ihm gehabt. Er hatte als unnahbar, abweisend und extrem verschlossen gegolten. Seine Aufzeichnungen waren ohne Fehl und Tadel, roboterhaft, von seelenloser Korrektheit, auf das i-Tüpfelchen genau. Keiner der fünfzig Beamten und Vertragsbediensteten war jemals in seiner Wohnung gewesen, hatte jemals mit ihm ein Bier getrunken, war jemals länger als unbedingt notwendig mit ihm in ein Gespräch verwickelt gewesen. Freundschaft oder gar Vertrautheit innerhalb seiner Dienststelle war ihm fremd gewesen, nie hatte er irgendjemandem gestattet, auch nur den kleinsten Blick hinter seine Fassade zu werfen. Selbst jetzt, wo er tot war, ja sogar ein außerordentlich schändliches und unrühmliches Ende gefunden hatte, kam keinem der Kollegen ein Wort des Bedauerns über die Lippen. Man sprach von Hieminger wie von einem Schatten, der zwar allgegenwärtig, aber nicht greifbar war.
Keiner hatte ihn gemocht, keiner hatte mit ihm gekonnt. Dieser einzigartige Umstand verwirrte Kalteis über alle Maßen. Denn der übliche Kreis der Verdächtigen, die erfahrungsgemäß zumeist innerhalb der Familie, Freunde oder Bekannten zu finden waren, konnte ausgeschlossen werden. Denn Hieminger hatte keine Familie, keine Bekannten und schon gar keine Freunde. Paradoxerweise gab es aber dennoch in diesem Verwirrspiel eine unendlich große Zahl an Verdächtigen, nämlich all jene, die von ihm in den letzten Jahren überprüft und zur Ader gelassen worden waren. Fleischermeister Karl Adamek war natürlich einer von ihnen – und er brachte die Sache Kalteis gegenüber als Erster auf den Punkt. Sein würziger Kommentar „Endlich hat’s den Sauhund erwischt“, der sogleich von Mund zu Mund ging, stand stellvertretend für all jene, die genauso dachten wie er, und wurde in den Tageszeitungen gehörig ausgeschlachtet.
Kommissar Kalteis, für seine Präzision bekannt, ging nun systematisch vor. Anhand einer Liste, welche ihm der Vorstand des Finanzamtes nur widerwillig aushändigte, begannen er und Schönkirchner in den folgenden Tagen mit der gezielten Vernehmung von Gastwirten, Kaufleuten und Handwerkern, die von dem Toten in den letzten zwei Jahren geprüft und mit einer höheren Finanzstrafe bedacht worden waren.
Als Kalteis den ersten der Gewerbetreibenden vernahm, hörte er dieselbe Litanei wie auf dem Finanzamt: „Der Hieminger, den ein gerechter Gott nun endlich zu sich geholt hat, war ein beinharter Prüfer, ein unerbittlicher Erbsenzähler, der sich wie ein Bluthund verbissen an die Spur auch der allerkleinsten Ungereimtheit geheftet hat, die er in unseren Büchern gefunden hat. Überall, wo er hinkam, galt er als Schreckgespenst, als Geißel, als Großinquisitor des ,Instituts für moderne Christenverfolgung‘, wie wir die Finanzämter manchmal nennen. Sie müssen wissen, Herr Kommissar, dass wir kleinen Handwerker und Kaufleute hier an der Grenze durch die übermächtige Konkurrenz der Lagerhäuser, Baumärkte und Supermarktketten, die ungerechte Steuerpolitik, die den Mittelstand aushöhlt, und die verfehlte Wirtschaftspolitik des Landes, die ohnehin nur die Ballungszentren rund um Wien begünstigt, bereits genug gestraft sind. Da können wir auf so pragmatisierte Leuteschinder, wie der Hieminger einer war, durchaus verzichten. Keinem von uns tut der Hieminger leid, das können Sie mir glauben!“






