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Kristin tritt aus ihrer Kammer. Die Puppe fest an sich gedrückt, schleicht sie über den Flur. Vorsichtig drückt sie die Türklinke hinunter und stößt die Tür ein klein wenig auf. Da liegt doch die Mutter immer noch im Bett! Ach, sie ist ja so froh. Schnell eilt Kristin zu ihr. Doch irgendetwas stimmt nicht. Diese fremde Frau mit den starren, wächsernen Gesichtszügen und den heruntergezogenen Mundwinkeln ist nicht ihre Mutter. Hat die Elfenfrau sie etwa verzaubert, sie gegen eine Puppe ausgetauscht? Zaghaft berührt sie die auf der Decke liegenden, gefalteten Hände. Eiskalt! Kristin weicht erschrocken zurück, dreht sich um, rennt aus dem Zimmer und versteckt sich unter ihrer Bettdecke.
Die Tage vergehen in dumpfer Traurigkeit, die auch dem Weihnachtsfest, auf das sich Kristin so sehr gefreut hat, den hellen, feierli-chen Glanz nimmt. Es gibt keinen Baum mit Strohsternen und Goldengeln und auch keinen flauschigen Wollpullover.
Katla, Sagas erstgeborene, unverheiratete Tochter, zieht ins Trauerhaus, um sich um das Baby zu kümmern. Sie löst die Hebamme ab, die endlich das Haus verlässt. Kristin atmet auf. Die rothaarige Frau ist ihr unheimlich, auch wenn die Oma gesagt hat, dass sie keine Elfenfrau sei. Trotzdem, irgendetwas hat sie mit dem Tod ihrer Mutter zu tun.
Die Tage werden allmählich wieder heller, der Winter mit seinen eisigen Winden zieht sich zurück und der Frühling flattert wie ein bunter Schmetterling über das Land. Menschen und Tiere atmen auf.
Auch Kristin fühlt sich leichter. Die Trauer verliert ihre Schwere, das Leben kehrt wie in die Natur, so auch in die Familie zurück.
Kristins siebter Geburtstag fällt auf einen sonnigen Julitag, der im Garten mit einer großen Geburtstagstorte gefeiert wird. Endlich liegt auch der Weihnachtspullover fertig gestrickt auf ihrem Gabentisch.
Eines Abends, als Kristin noch einmal das Klohäuschen aufsuchen muss, wird sie ungewollt Zeugin einer lautstarken Unterhaltung zwischen ihrer Oma und ihrem Vater. Sie bleibt vor der geschlossenen Küchentür stehen und spitzt die Ohren.
„Du solltest Katla zu deiner Frau nehmen. Du weißt, dass sie dich liebt, schon immer geliebt hat. Hekla würde sich freuen, wenn ihre Schwester an ihre Stelle treten würde. Sie wäre den Kindern eine gute Mutter“, hört sie Saga sprechen.
„Ich habe mich damals in deine jüngste Tochter verliebt und nicht in Katla. Ich bin ihr sehr dankbar, was sie für Olaf und Kristin tut, aber ich kann sie nicht heiraten, weil ich mich in eine andere verliebt habe“, erwidert Magnus mit kalter Stimme. „Sie wird im Herbst hier als neue Bäuerin einziehen und sie wird den Kindern eine gute Mutter werden.“
„Das kannst du Katla nicht antun!“
„Ich habe ihr nie was versprochen. Das weißt du ganz genau!“
„Wer ist sie?“
„Steinunn, die Hebamme“, antwortet Magnus ruhig.
„Dieses rothaarige Weib mit ihrem Trollenkind?“, kreischt Saga. Das verhasste Bild einer anderen Frau drängt sich in den Vordergrund. Sigrún, Steinunns Mutter. Die Frau, die ihr damals Gustav weggenommen hat. Saga spürt, wie ihr die Hitze in den Kopf schießt.
„Weib, pass auf, was du sagst! Sie ist eine ehrwürdige Frau und ich liebe sie.“ Magnus schlägt mit der Faust auf den Tisch.
„Das ging ja schnell, dass du meine Tochter vergessen hast. Meinen Segen bekommst du jedenfalls nicht für diese Heirat. Sie wird uns mit ihrem Balg nur Unglück bringen, wie ihre Mutter damals über mich Unglück gebracht hat“, kreischt Saga.
Magnus schüttelt ärgerlich den Kopf, dreht sich um und reißt so unvermittelt die Tür auf, dass es Kristin nicht mehr gelingt, sich unbemerkt davonzuschleichen. Sie landet direkt an seiner Brust.
„Solltest du nicht längst im Bett sein?“ Ihr Vater runzelt ärgerlich die Stirn. „Und gelauscht hast du auch?“
„Entschuldige, das wollte ich nicht“, stottert Kristin. „Du darfst die Elfenfrau nicht heiraten“, entschlüpft es ihr.
„Was redest du denn da! Geh sofort ins Bett, bevor ich mich vergesse“, droht er und hebt die große Hand.
Kristin rennt heulend die Treppe hinauf in ihre Kammer. Die Elfenfrau zieht hier ein und bringt ein Trollenkind mit, hat die Oma gesagt. Kristin weint sich verzweifelt in den Schlaf.
Als der November mit Nebel und Eisregen den nahen Winter ankündigt, bringt Magnus Steinunn und ihre kleine Tochter Elin ins Haus.
„Schau Kristin, das ist jetzt deine neue Mutter und das ist Elin, deine neue Schwester.“ Stolz und voller Freude stellt er die beiden seiner Tochter vor.
Kristin erstarrt. Der Alptraum ist also wahr geworden und gleich in zweifacher Ausführung, denn Elin sieht ihrer Mutter mit denselben roten Haaren und grünen Augen sehr ähnlich.
„Meine Mutter ist im Himmel. Ich brauche keine neue und ich brauche auch keine neue Schwester. Ich habe Olaf“, ruft sie aufgebracht. Zornige Tränen steigen ihr in die Augen. Nein, sie will keine neue Mutter! Mit wehendem Kleid reißt sie sich von seiner Hand los und stürzt die Treppe hinauf in ihre Kammer. Die Tür fällt mit einem lauten Knall hinter ihr ins Schloss.
„Kristin, komm sofort herunter!“, schreit Magnus und stürmt mit puterrotem Kopf hinter ihr her.
„Magnus lass sie! Sie wird sich schon an uns gewöhnen“, ruft ihm Steinunn hinterher.
„Ich verlange von dir Respekt und gutes Benehmen. Haben wir uns verstanden?“ Er steht breitbeinig in der offenen Tür. Seine Stimme klingt drohend.
Kristin nickt ängstlich mit dem Kopf. So wütend hat sie ihren Vater noch nie erlebt. Er liebt sie nicht mehr!
„Ich höre nichts“, herrscht er sie an.
„Ja, ich hab’s verstanden“, antwortet sie leise.
Als ihr Vater die Kammer verlässt, sinkt sie verzweifelt auf ihr Bett. Er kann sie nicht zwingen, die neue Frau liebzuhaben. Sie wird ihre Mutter niemals verraten, das nimmt sie sich fest vor.
Als Steinunn kurz darauf mit Elin Kristins Kammer betritt, um sie in das leere Bett gegenüber zu legen, dreht sie den beiden den Rücken zu und gibt vor zu schlafen.
Mit dem Vorsatz, der Mutter treu zu bleiben und die Eindringlinge zu hassen, fällt sie in einen unruhigen Schlaf.
KAPITEL 8
Elin, Konstanz 2017
Elin verlässt als Letzte das Antiquitätengeschäft und schließt die Tür hinter sich ab. Es hat zu regnen begonnen. Ein leichter, freundlicher Sommerregen, der die drückende Hitze wegspült. Elin nimmt einen tiefen Atemzug. Sie ist froh über die Abkühlung. Zum Glück befindet sich ihr Geschäft in der Konstanzer Altstadt. Die gewölbeartigen Räume sind im Sommer angenehm kühl.
Nachdenklich gestimmt, schlendert sie unter ihrem großen Sonnenblumenschirm durch die alten Gassen der Niederburg. Es herrscht viel Betrieb. Sommergäste, Geschäftsleute und Einkaufende bevölkern die Altstadt. Vom nahen Münster sind sieben Schläge der Turmuhr zu hören.
Wie es Julia wohl geht? Ob ihr Island gefällt?
Heute Abend wird sie mit dem Niederschreiben ihrer Geschichte beginnen. Sie hat sich in der Mittagspause ein Heft mit gemustertem Cover gekauft, dazu einen leuchtend roten Kugelschreiber.
„Elin, schön, dass du wieder da bist. Hast du viel Kundschaft gehabt.“ Michael nimmt seine Frau liebevoll in die Arme.
„Stell dir vor, ich habe das Viktorianische Teeservice und den roten Samtsessel verkauft“, platzt sie freudig heraus.
„Wolltest du ihn nicht für dein Atelier?“
Sie nickt. „Bevor er ein Ladenhüter geworden wäre, hätte ich ihn selbst genommen, aber so ist es natürlich besser. Und ich habe einen super Preis erzielt.“
Elin liebt ihren Beruf als Antiquitätenhändlerin und die damit verbundenen Reisen. Sie vermitteln ihr ein Gefühl von Freiheit und Selbständigkeit. Noch dazu läuft der Laden gut. Wenn sie unterwegs ist, hält Karol, ihre Freundin und Partnerin, die Stellung. Sie liebt das Verkaufen und Beraten, während Elin ein sehr gutes Händchen dafür hat, kostbare und teilweise ausgefallene Stücke bei Auktionen, Wohnungsauflösungen und Flohmärkten aufzuspüren.
„Hast du Lust zum Italiener zu gehen?“, fragt Michael hoffnungsvoll und folgt seiner Frau ins Wohnzimmer. „Eine große Pizza mit Meeresfrüchten, ein Glas Rotwein und zum Dessert ein Tiramisu“, schwelgt er und streicht sich lächelnd über den kleinen Bauchansatz. „Beeil dich. Ich habe Hunger.“
„Das hört man. Ich ziehe mich nur kurz um, dann können wir gehen“, meint Elin lachend.
Im Schlafzimmer fällt ihr Blick auf ihr Smartphone, das auf der Kommode liegt. Ach, hier ist es!
Zwei neue Nachrichten von Julia. Die erste erfüllt sie mit Erleichterung. Sie freut sich, dass ihre Tochter sich in Reykjavik wohlfühlt.
Die zweite WhatsApp jagt ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Sie hat geahnt, dass die Schatten der Vergangenheit nicht vor Julia Halt machen würden. In einem Café in Reykjavik. Das kann nur ihre Schwester Kristin gewesen sein. Aber immer noch dieser Hass, nach all den Jahren?
Ihr ist plötzlich kalt und die Lust auf einen Besuch beim Italiener gründlich vergangen. Im Bad blickt ihr eine bleiche Elin aus dem Spiegel entgegen. Die grünen Augen hell und ohne Glanz.
Langsam geht sie die Treppe hinunter. Der Elan und die Freude von vorhin sind wie von einer Windböe erfasst und weggeweht. Sie findet Michael im Gartenzimmer.
Er steht in der weit geöffneten Tür und blickt in den Garten, der gierig die Regentropfen aufsaugt. Er scheint so in Gedanken versunken zu sein, dass er auf Elins Kommen nicht reagiert.
Als sie ihn so stehen sieht mit hängenden Schultern und leicht gebeugtem Kopf, erschrickt sie. Er wirkt so traurig und einsam.
„Schatz, was ist mit dir?“ Sie tritt hinter ihn und umfasst ihn mit beiden Armen.
„Ach, ich weiß auch nicht. Stress mit dem neuen Bauherrn. Vielleicht sollte ich langsam an die Rente denken und das Architekturbüro an David übergeben“, sagt er leise.
„Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee.“ Elin streichelt ihm sanft über den Rücken. „Lass uns daheimbleiben. Ich richte uns ein paar Brote und du öffnest eine Flasche Wein. Ich habe sowieso keinen großen Hunger mehr.“
Michael dreht sich zu ihr um. „Was ist los?“ Missmut schwingt in seiner Stimme. „Ich dachte, wir gehen zum Italiener?“
„Ich mache mir Sorgen um Julia. Sie hatte in einem Café in Reykjavik eine sehr unschöne Begegnung mit einer Frau. Ihrer Beschreibung nach könnte es meine Stiefschwester Kristin gewesen sein.“ Kaum ausgesprochen, könnte sie sich auf die Zunge beißen. Unsicher blickt sie ihren Mann an und dreht nervös an ihrem Zopf.
„Deine Stiefschwester? Ich dachte, du hättest keine Familie mehr.“
„Ich habe eine Halbschwester und zwei Stiefgeschwister. Ob meine Mutter und mein Stiefvater noch leben, weiß ich nicht“, flüstert Elin.
„Ich fasse es nicht! Wir sind nun schon so lange verheiratet und du hast mich bis jetzt im Glauben gelassen, dass es auf Island keine Verwandten mehr gibt, dass deine Familie gestorben ist.“ Michael blickt sie ungläubig an. „Du hast mich belogen, die ganze Zeit. Hast mich nie an deinem Leben teilhaben lassen. Immer Schweigen und Geheimnisse. Warum Elin? Warum nur? Ich bin schließlich dein Mann.“ Aufgebracht läuft er mit großen Schritten im Zimmer hin und her. „Das kann einfach nicht wahr sein!“, grollt er.
„Es tut mir leid. Es ist nicht direkt gelogen. Für mich sind sie tatsächlich gestorben, als ich die Insel verlassen habe“, rechtfertigt sie sich leise.
„Das ist doch krank! Man kann nicht einfach seine ganze Familie sterben lassen! Das hat sich auf unser ganzes Leben ausgewirkt. Immer deine Stimmungen, deine Alpträume. Glaubst du, das war und ist für mich einfach? Trösten, ohne zu wissen warum? Ich habe immer gehofft, dass du einmal zu mir kommen und mich ins Vertrauen ziehen würdest. Ich wollte dich nicht bedrängen. Mittlerweile frage ich mich allerdings, auf was wir unsere Ehe überhaupt aufgebaut haben. Vielleicht auf isländischem Lavagestein?“ Michael schüttelt den Kopf und stürmt in den Garten hinaus.
„Michael, bitte! So ist das nicht!“, ruft sie in die Dunkelheit. „Bitte komm wieder rein! Du wirst ja ganz nass. Michael!?“ Elin tritt auf die Terrasse. Das Gartentor steht weit offen. Sie eilt hinter ihm her. Er läuft wie gehetzt den Uferweg entlang.
„Michael, warte auf mich!“, ruft sie und beginnt zu rennen. Ihr Herz klopft wie wild, Panik erfasst sie. Immer wieder verschluckt ihn die Dunkelheit.
„Michael“, schreit sie, „Michael!“ Tränen laufen ihr übers Gesicht und mischen sich mit dem Regen, der kontinuierlich auf sie niederprasselt. Ihr Zopf schlägt schwer hin und her, der Pullover klebt mittlerweile auf ihrer Haut und die Turnschuhe geben bei jedem Schritt klatschende Geräusche von sich.
In jener Nacht hatte es auch geregnet. In einem anderen Leben. Auf Island.
Endlich dreht er sich um.
„Michael. Ich liebe dich!“ Zitternd bleibt Elin vor ihm stehen und streckt die Hand nach ihm aus. Die Distanz zwischen ihnen ist riesengroß.
Elin weicht erschrocken zurück. „Michael, bitte. Mach jetzt nicht alles kaputt“, fleht sie. „Ich werde dir alles erzählen. Es wird keine Geheimnisse mehr geben, das verspreche ich dir.“ Mittlerweile schlottern ihr die Knie. Sie friert bis ins Mark.
„Lass uns gehen“, brummt Michael und nimmt ihren Arm. Schweigend gehen sie nebeneinander her. Kleine Wellen rollen mit einem Plätschern ans dunkle Ufer. Von der Schweizer Seite leuchten die Lichter herüber und zaubern helle Streifen auf den unruhigen See. Mond und Sterne haben sich hinter Wolken versteckt.
Zuhause angekommen, in trockenen Kleidern, treffen sie sich im Wohnzimmer. Elin kuschelt sich mit einer Wolldecke auf die Couch und trinkt in kleinen Schlucken eine heiße Schokolade. Michael sitzt ihr gegenüber in dem großen Ohrensessel, ein Glas Rotwein vor sich. Im Kamin verzehrt ein Feuer knackend die Holzscheite. Tanzende Schatten an der gegenüberliegenden Wand und eine wohlige Wärme zaubern eine heimelige Atmosphäre, die jedoch von den beiden Anwesenden nicht wahrgenommen wird. Ihre Blicke treffen sich. In ihnen spiegeln sich Unsicherheit und Angst, sowie Verletztheit und Ärger.
Elin räuspert sich. „Wo soll ich beginnen? Am besten in meiner Kindheit.“ Sie schließt die Augen. Und mit einem Mal ist es ganz einfach. Ihre Angst verschwindet und die kleine Elin betritt den Raum. Sie nimmt sie mit auf die Reise in ihre Kindheit.
KAPITEL 9
Elin Akureyri 1964
Die dreijährige Elin spielt mit ihrer Puppe und mit ihrem kleinen Holzpferd im Garten. Sie genießt die warmen Sonnenstrahlen, die der kurze Sommer heute schenkt. Die Nächte werden nicht dunkel, um das kleine Holzhaus blühen die Gräser und neigen ihre weißen Köpfchen im lauen Wind. Überall violette, gelbe und weiße Farbtupfer auf den grün bemoosten Lavasteinen. Weiter weg das Blöken der Schafe und Lämmer, die ausgelassen über die frischen Moos- und Grashügel springen und sich am saftigen Grün sattfressen.
Steinunn tritt aus der niedrigen Haustür. Auch sie genießt die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Sie seufzt. Manchmal wünscht sie sich in den Süden. Irgendwo hin, wo die Winter nicht so hart, nicht so ewig lang, dunkel und kalt sind.
In der Stadtbücherei hat sie ein Buch über Italien mit nachhause genommen und es zusammen mit ihrer Tochter Elin angeschaut. Sonnengeflutete Plätze, warmes, blaues Meer, Blumen in allen Farben, dazu Zitronenbäume und Zypressen. Sie seufzt noch einmal, als sie an die Bilder denkt. Ihr Traum. Einmal im Leben dorthin. Sie schüttelt den Kopf. Schluss jetzt mit der Träumerei. Immerhin hat sie ein Dach über dem Kopf, wenngleich ein undichtes, und eine Arbeit, die es ihr und ihrer Tochter ermöglicht, unabhängig zu leben. Zwar nicht im Wohlstand, doch sie hungern nicht und das ist schon viel, sehr viel wert.
Sie blickt zu ihrer kleinen Tochter hinüber. Ihre Haare leuchten in der Sonne feuerrot. Das grüne, selbstgenähte Kleidchen ist schon bald wieder zu klein. Wie schnell die Zeit vergeht, denkt sie ein bisschen wehmütig. Noch vor kurzem war sie ihr Baby, morgen feiert sie bereits ihren vierten Geburtstag.
„Elin, komm zu mir. Ich muss dir was sagen“, ruft sie ihre Tochter.
Elin kommt freudig zu ihr gelaufen, wie immer mit einem Lächeln auf dem zarten Gesicht, das ihre grünen Augen wie Sterne strahlen lässt.
Steinunn fängt sie auf und dreht sich mit ihr im Kreis, bis Elin laut jauchzt.
„Du bekommst einen neuen Papa, eine ältere Schwester und ein ganz kleines Brüderchen. Im Herbst ziehen wir zu ihnen. Es wird dir dort gefallen. Es gibt Schafe, Kühe und Pferde. Du wirst sehen, es ist sehr schön dort.“
Sie hofft, dass sie mit Magnus die richtige Wahl getroffen hat. Sie braucht einen Mann und einen Vater für Elin. Allein kommt sie kaum mehr über die Runden. Als Hebamme hat sie keine regelmäßigen Einnahmen, auch die kunstvoll gestrickten Wollpullover und Socken, die sie in der Stadt verkauft, bringen nicht genügend Geld ein. Das karge, regelmäßige Einkommen muss sie sich mit Waschen und Bügeln verdienen. Sie wünscht sich mehr, vor allem für Elin. Nach der Schule ein Studium, vielleicht sogar im Ausland. Das alles ging ihr durch den Kopf, als Magnus Olafson ihr einen Heiratsantrag machte. Ein liebenswürdiger Mann, der sich in ihre roten Haare verliebt hat und der ihr und ihrem Kind ein Zuhause schenken möchte.
„Eine neue Schwester und ein Brüderchen?“ Elin tanzt vor Freude und hüpft von einem Bein auf das andere. „Oh ja und viele Tiere. Darf ich die alle streicheln?“
Die Mutter nickt und streicht ihr die widerspenstigen Löckchen aus dem verschwitzten Gesicht.
Elin hüpft zurück zu ihrer Puppe. „Ich bekomm ein Brüderchen. Ich bekomm ein Schwesterchen“, singt sie.
Steinunn ist beruhigt. Ihr kleines Sonnenkind wird sich sicher sehr schnell in die neue Familie einfügen.
Staunend steht die kleine Elin neben ihrer Mutter vor ihrem neuen Zuhause. Es ist so groß, dass ihr kleines Holzhaus viermal hineinpassen würde. Verzagt greift sie nach der Hand ihrer Mutter. Gemeinsam treten sie durch die Holztür.
Vor dem neuen Vater ist ihr ein bisschen bange. Er ist groß und lacht laut. Aber er ist nett, kneift sie in die Wange und streicht ihr über das rote Köpfchen. Elin ist in einem Frauenhaushalt aufgewachsen, daher muss sie sich erst an den großen Mann gewöhnen. Sie vermisst die Oma, die vor einem Jahr gestorben ist und die mit Mama und ihr in dem schiefen Haus wohnte. Aber sie hat der Mama versprochen, eine brave Tochter zu sein und alle im Haus liebzuhaben und das möchte sie auch.
Die erste Begegnung findet in der Küche statt. Magnus öffnet die Tür und lässt die beiden eintreten.
Um einen großen Holztisch sitzen die Knechte und die Magd, die sich sogleich erheben und mit neugierigen Blicken die neue Frau und das kleine Mädchen mustern. Sie haben sie vor einem Jahr schon einmal gesehen, als Steinunn als Hebamme der verstorbenen Bäuerin beistand. Dass sie jetzt allerdings als Hausfrau hier einzieht, ist für alle ein wenig fragwürdig. Dazu das fremdartige Aussehen. Beide diese leuchtend roten Haare, die grünen Augen und die zarten Gesichter. Elfenfrau und Trollenkind hat die alte Saga gesagt und die muss es ja wissen.
Elin spürt kein Wohlwollen, keine Wärme, als sie brav ihren Knicks vor der alten Frau macht, die vor dem Herdfeuer sitzt. Auch die jüngere Frau, die am Herd steht und sich langsam umdreht, hat kein Lächeln übrig. Elin weicht erschrocken zurück und versteckt sich hinter dem Rock der Mutter. „Ich will zum Brüderchen und zum Schwesterchen“, bettelt sie leise und versucht, ihre Mutter aus dieser eisigen Atmosphäre zu ziehen.
Da öffnet sich die Tür und Magnus schiebt ein Mädchen in den Raum. Elin linst neugierig hinter dem Rücken der Mutter vor. Das muss die neue Schwester sein. Ein offenes Lächeln überzieht ihr kleines Gesicht.
„Schau Kristin, das ist Elin, deine neue Schwester und das ist deine neue Mutter.“
Das Mädchen wirft ihnen einen bösen Blick zu. „Ich will keine neue Mutter und keine neue Schwester“, ruft sie, dreht sich um und stürmt mit lauten Schritten die Treppe hinauf.
Elin, die ein paar Schritte auf das Mädchen zugegangen ist, greift schnell wieder nach der Hand der Mutter und steckt den Kopf in ihren Rock. Unsichtbar werden, nicht mehr hier sein, das wünscht sie sich und kämpft mit den Tränen. Auf Elins Sonnenwesen legen sich erste Schatten.
Elin fährt sich über die Augen. Wie lebendig und überaus deutlich die Bilder der Vergangenheit waren.
Michael blickt gedankenverloren in die Flammen.
„Können wir morgen weiterreden?“, fragt sie leise. „Ich fühle mich so unendlich müde.“
Michael steht auf und setzt sich vor Elin auf den Teppich. „Es tut mir leid, dass ich so aufgebracht war. Doch ich trage die Enttäuschung schon so lange mit mir herum. Jetzt hat sie sich halt einen Ausgang gesucht. Vielleicht ist es auch gut so, denn jetzt können wir endlich alles Trennende aus dem Weg räumen.“ Er berührt leicht ihre Hände. „Du bist ja ganz heiß. Hast du Fieber?“ Er fühlt ihre Stirn. „Du hast tatsächlich Fieber.“
„Liebst du mich noch?“, fragt sie leise. Ihre Augen sind riesengroß und dunkel.
„Natürlich, was denkst du denn“, erwidert er betroffen über die Verzweiflung, die mitschwingt.
„Dann ist es ja gut.“ Sie schließt die Augen. Michael trägt sie die Treppe hinauf, legt sie behutsam aufs Bett und deckt sie zu.
Draußen tobt der Sturm um das kleine Holzhaus. Drückt und presst sich mit sirrendem Geheul dagegen. Er rüttelt an den Fensterläden, als wolle er hereinkommen, um ihr das mühsam aufgebaute Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu rauben. Elin kauert sich tiefer in den breiten Ohrensessel und zieht sich die Wolldecke bis ans Kinn.
Sie ist ihnen ausgeliefert. Sie kann nichts anderes tun, als zu warten. Sie werden kommen, das spürte sie bereits am Morgen, als der Schnee mit harmlosen Flocken das karge, braune Vulkanland mit einem funkelnden, weißen Teppich bedeckte.
Plötzlich flackert das kleine Gaslicht, gebärdet sich in seinem Glasgehäuse wie wild, zuckt noch ein paarmal wie im Todeskampf, dann gibt es auf und erlischt. Dunkelheit erfüllt den kleinen Raum. Elin schreit leise auf, doch sie bleibt wie gelähmt sitzen und harrt der Dinge, die nun kommen, zwangsläufig kommen müssen.
Der Wind nimmt an Kraft zu, drückt so stark gegen den dünnen Holzladen, dass dieser mit Ächzen und Knarzen nachgibt und bricht. Holzteile bohren sich durch das Fenster. Glas klirrt und gibt den Weg frei für die eisigen Böen mit ihrer Schneelast.
In kürzester Zeit sind der braune Holzfußboden und der runde, fadenscheinige Teppich von einer Puderzuckerschicht bestäubt.
Das Herdfeuer gibt nun auch den Kampf auf. Kälte breitet sich aus, kriecht unter Elins Wolldecke, hüllt sie ein.
Plötzlich liegt ein Singen in der Luft. Hohe Töne, schrill schwingend, dringen durch das offene Fenster zu ihr herein.
Elin zieht die Beine auf den Sessel und stülpt sich die Decke über den Kopf.
Die Elfen aus Hafnarfjördur. Jetzt ist die Zeit der Abrechnung gekommen!
Elin schreit gellend auf.
Michael fährt aus dem Schlaf hoch, tastet nach der Lampe und knipst das Licht an.
Neben ihm wirft sich Elin von einer Seite auf die andere. Ihre Hände schlagen auf die Bettdecke, deren untere Hälfte bereits auf dem Boden liegt. Ihr rotes Haar klebt feucht an der schweißnassen Stirn und den Schläfen.
„Elin, wach auf!“ Michael schüttelt sie behutsam. Wie heiß sie ist. „Elin, komm schon. Schatz wach auf!“ Er schüttelt sie noch einmal. Endlich schlägt sie die Augen auf. Sie hat Mühe, ihren unsteten Blick auf ihren Mann zu richten.
Michael reicht ihr ein Glas Wasser und kühlt ihre heiße Stirn mit einem kalten Waschlappen. Besorgt schaut er sie an. „Elin, es ist alles gut. Du hattest nur einen bösen Traum.“ Er streicht ihr eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.
Elin blickt ihn an, möchte etwas sagen, doch dazu fehlt ihr die Kraft. Kurz darauf fällt sie wieder in einen unruhigen Schlaf.
Michael löscht seufzend das Licht. Die Reise in die Vergangenheit wird nicht einfach werden.
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