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Für Klara bedeutet die Galerie ebenfalls Bewegung und Veränderung, aber nur im Außen. Fremde Städte und Länder zu bereisen, die Künstler in ihren Ateliers zu besuchen und neue Bilder für eine Ausstellung zusammenzustellen, das ist ihre Welt. Im Außen zusammenzutragen, was im Inneren zur Entfaltung kommt, dafür ist Klara zuständig und da sie ein gutes Händchen für das Entdecken von neuen Künstlern hat, eröffnete sie vor zwei Jahren eine zweite Galerie in München, die ebenfalls mit großem Erfolg läuft. Sie haben sich mittlerweile in den Kunstkreisen einen guten Namen gemacht, der weit über die Landesgrenze hinaus bekannt ist. Zurzeit zählen sie Japaner, Russen und vor allem Schweizer zu ihren Hauptkunden. Während sich Klara fertig anzieht, sind ihre Gedanken bereits in der Galerie und bei Margo. Ein warmes Gefühl breitet sich in ihr aus. Vertrauen, Verlässlichkeit, sich angenommen fühlen, das alles findet sie bei Margo. Sie ist wie ein Hauptgewinn im Lotto für mich, denkt sie. Immer kann ich mich auf sie verlassen. Wenn sie sich nur nicht ständig so viele Sorgen um mich machen würde! Sie scheint Tentakeln zu besitzen, mit denen sie genau spürt, wie es mir gerade geht. Klara muss bei ihrem Vergleich lachen. Bin ich wirklich so dünn und blass, wie sie immer meint? Zur Sicherheit betrachtet sie sich noch kurz im Flurspiegel. Sie hat schon Recht, ich habe ziemlich an Gewicht verloren. Im Gegensatz zu ihr sehe ich aus wie eine Bohnenstange. Was ich an Kilos zu wenig habe, hat Margo stets zu viel. Ständig findet sie in irgendwelchen Frauenmagazinen neue Diätvorschläge, durch die sie, scheinbar jedes Mal mit hundertprozentiger Sicherheit, ihre Traumfigur erreichen kann. Dabei ist sie so eine hübsche Frau mit ihren strahlenden, blauen Augen und ihrem blonden Lockenkopf. Die Rundungen gehören einfach zu ihr, betonen das Mütterliche und Gemütliche, findet Klara. Sie schüttelt den Kopf und wendet sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Die dunklen Schatten, die sich unter meinen Augen angesiedelt haben, wird sie sicher wieder als erstes bemerken! Ich sollte ein wenig braunen Gesichtspuder und einen Tupfer Rouge auflegen. Mit einem dunklen Lidstrich und schwarzer Wimperntusche untermalt sie ihre grünen Augen, die durch das dunkle Brillengestell in ihrer Ausdrucksfähigkeit betont werden. Sie betrachtet sich noch einmal im Spiegel. Ja, jetzt sehe ich ganz gut aus, findet sie und bindet ihre langen, roten Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. Auf jeden Fall kann ich mich jetzt sehen lassen und meine fast achtundvierzig Jahre bleiben, zurzeit wenigstens noch, mein Geheimnis.
Sie wirft ihrem Spiegelbild noch ein schiefes Lächeln zu, begibt sich auf die Suche nach ihrem Autoschlüssel, der zum Glück sehr schnell in ihrer geräumigen, schwarzen Ledertasche auftaucht, und verlässt das Haus.
Sie fährt zuerst in die Galerie, die sich in der Innenstadt befindet. Da sie zwei Parkplätze direkt vor dem Haus besitzen und ihre Öffnungszeiten sich nicht mit dem Berufsverkehr überschneiden, der sich jeden Tag wie eine träge, vollgefressene Schlange seinen Weg in die Innenstadt bahnt, erreicht sie bereits nach kurzer Zeit ohne Stress und Parkplatzsuche ihr Geschäft.
Momentan stellen sie sehr interessante, zeitkritische Schwarz-Weiß-Fotografien eines Londoner Fotografen aus. Klara hatte seine Bilder in einem unscheinbaren Londoner Café entdeckt und ihm eine Ausstellung in ihrer Galerie angeboten. Der Fotograf konnte sein Glück kaum fassen. Klara hatte mit ihrer Entdeckung Recht behalten. Die Vernissage war sehr gut besucht gewesen, einige Bilder sind bereits verkauft.
»Guten Morgen Margo«, ruft Klara in den Ausstellungsraum.
Diese streckt den Kopf aus dem Büroraum, den Telefonhörer am Ohr und winkt ihr zu. Wie sich Klara schon gedacht hat, steht ein komplettes Frühstück auf ihrem Schreibtisch.
»Danke«, flüstert sie ihr zu und versucht ihrem kritischen Blick auszuweichen. Sie lacht und gibt sich betont locker und fröhlich, obwohl das nicht ganz der Realität entspricht. Sie fühlt sich müde und ausgelaugt. Die schlaflosen Nächte, in denen sie ihren kreisenden Gedanken und den sich stets wiederholenden Träumen ausgesetzt ist, rauben ihr immer mehr Kraft und Energie. Mit wenig Appetit fängt sie an, das Müesli zu essen. Seit ihrer Kindheit erlebt sie die nächtlichen Begegnungen mit dem kleinen Mädchen. Mit dem Beginn der Pubertät wurden sie seltener. Komisch, dass sie in letzter Zeit wieder vermehrt auftauchen. Eigentlich seit Mutters Tod! Jedes Mal dieselbe Situation. Ich möchte zu dem Kind gelangen und schaffe es nicht. Warum nicht? Was bedeutet das und wer ist das Kind? Seit Jahren stellt sich Klara immer wieder diese Fragen. Und nun kommt auch noch der schwarze Vogel mit der Feder dazu. Unbewusst streicht sich Klara über die Wange.
Margo beendet ihr Telefongespräch und holt Klara aus ihrer Grübelei.
»Ein neuer Interessent für die Fotografien. Er kommt morgen vorbei. Na, und du Schätzchen, wie geht es Dir?« Sie sieht Klara forschend an. »Du siehst müde aus, wieder dieser Traum?«
Klara nickt und versucht das Thema auf etwas Anderes zu lenken, aber Margo lässt sich nicht so einfach ablenken.
»Ich finde, du müsstest dringend Urlaub machen, dir eine Auszeit gönnen. Fahr doch irgendwo hin, wo du eine Weile für dich sein kannst. Du hast die Trauer um deine Mutter und den Schock noch gar nicht richtig verarbeiten können. Wann war denn dein letzter Urlaub?«
Klara muss nachdenken. Auf die Schnelle fällt es ihr nicht ein. Nach dem Unfall ihrer Mutter hatte sie sich eine Woche frei genommen, um die Beerdigung zu organisieren und alles andere zu erledigen. Danach hatte sie sich sofort wieder in die Arbeit gestürzt.
»Ich brauche keinen Urlaub! Mir macht meine Arbeit Spaß. Wie du weißt, bin ich ein kleiner Workaholic.« Sie grinst sie beschwichtigend an, aber Margo lässt sich nicht erweichen.
»Eben und das tut dir nicht gut. Du solltest auch mal wieder etwas für dein Privatleben tun. Du bist in deiner freien Zeit viel zu viel allein. Das tut dir auf die Dauer nicht gut. Glücklich und ausgeglichen wirkst du auf mich jedenfalls nicht! Ich kann mir übrigens gut vorstellen, dass dir die Träume etwas mitteilen möchten.« Margo seufzt. Sie weiß genau, dass ihre Ermahnungen bei Klara nichts fruchten. Sie ist sehr gut im Verdrängen, denkt sie. Ungutes, Belastendes oder wie jetzt die Trauer um die Mutter schiebt sie beiseite, möchte sich damit nicht auseinandersetzen. Schade, dass sie sich von mir nicht helfen lassen möchte. Ich bin gespannt, wie lange das gutgeht!
»Komm Margo, lass uns von etwas Erfreulicherem reden. Später besuche ich den jungen Maler, der sich vor einer Woche bei uns vorgestellt hat und uns seine Mappe dagelassen hat. Ich bin gespannt auf seine Bilder. Seine Landschaftsbilder sind eher konservativ, aber er arbeitet viel mit Licht und das gefällt mir. Ich habe ein gutes Gefühl. Wir treffen uns direkt in seinem Atelier.«
Sie schaut auf die Uhr.
»Ich muss auch gleich los. Gibt es bei dir noch was Wichtiges?«
»Nein«, meint Margo.
»Heute Mittag kommen einige japanische Geschäftsleute vorbei. Sie haben sich gestern telefonisch angemeldet und wünschen eine separate Führung durch die Galerie. Ich werde den Laden schließen, so dass ich mich ganz ihnen widmen kann. Es könnte lukrativ werden. Mehr steht für heute nicht auf dem Programm.«
»Kann ich Sunny wieder bei dir lassen? Ich hole sie dann bei dir daheim ab. Ich denke nicht, dass es bei mir sehr spät werden wird. Ich habe Fressen für sie dabei.«
Klara reicht Margo das Tütchen.
»Mache ich gerne, ich gehe mit ihr heute Mittag in den Park. Wir machen es uns schön, nicht wahr Sunny?« Margo streichelt den Hund, der freudig an ihr hochspringt.
»Gut, dann starte ich. Vielen Dank fürs Frühstück.«
»Du hast ja kaum etwas gegessen! Kein Wunder, dass du so dünn bist!« Margo schüttelt den Kopf.
Doch bevor sie weiter insistieren kann, nimmt Klara sie kurz in den Arm und drückt sie fest. Was täte ich nur ohne sie und ihre Fürsorge! Mein Leben wäre um so vieles ärmer. Noch ärmer? Meine Güte, was habe ich heute nur für Gedanken! Das Treffen mit dem Maler wird mir sicher guttun und mich ablenken. Klara schnappt ihre Tasche und ihren Autoschlüssel, streichelt Sunny kurz über den Kopf, winkt Margo noch einmal zu und macht sich auf den Weg.
Wenn der Verkehr nicht zu dicht ist, könnte sie bereits in zwei Stunden in Konstanz sein. Sie hat Glück und schafft es ohne Stau auf die Autobahn in Richtung Singen. Das Radio läuft, der SWR3 Sender dudelt halblaut vor sich hin. Sie muss noch einmal an ihr Gespräch mit Margo denken. Margo hat gut reden. Sie hat ihre Tochter und ihren Enkel, bei denen sie oft zu Besuch ist. Sie ist ein ausgeprägter Familienmensch, dauernd kümmert sie sich um irgendeine Tante oder eine Kusine. Ihre Mutter, mit der sie sich sehr gut versteht, wohnt in ihrer Nähe und sie kann auf eine glückliche Ehe zurückschauen. Das habe ich alles nicht und ich brauche es auch nicht! Ich bin gerne für mich allein, außerdem habe ich Sunny. Das genügt mir. Sie stellt das Radio lauter. Gerade wird ihr Lieblingssong gespielt. Sie singt laut mit. Es geht mir doch gut, denkt sie. Für was brauche ich eine Auszeit oder eine Beziehung? Ihre letzte Partnerschaft ist vier Jahre her. Es war für sie eine mittelmäßige Liebe gewesen, für Markus allerdings nicht. Er vergötterte sie regelrecht, trug sie auf Händen und war immer bestrebt, ihre Wünsche zu erfüllen. Für Klara war es eine anstrengende, einengende Zeit. Und als Markus ihr einen Heiratsantrag machte, war für sie der Zeitpunkt der Trennung gekommen. Ich bin jetzt unabhängig, habe meine Freiheit, muss auf niemanden Rücksicht nehmen und führe zwei gutgehende Galerien, was will ich denn noch mehr? Wieder einen Mann an meiner Seite, der meine gesamte Aufmerksamkeit und Liebe fordert? Das kann ich nicht geben. Und warum soll ich mich ewig mit einer Trauer auseinandersetzen, die ich eigentlich gar nicht empfinde? Sie erschrickt über diesen Gedanken, möchte ihn wegschicken, ihn nicht gedacht haben, doch das ist nicht so einfach, denn er schwebt jetzt im Raum.
Ihr Verhältnis zu ihrer Mutter war nicht schlecht, aber auch nicht gut gewesen. Sie waren sich immer fremd geblieben. Nie konnte Klara ihrer Mutter etwas recht machen. Alles, was sie tat, reichte nicht aus, um ihre Mutter für sich zu gewinnen. Es war immer, als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen. Als Kind hatte sie sehr darunter gelitten, vor allem, wenn sie miterlebte, wie Andreas ihr vorgezogen wurde und das war ständig der Fall. Andreas hier, Andreas da.
Klara spürt wieder den Druck in ihrer Brust. Schnell dreht sie das Radio lauter. Die Nachrichten werden gerade durchgegeben: Ein neuer Terroranschlag in Afghanistan. Anscheinend ist auch ein Auslandsreporter dabei verletzt worden. Klara atmet tief ein und hält kurz die Luft an. Oh, lieber Gott, lass es nicht Andreas sein!
Als ihm seine Nachrichtenagentur den Auftrag erteilte, über die Mission der Blauhelme in Kundus Bericht zu erstatten, hatte er sofort zugesagt. Vor drei Wochen hatte er sie in der Galerie angerufen und ihr voller Begeisterung von seinem neuen Arbeitseinsatz berichtet.
Schnell dreht sie das Radio leiser. Ihr Herz schlägt schnell und ihre Handflächen fühlen sich feucht und klebrig an. Sie lässt das Fenster einen Spalt hinunter. Die frische Luft, die ihr seitlich ins Gesicht weht, tut gut. Sie atmet ein paarmal tief ein und aus. Ganz ruhig, Klara, alles ist gut, gleich bist du bei dem Maler. Seine Bilder sind vielversprechend. Sie versucht, sich selbst zu beruhigen. Langsam lässt der Druck nach und die Angst verwandelt sich in ein diffuses Gefühl, das tief in ihrem Inneren zurückbleibt.
Auf der rechten Seite taucht nun der Hohentwiel auf, ein kleiner Vulkan, der sich mit seiner Höhe über den Hegau mit seinen sanften Hügeln erhebt. Das Friedvolle dieser Landschaft erreicht ihre Seele und sie entspannt sich nach und nach. Ein paar Minuten später sieht sie in der Ferne den Bodensee im Sonnenlicht dieses Frühlingstages glitzern. Im Hintergrund erhebt sich der noch schneebedeckte Säntis. Nun dauert es nicht mehr lange und sie ist in Konstanz. Sie stellt ihr Navy ein und erreicht schnell und ohne große Umwege ihr Ziel.
Das Haus des Malers steht am Waldrand in einer kleinen Wohnsiedlung. Wunderbar, denkt sie, dann muss ich nicht an den See. Sie hält sich nicht gerne am Wasser auf. Schon als Kind hatte sie sich am Meer oder an einem großen See unwohl gefühlt. Warum weiß sie nicht. Es gibt keine ungute Situation, an die sie sich erinnern kann. Aber auch ihre Mutter wollte die Ferien nicht am Meer verbringen. Sie zog immer die Berge vor. Klara parkt ihr Auto vor dem Haus und steigt aus.
Als sie klingelt, erscheint ein mittelgroßer, schlanker, noch recht junger Mann an der Tür. Bevor es ihm gelingt, sie zu begrüßen, stürzt ein kleiner, laut bellender, strubbeliger Hund mit wild wedelndem Schwanz an ihm vorbei auf sie zu. Micky, so wird er vorgestellt, springt begeistert an ihr hoch.
»Lassen sie ihn nur, er riecht bestimmt meinen Hund«, beschwichtig Klara den Besitzer, der erfolglos versucht, den Hund zu sich zu rufen. Sie beugt sich hinunter und streichelt ihn, wobei es ihm immer wieder gelingt, mit seiner feuchten Schnauze ihr Gesicht zu berühren. Schließlich legt sich die Freude des Hundes und die verzögerte Begrüßung findet statt.
Der Hausherr lacht und bittet sie herein. Er führt sie zuerst in das Wohnzimmer, wo sie freundlich von seiner Frau begrüßt wird. Sie hat liebevoll den Kaffeetisch gedeckt. Auf einem Tischtuch mit zart gestickten, gelben Rosen stehen Teller und Tassen aus dünnem, weißem Porzellan. Hellgelbe Servietten liegen, kunstvoll gefaltet, neben goldenen Kuchengabeln. Beleuchtet wird das Gesamtkunstwerk von zwei gelben Kerzen, die in blankpolierten, goldenen Kerzenhaltern leicht flackernd ihr Licht über den Tisch verbreiten. In der Mitte der Tafel steht auf einer goldenen Kuchenplatte ein selbstgebackener Apfelkuchen mit Schlagsahne. Klara muss bei diesem Anblick an ein Stillleben aus alter Zeit denken, was das wuchtige, blaue Sofa und die großen, rotgold gestreiften Sessel verstärken. Sie nimmt auf dem Sofa Platz, was gleichbedeutend mit einem Hineinsinken einhergeht, denn die Sprungfedern und die Spannkraft der Sitzfläche verraten das betagte Alter des Möbelstückes. Beinahe zeitgleich platziert sich auch Micky neben ihr und äugt äußerst interessiert auf den Kaffeetisch. Der Hausherr lächelt verlegen. Ihm scheint das Verhalten seines Hundes peinlich zu sein. Seine Frau reagiert durchgreifender. Mit leicht erhobener Stimme dirigiert sie den Hund in sein Körbchen. »Sofort jetzt!« Klara muss lachen. Diese Szene kommt ihr bekannt vor. Wahrscheinlich reagieren fast alle Hunde gleich, wenn es um Kuchen geht. Sie nimmt einen großen Schluck Kaffee. Langsam kehren ihre Lebensgeister zurück und die Anspannung lässt merklich nach. Der Kuchen schmeckt sehr gut, das Gespräch über Malerei plätschert leicht vor sich hin und Klara fühlt sich von Minute zu Minute wohler. »Der Kuchen schmeckt sehr gut«, lobt sie ihre Gastgeberin.
»Das freut mich. Darf ich ihnen noch ein Stück geben?« Klara kann nicht widerstehen.
Nach einer halben Stunde führt sie der Maler in sein Atelier. Es ist ein großer Raum unter dem Dach, der auf seiner Breitseite von einer durchgehenden Fensterfront erhellt wird. Zwei Staffeleien stehen im Raum. Auf der einen lehnt ein angefangenes Landschaftsbild und auf der anderen sind zwei kleine Mädchen zu sehen, die am Strand nach Muscheln suchen. Sie haben die gleiche Größe und tragen dieselben roten Kleidchen, die sich im Wind um ihre nackten, pummeligen Beinchen bauschen. Beide tragen kleine, rote Eimer in den Händen, ihre Köpfe sind geneigt und ihre roten Locken sind leicht zerzaust. Der Maler hat diese Szene so gekonnt herausgearbeitet, hat mit lichtvollen Farben eine solche Lebendigkeit geschaffen, dass Klara das Gefühl hat, sie selbst stehe mit den Kindern am Strand. Fast meint sie, das sanfte Plätschern der kleinen, auslaufenden Wellen zu hören und den würzigen Duft des Seetangs zu riechen.
Klara weicht vor dem Bild zurück, als wäre sie geschlagen worden. Ein kurzer, tiefer Schmerz durchfährt sie. Sie kann es sich nicht erklären.
»Frau Winter, geht es ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz weiß im Gesicht. Möchten sie sich für einen Moment dort auf das Sofa setzen?« Der Maler berührt sie sanft am Ellenbogen.
Klara schüttelt den Kopf.
»Es ist alles in Ordnung. Mir war nur kurz schwindelig. Wahrscheinlich die lange Autofahrt. Nun würde ich mir gerne ihre Bilder ansehen.« Schnell wendet sie der Staffelei den Rücken zu.
An den Wänden lehnen seine fertigen Werke. Einige hat er schon vorsortiert. Es handelt sich um typische Bodenseebilder: Der See mit seinen verschiedenen Gesichtern und Stimmungen, gerahmte Aquarelle von der letzten Segelregatta und Landschaftsbilder in Acryl vom Hegau mit seinen lieblichen Hügeln. Auf großformatigen Leinwänden hat er sehr gekonnt Stimmungen und Dynamiken eingefangen.
Klara hat inzwischen ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Ihr gefallen die Leichtigkeit der Farben und die Lichtspiele, die in seinen Bildern zu finden sind.
»Ich kann mir gut vorstellen, ihre Bilder in meiner Galerie in einer Einzelausstellung zu zeigen. Vor allem unsere ausländischen Besucher werden begeistert sein. Ich freue mich auf eine Zusammenarbeit mit ihnen. Das wird eine eindrucksvolle Ausstellung.«
Der Maler strahlt sie an.
»Ich freue mich auch darauf. Brauchen sie noch mehr Bilder oder sind es genug?«
Klara überlegt.
»Wenn sie noch sechs zusätzliche Bilder liefern könnten, dann würde ich eine Doppelausstellung ausrichten, zur selben Zeit in beiden Galerien. Ich könnte mir vorstellen, dass es meinen Kunden gut gefallen würde. Es wäre mal etwas Neues. Schaffen sie es noch bis zum Herbst, neue Bilder zu malen? Herbstliche Motive vom Bodensee würde ich vorschlagen.«
»Ja, das würde gehen, aber eher mittlere Formate.«
Sie vereinbaren, dass er sich mit Margo in Verbindung setzt, um weitere Schritte und Termine mit ihr festzulegen. Ohne sich noch einmal das Bild auf der Staffelei anzusehen, verlässt Klara vor dem Maler das Atelier.
»Möchten sie noch zum Abendessen bleiben? Meine Frau richtet uns gerne eine Kleinigkeit zum Essen.«
»Nein danke, das ist ganz lieb, aber ich fahre nicht gerne bei Dunkelheit auf der Autobahn. Ich mache mich lieber jetzt schon auf den Weg.« Klara nimmt ihren Mantel, der auf einem Stuhl liegt und zieht ihn an. Versunken sucht sie in ihrer Handtasche nach ihrem Autoschlüssel. Das Gemälde mit den Kindern geht ihr nicht aus dem Sinn. Was ist nur los mit mir? Warum berührt mich ausgerechnet dieses Bild so tief? Vielleicht sollte ich es kaufen. Im Geist sieht sie es in ihrem Wohnzimmer über der kleinen, weißen Anrichte hängen. Nein, lieber nicht, denkt sie. Das leise Räuspern des Malers unterbricht ihren Gedankengang.
Sie besinnt sich kurz, dann zieht sie den Autoschlüssel aus der Tasche und verabschiedet sich von dem Künstler und seiner Frau, die ihr noch fürsorglich ein kleines Kuchenpaket in die Hände drückt. Klara fährt langsam um die Kurve, um dann auf die Hauptstraße zu gelangen. Doch sie ist abgelenkt. Beinahe übersieht sie die rote Ampel. Ihre Gedanken sind immer noch bei dem Bild. Tief in ihrem Inneren spürt sie eine tiefe Sehnsucht, wenn sie an die beiden kleinen Mädchen denkt. Sie kann nicht ohne das Bild heimfahren! Sie muss es haben, das wird ihr plötzlich klar. Hoffentlich ist es überhaupt verkäuflich! Schnell wendet sie ihr Auto und fährt zurück. Fast im Eilschritt legt sie die kurze Distanz von ihrem Auto zum Haus zurück. Ein bisschen zu stürmisch drückt sie auf die Klingel. Der Maler öffnet die Tür.
»Frau Winter, haben sie was vergessen?« Erstaunt schaut er sie an.
»Nein, aber ich möchte das Gemälde kaufen, wo die beiden Kinder drauf sind. Bitte sagen sie, dass es zu haben ist!« Aus Klara sprudelt es nur so heraus. Sie habe sich regelrecht in das Bild verliebt. Es würde so gut über ihre weiße Anrichte im Wohnzimmer passen.
Der Maler kann sich ein Schmunzeln fast nicht verkneifen, als sie so übereifrig, mit geröteten Backen und bittenden Augen vor ihm steht.
»Es ist zu verkaufen. Doch jetzt kommen sie erst einmal herein.«
Sie gehen die Treppe zum Atelier hinauf. Auf dem abgewetzten, alten Sofa, das vor der Staffelei steht, nehmen sie Platz.
»Mit diesem Bild hat es etwas Eigenartiges auf sich«, erzählt der Maler. »Vor sieben Jahren kam ein älterer Mann zu mir. Er hatte eine kleine, vergilbte und zerknitterte Fotografie dabei, worauf er mit den kleinen Mädchen abgebildet war. Die Kinder suchten am Strand nach Muscheln, eben wie auf dem Gemälde. Er fragte mich, ob es möglich sei, dieses Motiv, allerdings nur die beiden Mädchen, auf eine Leinwand zu übertragen. Das sei für mich kein Problem, erwiderte ich und so gab er es mir in Auftrag. Wir verabredeten, dass er das Bild nach einem Vierteljahr abholen würde. Aber er kam nicht. In der ganzen Aufregung, denn es würde meine erste Auftragsarbeit werden, hatte ich ganz vergessen, mir seine Adresse aufzuschreiben. Seit sieben Jahren steht es nun auf der Staffelei und wartet auf seinen Besitzer. Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, dass ich es verkaufen kann. Ich habe lange genug gewartet. Es scheint auch, als habe das Bild nun seine wahre Besitzerin gefunden.« Der Maler lacht sie an. »Das Foto habe ich leider nicht mehr dazu, das ist irgendwie verloren gegangen.
»Das brauche ich nicht, das Gemälde wirkt so echt und lebendig, es ist einfach wunderschön.«
Klara und der Maler stehen auf. Gemeinsam verpacken sie die Leinwand in Karton und mehreren Lagen Plastikfolie, so dass sie im Auto keine Druckstellen bekommt. Der Preis ist schnell verhandelt, das Bild gut im Auto verstaut und Klara macht sich in einer freudigen Stimmung auf den Heimweg.
Beschwingt legt sie die Autobahnstrecke zurück. Die langsam hereinbrechende Dunkelheit bemerkt sie kaum, immer wieder sieht sie die kleinen Mädchen vor sich, die voller Begeisterung nach Muscheln suchen. Das Bild scheint mit seiner Lebendigkeit und Helligkeit Besitz von ihr ergriffen zu haben, denn sie fühlt sich glücklich, wie schon lange nicht mehr. Kurz vor Herrenberg gerät sie in den obligaten Stau. Das hat mir gerade noch gefehlt! Ich möchte endlich heim, etwas essen und dann das Bild aufhängen, außerdem werden Sunny und Margo sicher schon auf mich warten. Ungeduldig drückt sie am Radio herum und sucht einen Sender. Im SWR3 läuft die übliche Popmusik. Klara ist mit ihren Gedanken wieder bei dem Bild. Die Kinder scheinen sich sehr nahe zu sein. Warum haben Andreas und ich diese Nähe nie aufbauen können? Wir verstehen uns gut, aber diese Vertrautheit haben wir nicht. Er bezieht mich in sein Leben nicht mit ein. Eigentlich weiß ich gar nicht, was er denkt oder was er sich so vom Leben wünscht. Jeder geht seinen eigenen Weg. Vielleicht lag es an Mutter, die immer irgendwie zwischen uns stand. Ich wurde von ihr oft zur Seite gedrängt, wenn es um Andreas ging.
Die Mädchen sehen aus, als seien sie Zwillinge, überlegt sie weiter. Klara erinnert sich an ihr Lieblingsbuch Hanni und Nanni. Es handelte von Zwillingsschwestern, die ihre Schulzeit im Internat verbrachten und viele Abenteuer erlebten und Mutproben zu bestehen hatten. Wie hatte sie die Romanheldinnen beneidet und sich nach einer Schwester gesehnt!
Die Musik wird unterbrochen. Die Nachrichten werden durchgegeben. Mittlerweile weiß man, dass bei dem Anschlag in Afghanistan zwei Bundeswehrsoldaten getötet und zwei Auslandskorrespondenten schwer verletzt worden sind. Klara erstarrt. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Hoffentlich nicht Andreas! Die Freude weicht dem üblichen Druck in der Brust. Sie spürt, wie sich kalter Schweiß auf ihrer Stirn ausbreitet. Mühsam versucht sie, die aufkommende Angst zu verdrängen. Sie lässt das Fenster herunter und atmet gierig die kühle Luft ein. Die Anspannung lässt ein wenig nach. Endlich setzt sich die Autoschlange wieder in Bewegung und löst sich langsam auf.
Sie seufzt erleichtert auf, als sie in die Straße einbiegt, in der Margos Haus steht. Zum Glück ist vor dem Haus ein freier Parkplatz. Schnell steigt sie aus und eilt durch den Garten. Sunny scheint sie schon gehört zu haben, denn ihr freudiges Gebell dringt nach draußen. Bevor Klara klingeln kann, öffnet Margo schon die Tür.
»Klara schön, dass du da bist. Du wirst schon sehnsüchtig erwartet.«





