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Doch das hätte sie nicht extra betonen müssen, denn Sunny drängelt sich bereits an ihr vorbei und springt voller Begeisterung an Klara hoch. Diese beugt sich kurz zu dem Hund nieder, um ihm, jedoch ohne allzu große Freude, über den Kopf zu streicheln. Irritiert blickt Sunny zu Klara. Auch Margo schaut sie erstaunt an. Was ist los mit ihr?
»Möchtest du zum Abendbrot bleiben?«
Klara schüttelt den Kopf.
»Ich bin müde und möchte heim. Gibst du mir bitte die Hundeleine.«
Margo geht ins Haus und kehrt mit der Leine zurück.
»Danke fürs Hüten. Bis morgen. Komm Sunny.«
Margo begleitet beide bis zum Gartentor und schaut dem Auto nach, bis es außer Sichtweite ist. Klara hat ihr gar nicht gefallen. Ihr war der unstete Blick aufgefallen, mit dem Klara sie angesehen hatte. Margo macht sich Sorgen um sie. Sie hatte so abwesend und verkrampft gewirkt. Hoffentlich ist es wirklich nur die Müdigkeit, denkt sie. Seufzend geht sie zurück ins Haus. Sie kann ihr nicht helfen!
Klara ist froh, Margos fragenden Blicken endlich nicht mehr ausgeliefert zu sein. Sie spürt, wie ein dumpfer Schmerz sich seinen Weg vom Hinterkopf zu ihrer Stirn und zu ihren Schläfen bahnt. Wahrscheinlich bekomme ich eine Migräne. Sie war noch nie so froh, in ihre Straße einzubiegen, wie jetzt gerade. Als sie kurz darauf ihr Auto in der Tiefgarage abstellt, fällt ihr ein, dass sie vergessen hat, frische Lebensmittel einzukaufen, doch sie hat jetzt keine Lust mehr, in den Supermarkt zu gehen. Ich werde mir eine Pizza bestellen, dazu ein Glas Rotwein trinken und bald ins Bett gehen, nimmt sie sich vor. Erschöpft fährt sie mit dem Aufzug in den sechsten Stock. Sie ist froh, in die Geborgenheit ihrer Wohnung zu kommen. Sunny trottet ohne großen Elan hinter ihr her und zieht sich bereits nach kurzer Zeit in ihr Körbchen zurück.
Klara wird vom Klingeln der Türglocke und von Sunnys erwartungsvollem Bellen geweckt. Verwundert schaut sie auf die Uhr. Es ist gerade 8.30 Uhr. Wer kann das denn sein? Sie erwartet niemanden. Schnell zieht sie ihre Jeans an, streift einen Pulli über und geht zur Türe. Vielleicht ist es Andreas. Sie weiß, dass das nicht sein kann, aber es wäre so schön! Doch es ist Margo mit einem Korb in der Hand, aus dem eine Bäckertüte herausschaut.
»Guten Morgen, meine Liebe, ich wollte mal nach dir sehen und da dachte ich, so ein gemeinsames Sonntagsfrühstück ist eine gute Idee.«
»Margo, ich freu mich, aber ich komme gerade aus dem Bett, habe noch nicht geduscht und mit dem Hund war ich auch noch nicht draußen.« Klara, die immer noch mit ihrer Schlafträgheit kämpft, versucht sie loszuwerden. »Vielleicht ein anderes Mal.«
»Das stört mich gar nicht! Während du dich fertigmachst, gehe ich mit Sunny raus. Außerdem habe ich unser Frühstück mitgebracht. Du musst nur noch den Kaffee kochen.« Sie schwenkt fröhlich den mitgebrachten Korb, in dem außer den Brötchen auch noch Erdbeermarmelade, Honig und Butter sichtbar werden. Margo scheint heute keine Ausflüchte zu akzeptieren. »Komm Sunny, gehen wir. Bis in einer halben Stunde.« Später sitzen sie am gedeckten Tisch. Die frischen Brötchen duften in ihrem Korb und der Kaffee verbreitet sein kräftiges Aroma. Margos Blick fällt auf die Wand gegenüber.
»Hast du ein neues Bild?«
»Ja«, antwortet Klara, »wie findest du es?«
Margo betrachtet das Gemälde eingehender.
»Es ist sehr gut gemalt, aber ich würde es mir nicht unbedingt daheim aufhängen. Hast du es von dem Konstanzer Maler?«
Klara nickt und schaut liebevoll auf die Muschel suchenden Kinder.
»Immer, wenn ich es anschaue, fühle ich tief in mir eine schmerzhafte Sehnsucht, die ich mir nicht erklären kann. Komisch, aber es ist so.«
»Wie meinst du das?« Margo kann das Gesagte nicht ganz nachvollziehen.
»Die starke Verbundenheit der beiden Mädchen berührt mich. Sie strahlen eine Einheit aus, nach der ich mich immer gesehnt habe und die ich bis jetzt in meinem Leben nicht gefunden habe. Zu meiner Mutter nicht, denn sie ließ zu mir keine Nähe zu und Andreas lebt in seiner eigenen Welt, an der er mich nicht teilhaben lässt.« Klara kämpft mit den aufsteigenden Tränen.
»Momentan ist mir alles ein bisschen zu viel. Erst der Tod meiner Mutter, dann die Sorgen um Andreas.« Klara sitzt zusammengesunken auf ihrem Stuhl und starrt in ihre Kaffeetasse.
»Hast du von Andreas etwas Neues erfahren?« Margo nimmt ein Brötchen aus dem Korb und bestreicht es dick mit Butter und Honig.
»Ja, er hat mir eine kurze SMS geschickt. Er meint, dass er großes Glück gehabt habe. Es sei nur ein Streifschuss am Bein. Aber er müsse noch im Militärlazarett in Kundus bleiben und würde von dort aus heimfliegen. Er melde sich, sobald er wieder daheim ist.« Klara seufzt tief. »Die Wohnung von meiner Mutter müssen wir auch noch leeren, damit wir sie bald verkaufen können.«
Margo wundert sich über den Gedankensprung.
»Jetzt erhole dich erst einmal richtig. Das hat doch wirklich noch Zeit mit der Wohnung! Was hat denn eigentlich der Arzt gesagt?«
»Er meinte, das vor kurzem sei eine große Panikattacke gewesen.«
»Ja und von was kommt so etwas und dann so plötzlich?« »Der Arzt hat gesagt, dass solche Attacken immer ganz unvermittelt, eben wie bei mir, mitten in der Nacht oder auch am Tag auftreten können. Dass ich das Gefühl gehabt habe zu sterben, gehört wohl zu den Symptomen. Es ist ein Entgleisen von Seele und Körper und das kann einen totalen Kontrollverlust auslösen, wie bei mir. Es war furchtbar.« Klara schenkt sich mit zitternden Händen noch einmal eine Tasse Tee ein. »Er hat mich für die nächsten zwei Wochen krankgeschrieben. Er meint, dass mein vegetatives Nervensystem gerade sehr angegriffen sei.«
»Und von was kommt das?« Obwohl sich Margo in letzter Zeit oft Sorgen um sie gemacht hatte, ist sie doch schockiert über das Ausmaß. Dass es Klara so schlecht geht, hatte sie nicht gedacht. »Hast du denn Sorgen oder belastet dich etwas sehr stark?«
»Der Arzt meinte, dass der plötzliche Todesfall meiner Mutter, die Sorgen und die Angst um Andreas eine Belastungsstörung bei mir ausgelöst haben. Dass ausgerechnet mir so etwas passieren würde, hätte ich nie gedacht!«
»Wieso betonst du das so?«
»Was?«
»Na, ausgerechnet mir«, fragt Margo sie verwundert.
»Ich habe mich bisher eigentlich immer sehr gut im Griff gehabt und ich bin kein so emotionaler Mensch, der seinen Gefühlen extrem stark ausgesetzt ist. Ich kann mich sehr gut beherrschen.«
Vielleicht zu sehr, denkt Margo bei sich.
»Und was unternimmst du jetzt dagegen?«
»Ich habe Tropfen bekommen, die die Angst nehmen und die Stimmung anheben. Ich kann besser schlafen und habe momentan keine belastenden Träume mehr.«
Klara denkt mit Schrecken an den Abend zurück, als sie von Konstanz gekommen war. Müde hatte sie die bestellte Pizza gegessen, als letzte Aktion das neue Bild an die Wand gehängt und war danach bald ins Bett gegangen. Die Angst um Andreas hatte sie begleitet. Sunny lag dicht neben ihr auf der Decke. Ihr leichter Atem und ihre wärmende Gegenwart hatten ihr etwas von dem Druck auf der Brust genommen, so dass sie recht schnell eingeschlafen war. Doch mitten in der Nacht war sie aus dem Tiefschlaf aufgeschreckt. Ihr Herz raste, sie war schweißnass und bekam kaum noch Luft. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Dazu kam eine riesige Angst, die sie fest umklammerte. Da sie sich allein nicht mehr zu helfen wusste, hatte sie den Notarzt angerufen. Im Krankenhaus konnten sie jedoch keine organische Krankheit feststellen, deshalb hatten sie ihr eine Konsultation bei einem Neurologen oder Psychiater empfohlen.
Seitdem waren nun vier Tage vergangen.
»Mit den Tropfen fühle ich mich wie in einer leichten Schleierwelt, alles wirkt gedämpft und ruhig. Irgendwie angenehm, doch ich glaube, ich kann nächste Woche noch nicht arbeiten. Ich schaffe es einfach nicht, mit dem Auto zu fahren und auch der Kontakt mit anderen Menschen macht mir immer noch Angst.« Klara hält den Blick gesenkt und spielt mit dem Kaffeelöffel.
»Süße, das macht doch nichts. Du solltest auf den Arzt hören! Er hat dich nicht umsonst für zwei Wochen krankgeschrieben. Ich sage deine Termine ab, du erholst dich erst einmal und dann sehen wir weiter.«Nach allem, was sie gehört hat, bezweifelt sie allerdings, dass Klara bald wieder gesund genug ist, um zu arbeiten.
»Denk daran, du bist nicht allein. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Du musst dich einfach melden, aber ich schau sowieso morgen wieder bei dir vorbei.« Margo lächelt Klara an, die bleich und müde am Tisch sitzt. Sie macht sich ernsthaft Sorgen um sie.
»Ich bin froh, dass du da bist!«, sagt Klara leise. »Soll ich uns noch Wasser für einen Tee aufstellen?«
»Nein, ich trinke lieber einen Kaffee«, meint Margo und nimmt sich ein zweites Brötchen aus dem Korb und bestreicht es dieses Mal mit ihrer selbstgemachten Erdbeermarmelade. »Ich liebe so ein ausgedehntes Frühstück. Es hat etwas Gemütliches. Als Karl noch lebte, haben wir die Sonntage immer mit einem langen Frühstück begonnen. Manchmal sind wir um elf Uhr noch am Tisch gesessen, haben Kaffee getrunken und uns über alles Mögliche unterhalten oder wir haben uns Gedichte vorgelesen. Karl hat ja auch Reime geschrieben.« »Vermisst du Karl immer noch sehr?« Margo nickt. »Aber es ist keine Trauer mehr. Es ist eher ein schmerzhaftes Sehnen und eine schöne und kostbare Erinnerung. Ich bin dankbar, dass ich mit ihm so ausgefüllte und harmonische Jahre erleben durfte. Das ist ja nicht selbstverständlich.« Genüsslich trinkt Margo einen Schluck Kaffee.
»Wir haben es doch schön, wir beide, nicht wahr?«
Klara nickt, doch so ganz kann sie sich dem Frühstücksgenuss nicht hingeben. Da sie die Freundin jedoch nicht enttäuschen möchte, nimmt sie, zwar ohne großen Appetit, ein zweites Brötchen und bestreicht es mit Margos Marmelade. Dazu trinkt sie eine neu aufgebrühte Tasse grünen Tee.
Die Wochen, die nun folgen, bringen die Einsamkeit mit, denn Klaras Welt ist klein und eng geworden. Da ihre Arbeit in der Galerie vorwiegend aus Kontakten mit Künstlern und Kunden besteht, wäre sie damit restlos überfordert. Der Anrufbeantworter nimmt ihr die Anrufer ab, telefonieren kann sie zurzeit nicht. Auf Menschenansammlungen reagiert sie mit Herzklopfen, Schweißausbrüchen und Atemnot. Mittlerweile kommt die Angst vor der Angst dazu.
»Klara, du musst endlich etwas dagegen tun! So kann es nicht weitergehen!« Margo geht langsam die Geduld aus. Sie geht mit dem Hörer in der Hand aufgeregt hin und her. Klara hat sich soeben wieder für eine Woche krankgemeldet. Aber das ist für Margo nicht das Schlimmste. Sie wird mit der Arbeit in der Galerie gut fertig und die Mitarbeiterin in München erledigt ihre Aufgaben sehr zufriedenstellend. Nein, sie macht sich ernsthafte Sorgen um Klara.
»Ich komme nach Ladenschluss noch bei dir vorbei. Tschüss bis dann.« Margo hängt den Hörer auf, bevor ihr Klara die übliche Absage erteilen kann. Es muss etwas geschehen und zwar bald! Sie greift wieder zum Telefon und ruft Marianne an, ihre langjährige Freundin. Als Analytikerin und Psychotherapeutin arbeitet sie in ihrer eigenen Praxis. Sie schildert ihr kurz das Problem und bittet sie um Hilfe. Marianne ist bereit, Klara einen Termin zu geben, doch muss diese sich selbst darum bemühen und vor allem auch eine Therapie machen wollen.
Margo macht sich auf den Weg zu Klaras Wohnung. Sunny wedelt aufgeregt mit dem Schwanz. Nicht einmal mehr um ihren Hund kann sie sich kümmern! Seit zwei Wochen lebt Sunny nun schon bei ihr, da sich Klara nicht mehr traut, mit dem Hund Gassi zu gehen. Da muss sich etwas ändern und dafür werde ich jetzt sorgen!
»Bald hast du dein Frauchen wieder, das verspreche ich dir!« Margo spricht sich selbst und dem Hund Mut zu, denn sie kennt Klaras Dickkopf und ihre Einstellung zur Therapie. Seit acht Wochen ist Klara nun schon erkrankt. Therapievorschläge, Klinikaufenthalte, alles hat sie bis jetzt abgelehnt. Sie igelt sich daheim ein und geht nicht mehr unter die Leute. Jetzt lässt sie sich sogar schon die Lebensmittel vom Supermarkt ins Haus liefern, denkt Margo ärgerlich. Trotz der starken Medikamente geht es ihr augenscheinlich immer schlechter!
Margo klingelt. Es dauert eine ganze Weile, bis Klara verschlafen an die Tür kommt und öffnet. Margo blickt verstohlen auf ihre Uhr. Es ist fünfzehn Uhr, ein heller, sonniger Frühsommermittag.
»Hallo Klara, schau, wen ich dir da mitgebracht habe.« Nach Sunnys überschwänglicher Begrüßung sitzen sich die beiden Freundinnen bei einem Kaffee und Erdbeerkuchen, den Margo mitgebracht hat, in der Couchecke im Wohnzimmer gegenüber. Wie schmal sie geworden ist, denkt Margo. Von der hübschen, modisch gekleideten Klara ist nicht mehr viel übrig. Ihre glanzlosen Haare sind lieblos zu einem wirren Pferdeschwanz gebunden, ihr Gesicht ist bleich und die Augen blicken matt und trüb und sind von dunklen Ringen umschattet. Sie trägt eine ausgebeulte Trainingshose und ein schmuddeliges T-Shirt.
»Klara, erinnerst du dich noch an meine Freundin Marianne?« Klara überlegt.
»Ja. Sie saß bei der Beerdigung von Karl und dem anschließenden Essen neben mir. Ich fand sie sehr nett. Warum fragst du?«
Margo denkt kurz nach. Soll sie ihr sagen, dass sie mit ihr über sie gesprochen hat? Nein, auf keinen Fall! Sie muss es vorsichtig angehen. Sie möchte es jetzt nicht vermasseln.
»Marianne beschäftigt sich mit Angsterkrankungen und Panikattacken. Ihr besonderes Interesse gilt jedoch Träumen und Traumanalysen. Sie hat eine Praxis und arbeitet nach ihren ganz eigenen Methoden. Ich finde sie sehr kompetent.«
»Woher willst du das wissen?« Klara fragt leicht aggressiv. »Ich war nach Karls Tod bei ihr in Behandlung. Sie hat mir damals sehr helfen können.«
»Das wusste ich ja gar nicht«, murmelt Klara betroffen.
»Mit dir hätte ich darüber auch nicht sprechen können. Bei dir muss alles immer schön und positiv sein, die Schattenseiten des Lebens werden nicht angeschaut, am besten, so tun, als existierten sie gar nicht. Dass ich nach Karls plötzlichem Tod mit depressiven Zuständen und Angst zu kämpfen hatte, dass es mich in der ersten Zeit unendlich viel Kraft kostete, für mein Kind einen normalen Alltag zu gestalten, dass ich manchmal das Gefühl hatte, ich verlöre den Boden unter meinen Füssen, das hätte ich mit dir nicht besprechen können.«
Klara weicht Margos ernstem Blick aus. Aber was sie sagt, stimmt. Tieferen Gesprächen weicht sie gerne aus. Sie hat sich im Laufe der Jahre ihre eigene Welt mit einer heilen, intakten Oberfläche aufgebaut, auf der sie sich bewegt. Alles Störende, Schmerzhafte wird daraus verdrängt. Nicht anschauen und nicht nachfragen, das ist ihre Devise, geschweige denn einen Therapeuten zu Hilfe zu nehmen.
»Und wieso erzählst du mir das jetzt?« Klara rutscht nervös auf dem Sessel hin und her.
»Weil ich finde, dass du dringend therapeutische Hilfe benötigst, sonst landest du irgendwann in der Psychiatrie! Marianne könnte dich in deiner jetzigen Situation begleiten.« So, jetzt hat sie es gesagt! Mehr kann sie nicht tun. Wenn sie wieder meine Hilfe ablehnt, dann werde ich künftig nichts mehr sagen und der Sache ihren Lauf lassen, wohin es auch führen wird, nimmt sich Margo fest vor. Klara schweigt, Margo ebenfalls. Sie schenkt sich noch einen Kaffee ein und krault Sunny, die sich neben ihr auf einem Kissen gemütlich zu einer Kugel zusammengerollt hat.
»Begleitest du mich?« Ängstlich schwebt die Frage durch den stillen Raum. Margo versteht sie kaum, so leise hat sie gesprochen.
»Kommst du mit, wenn ich zu ihr gehe?«
»Ja, natürlich begleite ich dich.«
»Ich schaff das alles nicht mehr allein. Glaubst du, dass sie mir helfen kann? Ich möchte mein altes Leben zurück!« Klara weint jetzt bitterlich. Margo nimmt sie in die Arme und wiegt sie wie ein Kind.
»Ja, ich bin überzeugt, dass alles wieder gut wird. Aber es liegt an dir, wie offen und ehrlich du mitarbeitest. Soll ich dir einen grünen Tee aufbrühen?«
Klara nickt schniefend. Der Tee wirkt entspannend und Klara beruhigt sich langsam.
»Wo wohnt Marianne?«
»Auf der Insel Reichenau.«
»Die Gemüseinsel im Bodensee?«
»Ja, Marianne besitzt dort ein uriges, altes Fischerhaus direkt am See. Dort ist auch ihre Praxis. Und wir könnten dort wohnen. Sie hat Gästezimmer.«
»Du hast schon mit ihr gesprochen!«, stellt Klara lächelnd fest. Margo errötet.
»Ja, bitte sei mir nicht böse. Ich habe sie heute Vormittag angerufen. Sie würde dich nehmen, aber du musst selbst einen Termin mit ihr ausmachen.«
»Können wir gleich anrufen?« Klara möchte jetzt nicht mehr warten, denn der Leidensdruck ist einfach zu groß geworden.
AUF DER INSEL REICHENAU
Marianne lädt sie zu einem verlängerten Wochenende ein und so fahren sie am Freitagmorgen los. Sie haben Glück, denn eine warme Sonne unter einem wolkenlosen Himmel begrüßt den Morgen und begleitet sie an den Bodensee.
Als sie auf die Insel abbiegen, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Zu beiden Seiten funkelt der See in einem leuchtenden Mittelblau durch das hohe Schilfgras, während die hellgrünen Pappeln der Reichenauer Allee den Eindruck vermitteln, als säumten sie einen Weg auf eine Märcheninsel. Die alte Ruine, am Ende der Allee, verstärkt diesen Eindruck. Auch Klara fühlt sich der Realität entrückt. Wenn ich diesen kleinen Teil der Insel beschreiben müsste, würde ich Attribute wählen wie romantisch, märchenhaft, verträumt, fast eine eigene kleine Welt, überlegt sie, während sie zum Fenster hinausblickt. Seit sie auf der Insel angekommen sind, haben ihre Aufgeregtheit und Angst einer angenehmen Entspanntheit Platz gemacht. Seit Wochen ist das ihr erster großer Ausflug in die Welt nach draußen. Staunend und dankbar erlebt sie sich wieder als einen kleinen Teil davon.
Das alte Häuschen von Marianne steht direkt am See. Blauweißes Fachwerk ziert die leicht schiefen, dicken Mauer, in denen die blauen Fensterchen wie kleine Augen wirken, die munter in die Welt schauen. Einen heimeligen Eindruck vermittelt zudem das spitzwinkelige, rote Giebeldach. In einem leicht verwilderten Vorgarten steht ein alter, krummer Apfelbaum, der seinen Schatten einer kleinen Sitzecke spendet, die aus einer hellgrünen Holzbank, einem runden Tisch und zwei ebenfalls hellgrünen Holzstühlen besteht. Überall blüht es in vielen Farben. Das sanfte, helle Bimmeln von kleinen, tibetischen Messingglöckchen, die der leichte Seewind hin und her schwingt, ist zu hören und mischt sich mit dem leisen Geplätscher des Sees und dem zänkischen Geschrei einzelner Möwen. Sie betreten den Garten. Marianne hat das Auto schon gehört und öffnet die Haustür. Sunny springt ihr aufgeregt schnüffelnd entgegen. Nachdem sie zuerst den Hund begrüßt hat, wendet sie sich Margo und Klara zu, die sie beide herzlich umarmt.
»Ich freue mich, dass ihr da seid!« Kurz führt sie die beiden durch das Haus, zeigt ihnen ihre Zimmer, wo sie ihr Gepäck abstellen können und lässt sie einen Blick durch die geöffnete Terrassentür des Wohnzimmers werfen. Dem Auge bietet sich ein weiter Blick direkt auf den See.
»Du wohnst wirklich wunderschön. Ich bin jedes Mal aufs Neue begeistert«, schwärmt Margo. »Und jede Jahreszeit entfaltet tatsächlich ihren eigenen Zauber am See.«
»Das stimmt schon, aber dieses Jahr hat sich der Nebel hier wochenlang zäh niedergelassen. Während in anderen Gegenden schon die Frühlingswärme zu spüren war, haben wir in dieser permanenten Feuchtigkeit gefroren. Das ist so eine ekelige und durchdringende Kälte, vor allem wenn der Ostwind dazu kommt. Aber es hat halt alles seinen Preis. Auch das Paradies kostet.« Marianne fährt sich mit der Hand durch ihre dunklen, halblangen Haare und lacht laut.
Sie haben sich zu einem zweiten Frühstück unter dem Apfelbaum niedergelassen. Sunny sitzt mit erhobener Nase neben dem Tisch. Eine rotbraun getigerte Katze, die souverän durch den Garten schlendert, erklärt Sunnys Erregtheit. Die Katze scheint keine Berührungsängste zu kennen, denn sie kommt direkt auf die Sitzecke zu.
»Hat dein Hund etwas gegen Katzen?«
»Nein, im Gegenteil, sie liebt sie, vor allem von Margos Kater ist sie begeistert.« Klara streichelt Sunny über die strubbeligen Haare.
»Dann kannst du sie ruhig von der Leine lassen, denn Manu mag Hunde und ist auch an sie gewöhnt.« Vorsichtig nähert sich Sunny der Katze, hält dabei aber eine gewisse Distanz zu ihr.
»Ich habe mir gedacht, dass wir den heutigen Tag einfach nur genießen. Ich habe mir frei genommen und so können wir später einen Spaziergang über die Insel machen, beim Campingplatz einen Kaffee trinken, ihr könnt mit dem Ruderboot auf den See oder einfach im Garten bleiben, in der Sonne faulenzen und die Sicht auf den See genießen.« Marianne möchte, dass Klara sie in einem entspannten Zusammensein besser kennenlernt und Vertrauen fasst, denn sie spürt deren Unsicherheit und Erwartungsdruck. Der Vorschlag wird von beiden freudig angenommen. Zuerst unternehmen sie einen ausgiebigen Spaziergang über die Insel, trinken Kaffee in Mittelzell. Mittags geht Margo mit dem Boot auf den See, während es Klara vorzieht, am sicheren Ufer zu bleiben. Sie macht es sich mit ihrem Buch auf einem Liegestuhl gemütlich.
Am nächsten Morgen wird Klara durch lautes Vogelgezwitscher geweckt. Die Sonne scheint durch das kleine Fenster und sie hört das leise Geplätscher der Enten auf dem See. Sie hat sehr gut geschlafen und spürt eine Energie in sich, die sie schon lange nicht mehr empfunden hat. Genüsslich streckt sie sich und verlässt schwungvoll das Bett. Margo und Marianne erwarten sie bereits am gedeckten Frühstückstisch unter dem Apfelbaum.
»Guten Morgen, ihr Lieben. Seid ihr schon lange wach? Bin ich zu spät?« Klara setzt sich und schenkt sich eine Tasse Tee ein.
»Guten Morgen Klara. Wir sind auch gerade erst gekommen. Hast du gut geschlafen?« Marianne streichelt Sunny, die neben Klara aufgetaucht ist.
»Ja, danke, sehr gut. Du auch, Margo?«, fragt Klara.
Margo nickt bejahend, denn sie hat den Mund voll.
»Ich möchte heute nach Konstanz zum Einkaufen und fahre früh los, um die Stadt noch einigermaßen leer zu erleben.« Margo schenkt sich ein Glas frischgepressten Orangensaft ein. »Haben wir es nicht gut?«, fragt sie begeistert. »Wir sitzen an einem warmen Tag am Ufer des Bodensees und frühstücken im Garten. Gibt es etwas Schöneres?«
Marianne und Klara stimmen ihr lachend zu.
Klara hat heute Morgen ihre erste Sitzung bei Marianne. »Ich finde, wir bleiben bei diesem schönen Wetter im Garten«, schlägt sie vor. Das ist Klara sehr recht. Draußen fühlt sie sich freier und ungezwungener.
Klara erzählt Marianne von ihren Träumen, die seit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter wieder vermehrt auftreten und in ihr Angst und Schlafstörungen auslösen. Ihre Panikattacken, die sie so plötzlich überfallen haben und mittlerweile ihre Angst vor der Angst sind Themen in dieser ersten Stunde.
»Ich hoffe, dass du mir helfen kannst, wieder gesund zu werden.« Klara schaut Marianne hoffnungsvoll an.
»Viele meinen, allein der Besuch bei einem Therapeuten würde schon genügen, um gesund zu werden. Das ist ein Irrglauben, mit dem man heutzutage viel Geld verdient. Therapie bedeutet immer, an sich selbst zu arbeiten. Der Therapeut gibt nur Impulse, umsetzen muss sie der Klient selbst. Das kann unter Umständen sehr schmerzhaft sein, denn das heißt, mit eigenen Schattenanteilen konfrontiert zu werden, alte Traumata, Verdrängtes oder Unverarbeitetes aufzudecken oder noch einmal zu durchleben. Ein Therapeut kann nicht heilen. Gesundwerden kann der Mensch nur aus sich selbst heraus und den Weg dorthin, muss er allein gehen. Verstehst du, was ich damit sagen möchte?«, fragt Marianne.
Klara nickt beklommen. Ihr wird es erst jetzt richtig bewusst, dass sie einen weiten Weg zurücklegen muss.
»Ich werde mitarbeiten, denn ich möchte wieder ganz gesund werden!«
»Sehr gut, dann beginnen wir mit der Therapie.«
Am nächsten Tag fährt Margo allein nach Stuttgart zurück. Klara hat sich entschlossen, mit Sunny eine längere Zeit bei Marianne zu bleiben. Für Klara beginnt eine interessante Zeit.
Ein klar strukturierter Tagesplan wird aufgestellt. Meditation, Yoga und Atemübungen, Spazierengehen, gesunde, vollwertige Ernährung und frühe Bettruhe stehen auf dem Programm. Gespräche, Malen, Plastizieren und Tagebuchschreiben füllen ihre Zeit aus. Als Klara ihre Träume schildert, fragt Marianne, ob sie eine Schwester gehabt hätte, die gestorben sei, was Klara aber verneint. Marianne versetzt Klara daraufhin in Hypnose: Sie führt sie in das Alter von drei Jahren zurück. Klara geht einen Weg entlang. Plötzlich steht sie vor einem großen, schmiedeeisernen Tor, das verschlossen ist. Das Weitergehen wird ihr verwehrt. Marianne fragt sie, was sie sieht, wenn sie durch die Eisenstäbe des Tores schaut. Klara kann nichts erkennen, denn dahinter ist alles schwarz. Aber aus der Ferne ertönt Meeresrauschen und sie hört das bitterliche Weinen eines Kindes. Als Klara beginnt, unruhig zu werden, führt Marianne sie aus der Hypnose zurück. Die Türe zu ihrer Kindheit scheint noch fest verschlossen zu sein!






