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„Das weiß ich.“
„Was meinst du denn genau damit?“
„…“
„Magst du mir nicht endlich einmal sagen, wie du heißt?“
„…“
„Gut, dann nenn ich dich halt ab jetzt Ferdinand. Ganz wienerisch. Wer weiß, ob du überhaupt von hier kommst? Hm, Ferdl?“
„…“
Bei meiner alten Hausverwalterin
ging das noch.
Jetzt nicht mehr, bei der neuen.
Kaum, dass sie mir das erste Mal
eiNEN BRief geschrieben hatte
Wusste ich, dass ich sie nicht mit
Liebe würde vertrösten können .
Eine Idee Blau
Die Beiried von der Kalbin lag schon auf dem Teller. Die reduzierte Madeira-Jus kochte kurz noch einmal im Kupfertopf auf, bevor sie erst als feine, sämige Spur am Rand des Tellers entlangwanderte, geschickt einmal um die drei Variationen vom Kohlrabi herumtanzte – roh, glasiert und als beinahe schaumiges Püree – und sich dann sachte an das Fleisch legte. Die dunklen Schalotten, in Rotwein, Lorbeer und Butter reduziert, bekamen als zwei gelöffelte Nocken ihr kleines Solo gegenüber. Eine Spur grünes Öl zwischen Püree und Schalotten. Die Pinzette nahm huschend die Zucchiniblüten auf, gruppierte sie auf den höchsten Punkten des Gerichts, Püree, Kalbin, dann steckte sie die Brunnenkresse an den Rand der Nocken. Schnell noch zwei eingelegte, dünne Radieschenscheiben an das Fleisch gelehnt, und schon zog sie sich tanzend wieder zurück in Antons Brusttasche. Seine Zunge schnalzte. Tschlak. Er konnte das einfach nicht abstellen! Karla hatte ihn erst neulich wieder ausgelacht. Wunderlicher alter, dicker Anton.
Gitti wartete schon.
Und nicht nur das. Warten hätte sie ja dürfen.
Aber dieser fixierte Blick auf jeden seiner Handgriffe! Studierte, registrierte, merkte sich, kalkulierte, verglich.
Anton sah hinauf zum Spiegel. Der Goldrahmen, seine heute fast noch ganz weiße Kochhaube darin, die lange Nase, die Backen. Unrasiert war er, gestern auch schon. Glänzende Stirn, die vollen, aufgeworfenen Lippen … früher hatte das alles sinnlicher ausgesehen.
„Eh wie sonst auch, Anton.“
Gitti lachte und streckte die Hände aus. Er atmete durch.
Über ihrem rechten Arm hing das Serviertuch, bei anderen, bei normalen Servierkellnern, hängt es links, logisch, aber bitte, die Gitti halt. Diese fordernden Arme. Er hätte einfach draufschlagen sollen. Aber er reichte Gitti stumm den Teller, den Kopf gesenkt, den Blick auf die nächsten Zettel werfend, vor sich an der Klemmleiste. Gittis Rücken stolzierte mit der Beiriedschnitte auf den letzten Tisch hinten rechts zu, Nummer 1.
Noch vier? Es ist doch schon viel zu spät! Haben sie wieder zwei Augen zugedrückt. Meine nämlich. Dieser Traum. Ich träum doch sonst nie. Ein Centurio? Ich versteh gar nichts mehr. Die Flusskrebse? Mensch, ich hab doch vorhin ausdrücklich dazugesagt, dass das die letzten waren!
Er schlug auf die Klingel und überflog die anderen drei Zettel.
Rehravioli mit einer Idee Blau? Karla ist da! Dann wird der grausliche Tag vielleicht noch eine schöne Nacht. Was war das, gestern? Ich mag nie wieder was träumen.
„Anton?“ Gitti war ungewöhnlich schnell zur Stelle. Wenigstens.
„Hab doch vorhin schon gesagt, die Flusskrebse sind aus!“
„Das ist nicht bei mir angekommen.“ Gitti bemühte sich um diskrete, leise Töne. Anton nicht.
„Kann ich auch nichts machen. Ich habs gesagt.“
„Ja, vielleicht zu dir selber. Aber nicht mir!“ Gitti wurde noch ein bisschen leiser. Anton nicht.
„Die Flusskrebse sind aus. Gehört?“
„Weißt du eh, dass du manchmal ein ziemliches Arschloch bist?“ Zisch.
„Merk dir einfach, was ich sag.“
Gitti öffnete schon wieder den Mund, aber Anton beugte seinen massigen Oberkörper derart unmissverständlich nach vorne, dass die Worte kehrtmachten. Stattdessen. Anbieten.
„Was kann ich dem Gast stattdessen anbieten?“
„Stell ihm einen Schnaps hin.“
„Und?“
„Ja, nix und! Die Karte gilt. Und es ist Küchenschluss, zum Kuckuck, und ich kann mich nicht zweiteilen!“
„Anton, du weißt genau, dass ich ihm dafür was anderes …“
„Die Flusskrebse sind aus!“ Anton hatte es jetzt so laut gesagt, dass es der freundliche, alleinsitzende Herr an Tisch 4 gehört haben musste.
„Sag ihm, ich hab sie selber aufgegessen, absichtlich! Ich bin schuld!“
„Wir müssen wirklich bald reden, Anton.“
Der lächelte nur kurz und künstlich, ließ Gitti stehen und betrachtete wieder die Zettel. Wenn Karla da war, musste immer etwas anderes her als die von ihr bestellten Rehravioli. Mit einer Idee Blau. Er schüttelte, nein, er zauberte dann schnell etwas aus dem Ärmel. Und es war jedes Mal ein kleines Meisterwerk. Viel teurer, viel ausgefuchster als das bestellte Gericht. Natürlich. Das war eine seiner zahlreichen, kleinen Unarten. Der Rösselsprung. Für die Kollegen. Für ihn selbst war es eine Königsgeste.
Das ist Werbung. Sagte Anton gern.
Die anderen hassten ihn sicher dafür. Weil: Das ist nicht Werbung! Geschäftsschädigung ist das! Und der jungen Dame sicher auch sehr unangenehm, so wie der dicke Koch sich da aufdrängt?
Nein.
Karla hätte jederzeit etwas anderes bestellen können, sich so setzen, dass Anton sie von der Küche her gar nicht sah, schon würde sie das bekommen, was sie sich ausgesucht hatte. Und den üblichen Preis dafür bezahlen. Sie dachte aber gar nicht dran. Und gar nichts war ihr daran unangenehm.
Dass sie immer die Rehravioli mit einer Idee Blau bestellte, war ihrer beider gemeinsames Ding. Sie liebte Überraschungen. Wenn sie nicht gerade die eigene Kunst betrafen. Karla hatte ein gespaltenes Verhältnis zu Überraschungen in der Kunst. Nur wenige wussten sie wirklich zu meistern, zu gestalten. Aber für Karla war Anton so einer. Ein Künstler, ein großer sogar! Rehravioli mit einer Idee Blau hieß also: mach mir irgendetwas, verzaubere mich oder enttäusche mich, wie du willst. Aber bitte keine Rehravioli, ich hasse sie.
Wenn Anton darüber nachdachte, war es wohl dieses Gespräch gewesen, das ihn endgültig für Karla eingenommen hatte. Sie hatte sein Können erkannt. Und war auch völlig im Bilde gewesen, welchen Ruf er sich schon im Roxane erkocht hatte. Ohnehin schien sie offensichtlich wild entschlossen, nie mehr in ihrem Leben schlecht zu essen. Nicht, wenn sie es irgendwie verhindern konnte. Wofür sie gerne ihren Preis bezahlte.
Er ging in die Kühlkammer, besah sich die Regale, und fing in sich wild zu jonglieren an.
Wozu den Geist aus der Flasche bemühen?
Es blieben doch genügend Irre
auf der Strasse liegen…
Und auch der alte Teufel aus
der Kiste, geschenkt!
Nein, niemand hält das Leben auf,
schon gar nicht Du.
Dafür hast Du einen Glauben
um Dich herum gestellt…
Wer wollte Dir den reinen
Wein je wiederr nehmen?
Am Abend halten unsere Beine
ihre Füße in den Wind
Wie eine Fahne, die ganz weiß
nach Schonung schielt
Und unsere Hände winken,wedeln,
wie zwei Halunken
Die Bobo Jager und der alte Kaiser
„Schau, Darius, Bruder. Ich will auch niemanden umbringen, niemand hier will irgendwen umbringen! Wie soll das gehen? Wir sind acht Millionen in Österreich –“
„Ich hab gehört, fast neun?“
„Wurscht. Jeder kennt hier jeden. Da ist die Hemmung viel zu groß. Aber man wird doch noch davon träumen dürfen, dass man einmal zu anderen Mitteln greift als immer nur zu dieser depperten Provokation!“
Fünf Gestalten, diesmal alle männlich. Im Wiener Burggarten, gleich hinter der neuen Hofburg, zu Füßen des gütigen, alten Kaisers Franz Joseph. Es war bereits dunkel. Seit dem späten Nachmittag tagten sie, und waren strengen Willens, weiter zu tagen und zu nachten. Bis zum frühen Morgen, bis zum immergleichen, trotzigen Ende des allerletzten Abers.
Man saß lose im Gras. Nur einer lag, und atmete gerade die Reste eines tiefen Marihuanazuges aus. Zwei waren einander näher, auch im echten Leben. Im fahlen Zwielicht des kleinen städtischen Parks fand jedes Wort sein Widerwort, und wäre der Kaiser als einziger Zeuge nicht schon in Bronze gegossen gewesen, er hätte inmitten dieser viel zu warmen Spätsommernacht das Zeitliche gesegnet. Aus reiner Verzweiflung. Über seine Kinder, sein Volk. Diese Menschen.
„Es kommt doch schlicht und ergreifend nur darauf an, was man erreichen will, nicht? Wir jedenfalls scheitern schon daran, dass wir das zwar gar nicht genau wissen, aber immerhin seit ungefähr hundertfünfzig Jahren darüber diskutieren!“
„Geh, Darius, so würd ich das jetzt nicht sagen.“
„Genau. Echt nicht.“
„Na gut, seit hundertvierzig. Hey, wir wollten doch als Bobo Jager erreichen, dass viele von diesen Irrgängern sich endlich wieder auf sich besinnen, sich mit uns zusammentun, und dass wir gemeinsam eine neue Gesellschaft entwickeln. Mit einem ganz anderen Bewusstsein als Grundlage.“
Da war zwei Minuten nicht viel darauf zu sagen.
„Das Problem sind die anderen. Der Rest.“
Sagte der eine der beiden, die sich näher waren.
„Ja, der Rest.“
Sagte der andere.
„Und der Rest, die normalen Alltagszombies, die werden nicht lange herumfackeln. Die werden doch mit Gewalt verhindern wollen, dass man ihnen ihre selige Einfalt infrage stellt oder sogar wegnimmt!“
Darius sprang auf und drehte sich wild gestikulierend um sich selbst.
„Aber genau da sind wir doch bei mindestens drei Fragen: Wollen wir die Bobos nur provozieren oder wollen wir sie ernsthaft auf etwas aufmerksam machen, nämlich darauf, dass eine andere Welt hermuss? Und dass sie die mit uns gemeinsam zusammenbauen müssen, weil wir die Ideen haben, und sie das Geld?“
„Und den Einfluss.“
„Und den Einfluss. Meinetwegen. Stimmt eh.“
„Und die Strukturen.“
„Ja, die Strukturen auch! Gegrüßet seist du, Maria! Und die nächste Frage ist: Was heißt denn eine ‚neue Welt‘ überhaupt? Heißt das, dass wir bloß eine neue österreichische Welt wollen, oder gar nur eine neue Wiener Welt? Oder muss es um die ganze Welt gehen? Das finde ich nämlich schon, sogar ganz gewaltig! Aber dass es eben hier in Österreich losgehen muss mit dem neuen Geist?“
„Das waren sechs Fragen.“
„Ich hab zwei gezählt. Vielleicht kommst du langsam auf die dritte, Darius.“
„Ihr regts mich dermaßen auf, dass ich auf der Stelle sterben möcht! Ich hab gemeint, dass noch nicht einmal ganz klar ist, wen wir meinen, was wir von denen wollen, und wie wir das erreichen wollen! Und dann ist ja auch noch einmal die Frage, was mit einem ‚neuen Geist‘ überhaupt gemeint ist!“
„Aber das haben wir doch auch schon geklärt. Letzte Woche irgendwann! Oder täusch ich mich?“
Fragte der eine der beiden, die sich näher waren.
„Ja, du hast einen Monolog gehalten, dem am Schluss keiner mehr widersprochen hat. Aus Erschöpfung. Das nennst du natürlich wieder ‚geklärt‘!“
Sagte der andere.
„Leut’, es geht wirklich darum, und zuerst einmal nur darum, was wir wollen!“
„Darüber reden wir doch schon seit Tagen, fast ununterbrochen!“
„Jetzt übertreib nicht dauernd.“
„Noch einmal.“ Darius kam langsam, aber sicher an seine Grenzen.
„Es war vorhin immerhin schon die Rede von Gewalt. Und nur darum geht es: Darf das, was wir wollen, irgendwann sogar mit Gewalt umgesetzt werden? Ja, weil es keine andere Wahl gibt, vielleicht? Und muss es genau deshalb sogar mit Gewalt umgesetzt werden?“
„Also durchgesetzt.“
„Was?“
„Deine Wortwahl legt ja schon nahe, dass hier nicht etwas umgesetzt werden soll, sondern durchgesetzt.“
„Ist doch vollkommen egal! Also dann von mir aus: durchgesetzt! Wo war ich jetzt?“
„Beim Durchsetzen.“
„Geh, kannst du jetzt bitte einfach einmal die Bappm halten und ein bissel Schmusen gehen?“
„Siehst, wie du schon drauf bist! Das wird eine feine neue Welt, na servus!“
„Oder?“
„Was, oder?“
„Du hast gesagt: Muss es mit Gewalt umgesetzt werden. Als Frage. Und dann kommt doch noch das Oder. Oder nicht?“
„Ja, oder eben nicht! Also keine Gewalt. Weil das, was wir umsetzen wollen, auf keinen Fall auf einer Gewalt, also auf Durchsetzung, beruhen kann. Das kann ja auch sein. Und das hängt auch stark davon ab, was einer überhaupt will. Oder was alle zusammen wollen! Falls das überhaupt je geklärt werden kann.“
„Darum geht es ja. Es ist doch schon in sich unmöglich, dass alle zusammen etwas wollen, zumindest das Gleiche. Das geht nicht. So ist der Mensch nicht. Und die nächste Frage ist ja auch: Ist das gut oder schlecht?“
„Ich kenn mich nimmer aus, Oida. Ich geh wirklich bald schmusen.“
„Und was ist Gewalt überhaupt? Die fängt ja bekanntlich schon sehr früh an.“
Darius drehte sich wirklich im Kreis.
Alle drehten sich im Kreis.
Nicht nur jedes ihrer Gespräche. Und sie merkten es, wussten aber nicht, was sie dagegen machen sollten. Wenn er allein war, schien die Sache überhaupt kein Problem zu sein. Es war doch völlig klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Mit allem. Und es war auch völlig klar, dass sich deshalb alles ändern musste. Jetzt ging es nur noch um die Frage, was genau sich ändern musste. Und wer es ändern musste. Und wie es sich ändern ließ.
Darius selbst hatte da ganz klare Vorstellungen: Es musste über Bewusstwerdung gehen! Denn daran war doch alles Bisherige gescheitert. Es war nicht diese besondere Bewusstheit da, mit der jede große Veränderung einherging.
Ein neues Bewusstsein musste also her, und zwar schnell! Jetzt war er aber auch nicht blöd. Er wusste doch ganz genau, dass so ein Bewusstsein nicht einfach von einem Tag auf den anderen entstand. Sondern nur durch beharrliches Arbeiten. Und das am besten nicht allein, sondern zusammen mit Gleichgesinnten! Er war sich nur nicht ganz sicher, ob diese Bobo Jager dafür die richtigen Gleichgesinnten waren.
Waren die denn an wirklicher Veränderung interessiert?
Diese immergleiche, träge, halbherzige Nachsicht mit sich! Und die kaltherzige Ungnädigkeit mit allen anderen. Dazwischen, nach außen geheuchelt, ein unerträglich beliebiges Verstehen von allem und jedem, das immer nur auf kindischen Gefühlen und Bedürfnissen beruhte, gnadenlos und auf allen Ebenen: Wenn ich dich verstehe, musst du aber mich auch verstehen! Und nicht einmal als offenes Geständnis. Sondern als bange, feige Erwartung an die Welt.
Dieser Zeitgeist ließ nicht viel Spielraum, da war sich Darius ganz sicher. Und das spürten vielleicht auch diese Bobo Jager. So wie es jeder andere Mensch da draußen spüren musste, wenn er nicht zu jung, zu alt oder vollkommen blöde war. Das Problem war allerdings, dass die meisten zu jung, zu alt oder vollkommen blöde waren.
Natürlich konnte man sagen, es sei viel zu schwer für den Künstler, in der Gesellschaft so einen Prozess anzustoßen. Erst recht in Wien. Auch wenn Dieter immer wieder meinte, gerade in Wien sei so etwas doch viel leichter zu machen!
Wien war in jedem Fall eine Stadt der Kunst. Aber genau darin lag doch auch das Problem. Was war Kunst? Wozu diente sie? Und welche Kunst hätte Wien oder die Welt denn je verändert? Wo konnte Kunst denn überhaupt etwas ändern? Meistens war sie doch nur Ausdruck oder Ergebnis einer Veränderung! Also irgendwie doch nur hintendran?
Natürlich konnte man sagen, genau die Tatsache, dass Hitler kein besserer oder glücklicherer Postkartenmaler gewesen war, hatte leider dazu geführt, dass er sich eben etwas anderes ausgedacht hatte. Leider nicht zum Wohl der Welt.
Aber hätte eine bessere Kunst den Schrecken verhindern können?
Theresa hatte dazu meistens nur müde gemeint, dass dann eben ein anderer gekommen wäre. Und vielleicht hatte sie recht.
Trotzdem. Darius wusste, dass er gerade in Wien nicht am falschesten Platz war, wenn er als Künstler zusammen mit anderen Künstlern dafür sorgen wollte, dass von der Kunst eben nicht Faschismus, Völkermord und ein Weltkrieg ausgehen würden, sondern eine neue, friedliche und goldene Zeit! So gesehen fühlte er sich regelrecht verpflichtet, an der Welt wieder etwas gutzumachen. Gerade mit erfolglosen Künstlern zusammen! Gerade in Wien!
Eine neue Ordnung! Da wollte er dabei sein! Unbedingt.
Darius Pettrich war zutiefst davon überzeugt, dass jeder Schaffensprozess etwas zutiefst Kollektives in sich trug. Er glaubte fest daran, dass nicht Einzelne etwas aus sich heraus schöpften, sondern, dass große, entscheidende Gedanken einem bestimmten Menschen immer nur „zugedacht“ wurden, der just in diesem Moment anderen voranging. Der gerade aus irgendeinem guten Grund ganz vorne stand. Und was für eine Gnade, wenn dieser Mensch dann ein Bewusstsein dafür hatte, dass er nicht alleine war!
„Du musst dir das vorstellen wie einen Eimer Löschwasser, der durch viele Hände gereicht wird, bis ganz vorne jemand damit das Feuer löscht. Da kannst du auch nicht sagen, dieser eine Mensch hat das gelöscht, oder?“
„Und das soll jetzt heißen, dass der Beethoven seine Sinfonien gar nicht selber gelöscht hat?“
„Doch, ich glaube schon. Aber eben nicht alleine.“
Darius hatte gerade dem Kaiser Franz Joseph ans Bein gepinkelt, als er den anderen, unverhofft, nach nur dreizehnstündiger Diskussion, mitteilte, dass er nun müde im Kopf sei und jetzt ein wenig allein sein müsse. Wenn auch allein unter vielen anderen, in den Gassen, in der Innenstadt. Dort wollte er sich ein wenig die Beine vertreten, „ein paar frische Momente sammeln“.
Er liebte sich für solche Ausdrücke. Über alles.
Im grünen Dickicht kommen sie zusammen
Erst verhalten und Einzeln
Einzig schon in ihrer Art
Dann ein Raunen von immer mehr
Und da:Zischen von Lauten und Worten
Keines je gehört
Zum dritten Mal schon der Ruf
Kein Vernehmen, kein Ton in der Welt
Nur Signal und Aufbruch
Tore und Weiten stehen auf
Für den großen Tross der Eilenden
Die nehmen uns mit, uns mit,uns
So gehen viele und kommen wohl an
Kein Halten und Verharren mehr
Der Zeitenritt in vollem Gange
Karla, Anton und ein später Gast
Es war inzwischen schon ein Ritual: Sie kam spät, gegen zehn, gerade noch vor Küchenschluss, und bestellte Rehravioli mit einer Idee Blau. Die Gitti fragte nur noch der Form halber nach, wenn sie an ihren Tisch kam, vielleicht etwas widerwillig, aber immer höflich. Und Karla nickte. Lächelte. Auf diese Art, die viele bei ihr als hochnäsig erlebten. Oder undurchschaubar? Manche fanden sie auch einfach freundlich.
Dass der Wein erst dann kommen konnte, wenn sie wusste, was Anton ihr zubereitet hatte, war der Kellnerin klar. Aber das Seiterl vom Fass, das kleine Bier, das brachte sie inzwischen unaufgefordert, jedes Mal. Genauso wie das große Glas Leitungswasser. Karla trank es dazu, während sie geduldig auf das Essen wartete, ein wenig vor sich hinschaute, gelegentlich aber auch in Zeitungen oder Taschenpartituren blätterte. Gedankenverloren. Ohne etwas darin zu finden. Außer, vielleicht, eine Idee Karla.
Sie ließ sich stets Zeit beim Essen und blieb dabei am liebsten allein, meistens heilfroh, dass dieser eitle Koch sie nicht Beifall heischend beim Essen beobachtete. Üblicherweise hatte der nämlich erst die Küche aufzuräumen und picobello zu putzen, bevor er sich mit seinem Roten an Karlas Tisch setzen konnte.
Ab und an konnte sie freilich nicht verhindern, dass sich irgendein streunender Genießer näherte. Männlich, älter, vom Wein zu grotesker Selbstüberschätzung verführt. Sie blieb dann höflich, trotz ihres Ekels; im Moment wirklich keine Gesellschaft, tut mir leid, nein, später wird sich noch jemand einfinden, ein Herr, mit dem sie verabredet – natürlich. Schönen Abend. Und genoss weiter ihr kulinarisches Unikat.
Natürlich stimmte Anton die lästige Küchenputzerei an Karla-Abenden noch missmutiger als sonst, so sehr, dass er sich meist schon in der Küche einen eingoss, oder zwei. Und sich Aschenputtel oder Zwerg Nase nannte, während er Armaturen, Spülbecken, Arbeitsflächen und Gasherde schrubbte. Früher, als das alles hier noch ihm gehörte, hatte natürlich Bert sauber gemacht! Heutzutage geruhte der Parteichef am Nachmittag nur noch seine eigenen Arbeitsflächen zu reinigen und mit gnädigem Lächeln eine kleine Fuhre Gemüseabfall hinauszutragen. Fertig.
Heute war alles ein wenig anders. Die letzte Nacht hing dem Koch schwer in den Gliedern. Und er war auf so seltsame Art – nicht allein? Sein ganzer Tag war von dieser letzten Nacht gemacht worden, von ihren Bildern und Gerüchen. Viele unbekannte Gefühle. Oder nur unerwünschte? Es lag nicht am Alkohol, gar nicht. Am gestrigen Abend hatte er doch nur ein Glas beim Küchenputzen getrunken, war dann früh nach Hause und sofort ins Bett gegangen.
Und hatte wirklich geträumt!
Er träume nie, hätte er sonst gesagt. Aber natürlich träumte jeder Mensch. Jede Nacht, und das andauernd. Die Frage war nur: Was blieb? Was war so geträumt, dass es seinen Weg fand, zum Tages-Anton? So gesehen hatten ja die allermeisten Träumer keine großen Aussichten. Aber Anton hatte bisher gar keine gehabt.
Und doch. Er hatte geträumt! Und er erinnerte sich.
Wasser. Ganz viel Wasser. Und viel Geschrei. Ein Krieg, ein Kampf. Eine Schlacht war da im Gange gewesen. Eisige Kälte. Und das Wasser, in das seine Leute getrieben worden waren, sogar noch kälter – immer mehr von ihnen waren darin ersoffen und verblutet. Man hatte ihm im Kampf einen Finger abgehackt, wahrscheinlich schon einen Tag zuvor, den Schmerz spürte er aber gar nicht. Und dann, als er nur noch mit neun Fingern gekämpft hatte, da sah es nicht gut aus für ihn und seine Leute.
Centurio!
Er hörte jemanden hinter sich ganz laut schreien.
Centurio!
Dass man sich auch in Unterzahl mit seinen Feinden schlug, war ihm vertraut. Aber dass dieser Feind tatsächlich den Sieg erringen sollte? Mit einer ganz einfachen Finte? Diese Klippen! Ein kleiner, verschlagener Hinterhalt nur. Vor ihnen und rechts und überall. Klippen, wie Hochhäuser! Und links der einzige Ausgang aus diesem Irrweg: das kalte, salzige Nordmeer.
Dieses Meer war kein Ort des Lebens, war nicht umfangend, nicht zärtelnd wie zu Hause, im Süden. Sondern grausam und klar.
Er sah die rotgefärbten, kleinen Wellen, die gleichgültig seine Kameraden gefressen hatten, einen nach dem anderen. Mit dem Lederharnisch, dem weinroten Umhang und den Eisenbeschlägen viel zu schwer, um über Wasser zu bleiben. Jeder Einzelne. Hier war nichts zu machen gewesen, und er war verantwortlich. Schuld. Das würde bestraft werden. Er wusste, wie so etwas endete. Am Kreuz, ganz sicher, Centurio. Am Kreuz.
Dann die Schlussrunde. Es war stets der gleiche Tanz.
Der letzte Tisch zahlte, Gitti machte die Abrechnung, Anton übernahm gütig nickend den Sperrdienst, und endlich saßen er und Karla allein im roxane & freunde. Im Fenster hing „Geschlossen“.
Wie kindisch er es in diesen Augenblicken immer genoss, allein Hof zu halten! Seine Küche. Seine Eroberung. Alles seins. Weil absolut kein Zweifel daran bestehen konnte, wer hier die Fäden zusammenhielt, wer hier die Attraktion war. Anton. König der Köche in Wien!
Kerzenlicht reichte. Das Wesen des Raumes und seine beiden nächtlichen Genossen leuchteten dann, ganz leise, jeder für sich. Ob rot oder weiß, immer war es der gleiche Wein, den sie tranken. Anton liebte die beiden Sorten eben, fertig. Alles natürlich nicht zu knapp, und in letzter Zeit beinahe einmal die Woche! Karla hatte nicht genug Geld für sowas. Aber das war ja auch gar nicht nötig.
Anton war heute nicht ganz da. Die vergangene Nacht sendete einen Funkspruch nach dem anderen.
Centurio!
Hatte er denn fliegen können, im Traum? Oder sich einfach zweiteilen? Das war doch alles kaum zu begreifen! Und doch. Einer war er dort unten gewesen, am Rande des Meeres wie ein wilder Eber kämpfend, zusammen mit all seinen krepierenden, ersaufenden Männern. Aber dort oben, noch weit hinter den herandrängenden Horden von viehischen Dreinschlagern, war plötzlich ebenfalls er herangeritten, schreiend und mit vielen anderen! Und wie er so als gnadenloser Sturm über den Feind kam, dieser Centurio, mit all seinen Pferdemännern hinter ihm, da war Hoffnung! Da wurden all diese Barbaren zermalmt. Zwischen ihm und ihm. Centurio! So hatten sie also doch noch gesiegt, alle beide?




