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Mit Worthülsen und Banalrhetorik blasen Hersteller von Lebensmitteln, Kosmetika, Autos und Kleidung jede Nichtigkeit zum weltbewegenden Großereignis auf. Ob Supermarkt, Drogerie oder Elektronikladen: Überall ersetzt das Wort die Substanz, der Klang das Argument. Längst ist so viel sprachlicher Unsinn in den allgemeinen Wortschatz eingesickert, dass er kaum noch erkannt oder infrage gestellt wird.
Die »Quengelzone« ist das Rüstzeug für aufgeklärte Geister. Sie hilft, die Tricks jener Blender zu entlarven, die immer nur unser Bestes wollen: unser Geld. Dieses E-Book fasst die beliebtesten Kolumnen aus einem Jahr »Quengelzone« zusammen. Meine »unentbehrliche Einkaufshilfe« veröffentliche ich wöchentlich im Wirtschaftsteil der ZEIT – mit tatkräftiger Unterstützung vieler Leser, die sich ebenfalls nicht länger für dumm verkaufen lassen wollen. Und wenn auch Sie von Verkäuferfloskeln oder Werbe-Hohlsprech genervt sind, lassen Sie es mich gern wissen: quengelzone@zeit.de.
Ihr Marcus Rohwetter
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
VON HEIßER LUFT GETRIEBEN
»Alles ab 1 Euro«
»Bewusster Konsum«
»Das neue Neu«
»Eigene Herstellung«
»Hausgemacht«
»Herzlichen Glückwunsch!«
»Ihr Gratis-Geschenk«
»Jährlich DLG-prämiert«
»Natürlich«
»Ohne Chemie«
»Rein pflanzlich«
»Solange Vorrat reicht«
»Umweltfreundlich«
BESSER ESSEN, MEHR TRINKEN
»100 Prozent Geschmack«
»Aktivierend«
»Alkoholfrei«
»Aus friedfertigem Landbau«
»Ausgesuchte Qualität«
»Dreimal Nein«
»Elefantenkaffee«
»Extra stilles Wasser«
»Fleisch«
»Handgesalzen«
»Kontrollierter Anbau«
»Lernspaß«
»Ohne Ende«
»Seitan«
»Verbesserte Rezeptur«
»Vollmondabfüllung«
»Weidemilch«
GEFANGEN IN DER WELLNESS-OASE
»Dauerpreis-Garantie«
»Inspiriert von der Genforschung«
Küchenrollen
»Limited Edition«
»Mit Diamant-Partikeln«
»Oase der Ruhe«
»Superkleber«
»Turbo Aufwach-Kick«
»Von Dermatologen getestet«
LIFESTYLE FÜR DEPPEN
»Atmungsaktiv«
»Body Bags«
»Designersofas«
»Echt«
»Getrennt Waschen«
»Gruppenreisen für Individualisten«
Lufthansas Mops-Club
»Manufaktur«
»Ohne Zusätze«
»Outdoor-Autos«
»Smart Home«
Weitere ZEIT E-Books
Impressum
»Alles ab 1 Euro«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 20.06.2013 Nr. 26
Jede Innenstadt hat ihre A-, B- und C-Lagen. Das Lagen-Alphabet kann jeder Kaufmann auswendig aufsagen, und je weiter hinten die Lage eines Ladenlokals im Alphabet einzuordnen ist, desto schlechter ist sie. In den A-Lagen der großen Metropolen findet man beispielsweise Filialen von Prada, Jil Sander oder Louis Vuitton, wohingegen Schuhdiscounter, Jeansläden und Kaufhäuser die B-Lagen prägen. Ganz unten in der Lagenhierarchie stehen Sonnenstudios, Läden für Bodybuilder-Spezialnahrung und natürlich die »Alles ab 1 Euro«-Geschäfte.
Zu erkennen sind diese von außen an den großen roten Aufklebern mit ebenjenem Spruch auf den Schaufenstern. Im Innern bezaubern sie mit der größtmöglichen Auswahl an Plastikprodukten in ungewöhnlichen Farben. Duschhauben, Haarreife, Trinkbecher, Luftpumpen – und »alles ab 1 Euro«.
Der Werbespruch ist ein Klassiker der Rubrik: Nicht falsch und doch gelogen. Denn »alles ab 1 Euro« ist immer richtig, sofern es in einem Millionen Teile umfassenden Sortiment auch nur ein einziges Teil gibt, das einen Euro kostet. Beispiel: Nur mal angenommen, in einer Luxusboutique könnte man für 1 Euro einzelne kleine grüne Plastikknöpfe erwerben, wohingegen alles andere sonst um ein Vielfaches teurer wäre und schon ein Paar Socken 200 Euro kosten würde – dann wäre der Satz korrekt.
Im »ab« steckt das Geheimnis, dass den Spruch so sinnlos werden lässt, dass man sich ihn gleich ganz schenken könnte. Aber das will der gemeine Für-Dumm-Verkäufer nicht, denn irgendwie wollen seine Kunden sich ja wohl doch ein klein wenig der Illusion hingeben. Hinters Licht geführt werden sie ja in jedem Fall. Natürlich ist der Krempel in den Luxusläden der A-Lagen in der Regel hoffnungslos überteuert. Dass in den 1-Euro-Läden aber alles sein Geld wert sein muss, ist damit noch lange nicht bewiesen.
»Bewusster Konsum«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 22.11.2012 Nr. 48
Gut, dass Selbstbetrug keine Straftat ist. Sonst säßen wohl schon viele Verbraucher im Gefängnis. Weil sie sich etwas vormachen. Oder einreden. Etwa, dass sie »bewusst konsumieren« und damit Gutes tun.
Wie trügerisch das Märchen vom bewussten Konsum ist, lässt sich schnell herausfinden, indem man den Begriff in sein Gegenteil verkehrt. Das ist eine bewährte Methode. Ergibt das Gegenteil einen Sinn, so handelt es sich bei dem ursprünglichen Ausdruck um eine Differenzierung. Andernfalls handelt es sich um Bullshit. Also: Bewusster Konsum, das klingt gut. Aber das Gegenteil? Bewusstloser Konsum. Gibt’s nicht. Wenn es aber bewusstlosen Konsum nicht gibt, ergibt auch bewusster Konsum keinen Sinn.
Trotzdem finden wir bewussten Konsum meistens gut. Der Industrie kommt das sehr gelegen, und ich würde wetten, dass sie das Märchen vom bewussten Konsumenten nach Kräften mitgeschrieben hat.
Als bewusste Konsumenten wissen wir, dass unser Handeln Folgen hat. Es ist ja auch kaum mehr zu übersehen, dass unser Lebensstil nicht bloß Vorteile bringt: Regenwald weg, Klima kaputt, Monokulturen auf dem Acker. Schlachtrinder fristen ihr übles Dasein, ebenso die Leute, die in westafrikanischen Minen die Zutaten für unsere Handys aus der Erde buddeln. Bewusster Konsum erlaubt da ein Eingeständnis ohne Folgen, schon gar nicht in Richtung Verzicht. Sonst hieße es ja beschränkter Konsum, was es aber nicht heißt.
Als raising awareness bezeichnen Meinungsmacher die Sichbewusstmachung von Problemen, mit der sich das eigene Verhalten praktischerweise kaschieren lässt. Der öffentlich geäußerte Teil geht so: »Ja, ich bin mir der negativen Folgen meines Lebensstils bewusst.« Der privat gehaltene, meist verschwiegene Teil: »Aber, ätsch, ich ändere ihn nicht, weil es so toll ist, schnell an billige Möbel, Steaks und Gadgets zu kommen.« Bleibt also alles, wie es ist. Dank bewusstem Konsum. Das Strafgesetzbuch hat für so etwas übrigens auch einen Begriff: Er heißt Vorsatz.
»Das neue Neu«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 13.06.2013 Nr. 25
Die Gesellschaft altert. Umso wichtiger, dass man jung bleibt. Und sei es nur sprachlich. In der Bild war anlässlich des 60. Geburtstags eines Prominenten mal der schöne Satz zu lesen: »60 ist das neue 50.« Was für ein Kompliment! Zumal die 50-Jährigen sich nicht ernsthaft sorgen müssen. Sie konnten sich via Focus Online nämlich von Telekom-Chef René Obermann trösten lassen, dessen Frau ihm verraten haben soll: »50 ist das neue 40.« Glücklicherweise packte Germany’s next Topmodel-Scharfrichterin Heidi Klum kurz vor ihrem runden Geburtstag noch rechtzeitig in der Gala aus: »40 ist das neue 30.«
Hauptsache, man bleibt so jung, wie man sich fühlt. Ansonsten ist »A ist das neue B« eine hohle Phrase: Etwas wird für besonders erklärt, obwohl es banal ist wie nur was. Das kennzeichnet die Logik aller Moden.
Wenn sonst schon nichts für ein Produkt spricht, dann wenigstens die Tatsache, dass es neu ist (und folglich etwas Altes ersetzen muss). Denken Sie dran, wenn Ihnen das nächste Mal jemand etwas mit der Begründung aufschwatzen will, es sei das neue Sonstwas. Und für diejenigen, die es nicht glauben wollen: »Grün ist das neue Schwarz« (Cosmopolitan), »Schwarz ist das neue Blau« (Handelsblatt) und »Blau ist das neue Grün« (Volkswagen). Ich habe aufgehört, darüber nachzudenken.
»Eigene Herstellung«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 15.11.2012 Nr. 47
Mehr über Lebensmittel wissen zu wollen ist ein verständliches Anliegen. Woher kommt unser Essen? Wer macht es? Wie macht er es? Was ist drin? Berechtigte Fragen. Gelegentlich erhält man darauf Antworten. Aber oft werfen diese noch mehr Fragen auf.
Einem Leser dieser Kolumne ist so eine Frage beim Einkauf in seinem Rewe-Supermarkt gekommen. Dort stolperte er – im übertragenen Sinne, also nicht physisch – über die industriell abgepackte Mettwurst einer Großfleischerei. Auf der Packung stand, gemeint war das wohl als Zeichen der Qualität: »Aus eigener Herstellung«.
Das war also die Antwort. Offenbar muss man heutzutage schon dankbar sein, wenn die Wurst tatsächlich aus einer Metzgerei kommt, warum sonst würde wohl eigens darauf hingewiesen? Dem Deutschen Fleischerverband zufolge gehört die »Herstellung von Fleisch- und Wurstspezialitäten« tatsächlich zum Berufsbild des Metzgers, und es ist ja schön, wenn sich die Erwartung mal mit der Realität deckt. Andererseits schien besagter Metzgerei der Hinweis sehr wichtig zu sein, und das ergibt neue Fragen: Woher sollte die Wurst denn sonst kommen, wenn nicht vom Metzger? Werden moderne Würste mal hier, mal dort, vielleicht sogar global arbeitsteilig zusammengesetzt? Eine Art iPhone aus Fleisch, mitsamt einer weltumspannenden Zuliefererkette für Füllung, Gewürze und Darm: Designed by Metzger in Germany. Assembled in the most remote areas of Asia.
Vielleicht geht ja hier meine Fantasie mit mir durch. Aber schuld daran ist ohne Zweifel dieser Metzger.
»Hausgemacht«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 12.07.2012 Nr. 29
Als Quengelzone bezeichnen Konsumforscher jenen mit Schokoriegeln und Überraschungseiern bestückten Wartebereich an der Supermarktkasse, in dem kleine Kinder ihren Eltern das Leben zur Hölle machen sollen. Quengelzone klingt niedlicher als Nötigung.
Die Einkaufswelt ist voll von Beschönigungen, Worthülsen und falschen Bildern, die oft bloß den Verstand betäuben und Geldbörsen öffnen. Etwa der große Klassiker »hausgemacht«, ein ebenso schönes wie leeres Wort. Hausgemacht ist beim Metzger die Wurst, beim Bäcker der Kuchen. Und, logisch, an fast jeder Eisdiele: ein Dutzend Sorten. Hausgemacht.
Klingt nach Geheimtipp, und schon entsteht im Kopf ein Bild: Leckere Speisen nach uraltem Rezept, an einem Ort mit karierten Tischdecken per Hand zubereitet von gütigen Omis, die es als ihre Lebensaufgabe betrachten, uns einzigartigen Genuss zu verschaffen. Hausgemachtes zu kaufen ist der kleine Aufstand des bewussten Konsumenten gegen die Industrialisierung der Nahrungskette.
Hausgemacht. Ja, klar. Unter freiem Himmel wird wohl niemand was anrühren. Aber in welchem Haus? In einem Haus in Fernost? Oder im eigenen? Wenn ja: Wissen Sie, wie es dort aussieht? Bei einer Industrieanlage darf man immerhin annehmen, dass ab und an eine Putzkolonne vorbeischaut, aber bei Hempels in der Küche? Stellen Sie sich mal einen WG-Kühlschrank vor. Hausgemacht muss nicht mal besser schmecken. Ich habe mal versucht, daheim Marmelade zu kochen, aber die konnte ich keinem anbieten. So viele einweckende Großmütter kann man gar nicht herbeihalluzinieren. Dann doch lieber Industrieware.
Hausgemacht, das wissen wir aus Wirtschaft und Politik, kann auch eine Krise sein. Also etwas sehr, sehr Schlechtes. Fragen Sie mal die FDP.
»Herzlichen Glückwunsch!«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 07.03.2013 Nr. 11
Der Tag der Hochzeit wird traditionell als schönster Tag im Leben bezeichnet, was nicht unproblematisch ist, weil das ja zugleich heißt, dass es nach diesem Ereignis nur noch bergab gehen könne. Fast genauso schön wie Hochzeiten sind Geburtstage: Stets kommen viele nette Leute zu Besuch, freuen sich aufrichtig, machen Geschenke und gratulieren. Das macht glücklich.
Auch der Einzelhandel will seine Kunden glücklich machen. Zumindest gratuliert er ihnen permanent, als müsse der Erwerb einer banalen Ware den allerschönsten Moment im Leben darstellen, schöner noch als sämtliche Geburtstage und Hochzeiten zusammen. Schon die Entgegennahme einer Papiertragetüte kann eine Gratulationsorgie auslösen. Eine solche Tüte erhielt ich neulich an der Kasse eines Warenhauses. Innen befand sich ein Etikett: »Herzlichen Glückwunsch! Sie halten eine von Hand gefertigte Tragetasche in Ihren Händen. Durch ihre Individualität wird jedes Einzelstück zu einem besonderen Unikat.«
Herzlichen Glückwunsch meinerseits, liebes Warenhaus! Für dümmer wollte mich bislang noch niemand verkaufen. Eine Papiertüte soll wegen ihrer Einzigartigkeit besonders einzigartig sein? Ich habe jedenfalls kein Glück verspürt, eine Papiertragetasche erworben zu haben, aber vielleicht fehlt es mir auch an der nötigen Demut, um auch die kleinen Dinge des Alltags schätzen zu können. Wofür also werde ich beglückwünscht? Soll ich dankbar sein, dass ich eine Tüte kaufen durfte, um meinen persönlichen Lebensstil auszudrücken? Ist es das, was Menschsein ausmacht?
Rätsel über Rätsel. Sie blieben ungelöst, während ich die Tüte, mir selbst für mein Umweltbewusstsein gratulierend, in dem dafür vorgesehenen Altpapiercontainer entsorgte.
»Ihr Gratis-Geschenk«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 14.08.2013 Nr. 34
Verkauft wird nahezu alles. Autos beispielsweise werden für viel Geld verkauft. Kaugummis werden für wenig Geld verkauft. Und Kunden werden für dumm verkauft – in jeder Preisklasse.
Nichts ist umsonst, das weiß der Volksmund, selbst der Tod kostet das Leben. Und weil im Kapitalismus eben alles seinen Preis hat, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass einem etwas geschenkt wird. Falls doch, ist es dermaßen unglaublich, dass die Kunden extra darauf hingewiesen werden müssen. Und zwar gleich doppelt. Denn sicher ist sicher. Sonst verstehen sie es nicht.
Deswegen gibt es das »Gratis-Geschenk«. Ein solches erhält, wer bei den Make-up-Botanikern von Yves Rocher ein Näpfchen mit Pflanzencreme oder sonst was bestellt. Man muss dafür also nichts bezahlen, denn es ist ein Geschenk. Und gratis obendrein. Also kostenlos. Falls man es noch nicht verstanden hat. Ein kostenloses »Gratis-Geschenk« gibt es auch beim Werkzeug-Versandhandel Westfalia oder bei den meisten Zeitungen, die mit einem »Gratis-Geschenk« Probeabos attraktiver machen wollen. Und vielerorts mehr. Eine Leserin aus Mainz bemerkte diese Sprachschluderei.
Bei »Gratis-Geschenken« handelt es sich meist um die Insolvenzmasse von 1-Euro-Shops und/oder ästhetischen Sondermüll: grellbunte Plastikschüsseln, eine Qual fürs Auge. Irgendwelchen gläsernen Deko-Krempel für die Fensterbank, der so hässlich ist, dass sogar Recyclinghöfe die Annahme verweigern. Armbanduhren, deren Zeiger bei der ersten Erschütterung abbrechen und deren Armband nach zwei Wochen einreißt.
Warum das Zeug verschenkt wird? Na, weil es sich nicht verkaufen lässt! Und zurücknehmen will es der Spender auch nicht. Steht immer im Kleingedruckten: Ihr »Gratis-Geschenk« dürfen Sie in jedem Fall behalten. Falls man es noch nicht verstanden hat.
»Jährlich DLG-prämiert«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 02.08.2012 Nr. 32
Heute finden sich auf Lebensmittelverpackungen mehr Auszeichnungen als seinerzeit an der Uniform von Oberst Gaddafi. Gütezeichen, Prüfsiegel, Qualitätsorden – alle bunt und irgendwie offiziell. Manche dieser Zeichen basieren auf einer strengen Kontrolle, manche belegen bloß das kreative Potenzial der Verpackungsdesigner. Einige sind ehrlich, andere irreführend, viele nichtssagend.
Dann gibt es noch die seltsamen. In diese Kategorie fällt eine Medaille, die in Gold, Silber oder Bronze zahlreiche Produkte adelt, von Milch bis hin zu Gummibärchen: »Jährlich DLG-prämiert«.
Davor sollte man kurz innehalten. Wenn man diese Auszeichnung jährlich bekommt – also jedes Jahr aufs Neue –, was mag sie dann wert sein? Wie streng sind wohl die Kriterien, wenn das schon klar ist? Man kann die Formulierung auch so verstehen, dass ein Produkt die Medaille im nächsten und im übernächstem Jahr wieder erhalten wird. Aber wenn das schon feststeht: Was soll dann der Quatsch?
Man muss dazu wissen, dass die DLG, die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft, ihrer Selbstdarstellung zufolge »eine der vier Spitzenorganisationen der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft« ist. Unklar ist, wozu die Branche gleich vier Spitzenverbände benötigt. Die DLG jedenfalls vergibt unter anderem jene Medaillen. Eine Beurteilung der Ware »in lebensmittelrechtlicher Hinsicht« sei mit der Prüfung aber »nicht verbunden«, teilt die DLG mit. Man teste vor allem »sensorisch« (»Farbe, Aussehen, Konsistenz, Geruch und Geschmack«).
Mit dem Etikett »jährlich prämiert« dürfe sich jeder schmücken, der die Prüfung in »mindestens zwei aufeinanderfolgenden Jahren« bestanden hat. Viel ist das ja nicht für eine Medaille mit der Aura der Ewigkeit. Bronze, Silber und Gold sollen Kunden wohl eher an die Olympischen Spiele erinnern. Bei denen wahre Bestleistungen prämiert werden.
»Natürlich«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 04.10.2012 Nr. 41
Nichts ist natürlicher als die Natur. Das ist schon aus phonetischer Sicht ganz selbstverständlich, und deswegen herrscht darüber ein gesellschaftlicher Konsens. Ebenso akzeptiert ist die Gleichsetzung von natürlich und gut – was schon sehr viel seltsamer ist.
Man kann das immer dann beobachten, sobald die Frage aufkommt, ob Nahrung aus biologischem Anbau gesünder ist als solche aus konventionellem. Dann geht es rund. Als gesichert kann immerhin gelten, dass Biokost besser ist für die Umwelt, und das ist definitiv eine gute Sache. Inwieweit ein monokulturelles Maisfeld überhaupt natürlich sein kann (ob Bio oder nicht), soll jeder für sich selbst entscheiden. Die romantische Verklärung des Natürlichen führt jedoch dazu, dass jeder Lebensmittelhersteller bloß das Wort »Natürlich« auf die Packung drucken muss, damit wir glauben, es handele sich um ein gutes Produkt.
Was ja nicht so sein muss. Baumrinde ist natürlich. Schimmel. Maden. Selbst ein Hundehaufen. Alles pure Natur. Abgesehen davon, ist die Natur gar nicht gut, sondern brutal und echt gemein zu Schwächeren. Lassen Sie sich mal im Amazonasdschungel oder im australischen Outback aussetzen statt im Supermarkt, dann lernen Sie jede Menge fieser Viecher kennen und werden schon sehen.
Übrigens ändern Supermarktkunden ihre positive Einstellung zur Natürlichkeit radikal, sobald sie eine Drogerie betreten. Dann kaufen sie große Mengen chemischer Wunderwaffen, um das zu bekämpfen, was natürlich ist: Falten im Gesicht, Grau im Haar, den eigenen Körpergeruch. Da ist Chemie plötzlich ganz toll, Natur hingegen total doof. Auch das ist sehr seltsam.
»Ohne Chemie«
VON MARCUS ROHWETTER
DIE ZEIT, 06.12.2012 Nr. 50
Zum Standardrepertoire der Lebensmittelindustrie gehört der Hinweis, Produkte seien »ohne Chemie« hergestellt. Das klingt bei flüchtigem Drüberlesen sogar angenehm. Wer genauer drüber nachdenkt, bemerkt allerdings, dass es sich um eine klassische Null-Aussage handelt. Man darf sich darunter vorstellen, was immer man will.
Ich denke beim Wort Chemie auch schnell an Pinselreiniger, Unkrautvertilger oder Autolacke. Die Botschaft, etwas sei »ohne Chemie«, ist dennoch ein wunderbares Beispiel dafür, wie leicht sich Verbraucher intellektuell sedieren lassen. Gut, ich habe im Chemieunterricht in der Schule vielleicht nicht ganz aufgepasst, deshalb bleibt mir jetzt nur noch der Besuch bei Wikipedia. Dort wird Chemie definiert als »eine Naturwissenschaft, die sich mit dem Aufbau, den Eigenschaften und der Umwandlung von Stoffen beschäftigt«.
Bedeutet: Chemie ist überall. Ohne Chemie gäbe es kein Bier, keinen Käse, keinen Salat und keine Weinbergschnecken. Salz ist Chemie (NaCl nämlich, aber das klingt schon wieder gefährlich), und sogar H₂O, also Wasser, ist eine chemische Verbindung aus Wasserstoff und Sauerstoff.
Apropos: Wussten Sie, dass praktisch jedes Lebensmittel und somit auch Babynahrung Dihydrogenmonoxid enthält, das – in reiner Form eingeatmet – oft tödlich wirkt? Ein Klassiker der Naturwissenschaft, googeln Sie mal. Aber egal: »Ohne Chemie« gäbe es nichts. Auch keine chemiefreien Lebensmittel. Wer es dennoch anders sieht, verhält sich wie ein verängstigtes Kind. Das schließt ja auch die Augen, um die Welt verschwinden zu lassen.
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