Religionsbegründung ohne Erkenntnis Gottes

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In Abschnitt 1.2 haben wir darauf hingewiesen, dass das ens realissimum als omnitudo realitatis nicht dem Inbegriff aller möglichen Prädikate gleich ist, weil jenes die abgeleiteten und nicht nebeneinanderstehenden Prädikate ausschließt. Obwohl Kant zu glauben scheint, dass die Beziehung zwischen allen Dingen und Gott eine zwischen dem Teil und dem Ganzen ist, korrigiert er bald seine Meinung: „Die Ableitung aller anderen Möglichkeit von diesem Urwesen wird daher, genau zu reden, auch nicht als eine Einschränkung seiner höchsten Realität und gleichsam als eine Theilung derselben angesehen werden können; denn alsdann würde das Urwesen als ein bloßes Aggregat von abgeleiteten Wesen angesehen werden. […] Vielmehr würde der Möglichkeit aller Dinge die höchste Realität als ein Grund und nicht als Inbegriff zum Grunde liegen und die Mannigfaltigkeit der ersteren nicht auf der Einschränkung des Urwesens selbst, sondern seiner vollständigen Folge beruhen.“23 Daher ist die Beziehung zwischen Gott und allen Dingen die zwischen dem Grund und der Folge und nicht die zwischen dem Ganzen und dem Teil. Das ens realissimum als Ideal nennt Kant auch Prototypon transzendentale, wie die Überschrift dieses Abschnitts zeigt. Kants Erklärung dafür lautet: „das Ideal ist ihr also das Urbild (Prototypon) aller Dinge, welche insgesamt als mangelhafte Copeien (ectypa) den Stoff zu ihrer Möglichkeit daher nehmen.“24 Dieser von Platon entlehnte Begriff drückt die Beziehung zwischen allen Dingen und Gott besser aus: alle Dinge haben an der Realität des entis realissimi teil, und die Materie der Möglichkeit aller Dinge leitet sich vom transzendentalen Ideal ab, gewinnt ihre Realität davon und wird als Folge daraus betrachtet.
(3) Oben haben wir gesehen, dass Gott als das ens realissmum das Substratum der Materie der Welt ist. Zudem drückt Kant die Meinung aus, dass Gott auch als Substratum der Form der Welt betrachtet werden kann, jedoch aus einer anderen Perspektive: Gott ist die höchste Intelligenz. Am Anfang von Abschnitt 1.1 haben wir schon einen Absatz aus der KrV wie folgt zitiert: „Ist endlich drittens die Frage, ob wir nicht wenigstens dieses von der Welt unterschiedene Wesen nach einer Analogie mit den Gegenständen der Erfahrung denken dürfen: so ist die Antwort: allerdings, aber nur als Gegenstand in der Idee und nicht in der Realität, nämlich nur so fern er ein uns unbekanntes Substratum der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung ist, welche sich die Vernunft zum regulativen Princip ihrer Naturforschung machen muß.“25 In dieser Passage sagt Kant deutlich, dass die Idee Gottes „ein uns unbekanntes Substratum der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung ist“. Die systematische Einheit der Welt ist gerade die Form der Welt.
An dieser Stelle ist noch zu erwähnen, dass es für Kant zwei verschiedene Formen der Dinge gibt: die Form des Individuums und die Form als Beziehung zwischen Individuen. Wir haben die folgende Passage zitiert: „auch wurde in Ansehung der Dinge überhaupt unbegrenzte Realität als die Materie aller Möglichkeit, Einschränkung derselben aber (Negation) als diejenige Form angesehen.“26 Diese Form ist Einschränkung der umgrenzten Realität, oder ist die Form des Individuums.27 Doch was hier mit der Form hinsichtlich der weltlichen Einheit gemeint ist, das ist nicht die Form des Individuums. Was im Zentrum steht, ist die Form zwischen Individuen, nämlich die systematische Einheit der Welt, die die Beziehung zwischen Individuen bezeichnet. Um dies besser zu verstehen, lohnt sich ein erneuter Blick in die nova dilucidatio. Neben dem ontotheologischen Beweis in PROP. VII bietet Kant noch einen anderen in PROP. XIII an, in dem das Principium coexsistentiae diskutiert wird: „Substantiae finitae per solam ipsarum exsistentiam nullis se relationibus respiciunt, nulloque plane commercio continentur, nisi quatenus a communi exsistentiae suae principio, divino nempe intellectu, mutuis respectibus conformatae sustinentur.“28 Folglich nimmt Kant an, dass nur durch die göttliche Intelligenz (divino intellectu) die wechselseitigen Beziehungen zwischen den endlichen Substanzen entstehen. Diese Tatsache führt Kant zu einem Plädoyer für das Dasein Gottes: „Cum ergo, quatenus substantiarum singulae independentem ab aliis habent exsistentiam, nexui earum mutuo locus non sit, in finita vero utique non cadat, substantiarum aliarum causas esse, nihilo tamen minus omnia in universo mutuo nexu colligata reperiantur, relationem hanc a communione causae, nempe Deo, exsistentium generali principio, pendere confitendum est.“29 Denn die Gemeinschaft aller Substanzen setzt voraus, dass Gott als die höchste Intelligenz existiert. Doch in der KrV bestimmt Kant die Beziehung zwischen den Substanzen als systematische Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit, die Gott als die höchste Intelligenz (wenigstens als die Idee der höchsten Intelligenz) voraussetzt, nämlich dass Gott als die höchste Intelligenz auch das Substratum der systematischen Einheit der Welt ist.
In Abschnitt 1.4 haben wir versucht, die transzendentalen und aposteriorischen Methoden in eine Einheit zu bringen. Anhand der vorkritischen Schriften und der kantischen Naturforschung haben wir aufgezeigt, dass die Ideen von Gott als das ens realissimum und von Gott als höchste Intelligenz miteinander verbunden sind. Beide bezeichnen Gott als Substratum, doch Gott als das ens realissimum ist transzendentales Substratum im Sinn der Materie der Welt, und Gott als die höchste Intelligenz funktioniert als das Substratum der Form, nämlich der systematischen Einheit der Welt. Deswegen ist in der kantischen Philosophie Gott das Substratum für die Materie und für die Form der Welt.
2 Der Mangel an Gewissheit der Existenz Gottes
Im 1 Kapitel haben wir bereits verdeutlicht, dass es für Kant zwei Möglichkeiten gibt, Gott zu denken: durch die apriorische und transzendentale Methode wird Gott als ens realissimum verstanden, durch die aposteriorische und analogische Methode als die höchste Intelligenz. In Hinsicht auf die Beziehung zwischen Gott und der Welt ist Gott das Substratum aller Dinge der Welt. Die erste Methode betrachtet Gott als die Materie der Möglichkeit aller Dinge. Die letztere betrachtet Gott als die Grundlage der Verbindung aller Dinge, oder der systematischen Einheit (d.h. der Form).
Wir glauben, dass sowohl Kants Widerlegung der drei traditionellen Gottesbeweise als auch seine positive Betrachtung des Gottesideals als regulatives Prinzip auf die oben geklärte Grundlage zurückgeführt und dadurch verstanden werden müssen. So besteht der hauptsächliche Einwand gegen den ontologischen Beweis darin, dass er die Existenz Gottes aus dem Begriff des entis realissimi herleitet. Dies ist für Kant unmöglich. Allerdings lehnt er den Begriff des entis realissimi selbst nicht ab. Obwohl Kant exemplarisch den physikotheologischen Beweis kritisiert, verbindet er einige der Kerngedanken der Physikotheologie mit dem regulativen Prinzip. Mit anderen Worten, Kant bestreitet nicht die durch die drei traditionellen Beweise anerkannte Idee Gottes, sondern er bestreitet lediglich, dass die Existenz Gottes aus der Gottesidee unmittelbar hergeleitet werden könne. Allerdings können die Eigenschaften Gottes durch die drei traditionellen Beweise bestimmt werden. Auf dieselbe Weise hat Kant postuliert, dass Gott das ens realissimum und die höchste Intelligenz ist, doch gleichzeitig plädiert er dafür, dass ein dadurch erkannter Gott nicht mit Sicherheit als existierend bewiesen werden könne. Kant wird nicht müde zu betonen, dass ein solcher Gott nur eine Idee ist, da er an sich unbekannt ist. Deshalb wird in diesem Kapitel die Frage nach der Gewissheit der Existenz Gottes diskutiert.
In diesem Kapitel wird gezeigt, dass Kant die Gewissheit der Existenz des allerrealsten Wesens (des entis realissimi) leugnet, obwohl er in seiner vorkritischen Periode derartige Behauptungen aufgestellt hat (2.1). Danach wird Gott als die höchste Intelligenz, die durch die aposteriorische und empirische Analogie erkannt wird, analysiert. Es wird auch festgestellt, dass die Gewissheit der Existenz dieser höchsten Intelligenz nicht garantiert ist (2.2). Anschließend kommen wir zur Erkenntnis, dass diese beiden Methoden, Gott zu denken, Kant zufolge die Existenz Gottes nicht erweisen können. Gleichzeitig gibt es keinen Grund, die Existenz Gottes zu leugnen. Daher ist für Kant die endgültige Gewissheit der Existenz Gottes fragwürdig (2.3). Diese Schlussfolgerung gilt als Grundlage für das 3. Kapitel, in dem deutlich wird, dass Kant die Gewissheit der Existenz Gottes in einer freien Ordnung (durch Moralität) wieder festgestellt hat.
2.1 Das „ens realissimum“ ist subjektiv notwendig
In der Erörterung von Kapitel 1 haben wir gesehen, dass Kant der Existenz des allerrealsten Wesens immer misstrauisch gegenübersteht. Kant übernimmt das durchgängige Prinzip von Baumgarten, aber bei Baumgarten hat dieses Prinzip eine doppelte Funktion: als Prinzip von Individualität und von Existenz.1 Kant wendet das durchgängige Prinzip nur als das Prinzip der Individualität an. Nachdem er im 2. Abschnitt des Theologie-Hauptstückes die Tatsache festgehalten hat, dass das ens realissimum der Gegenstand der transzendentalen Theologie ist, kritisiert er sofort die Annahme der Existenz dieses Wesens aus der kritisch-philosophischen Perspektive. Diese Kritik zielt auf den gesamten Rahmen seiner Kritik am ontologischen Beweis, obwohl sie noch nicht aus dem metaphysischen Prinzip „Sein ist kein reales Prädikat“ abgeleitet wird.
In diesem Abschnitt werden wir zunächst in 2.1.1 Kants oben genannte Kritik veranschaulichen und darauf hinweisen, wie er über das transzendentale Ideal Gottes aus der Perspektive der kritischen Philosophie diskutiert. Da der Begriff des entis realissimi eng mit dem vorkritischen Beweisgrund verbunden ist, wird die Beziehung zwischen dem Beweisgrund und dem 2. Abschnitt des Theologie-Hauptstückes in 2.1.2 untersucht und analysiert. Schließlich werden wir in 2.1.3 das Konzept der Notwendigkeit verdeutlichen, um das Problem der Existenz des entis realissimi besser zu verstehen.
2.1.1 Eine Rekonstruktion des „entis realissimi“ aus der Perspektive der kritischen Philosophie
In Abschnitt 1.2 haben wir dargelegt, wie Kant, ausgehend vom durchgängigen Prinzip, das ens realissimum abgeleitet hat. Wir möchten darauf hinweisen, dass Kants Argumentation bisher nicht auf seiner kritischen Philosophie beruht, sondern auf einer Metaphysik, die offenbar den Charakter der vorkritischen Periode trägt. Später verwendet Kant nicht nur die kritische Philosophie als Waffe und enthüllt die Herkunft des entis realissimi aus der Erfahrung, sondern er weist auch darauf hin, dass die Realisierung, Hypostasierung und Personifizierung dieses Ideals nicht zulässig sind. Obwohl dieses Ideal eine natürliche und unvermeidbare Illusion (Schein) ist, setzt es seine objektive Existenz nicht voraus. Kant glaubt, dass es nötig ist, die Quelle dieser Illusionen aufzudecken. Daher führt Kant in den Paragraphen 16 bis 18 eine andere Interpretation vom enti realissimo aus, die auf der Einsicht beruht, die Kant in der Grundlage der transzendentalen Analytik erhalten hat. In ähnlicher Weise können Kants deduktive Schritte in drei Teile unterteilt werden:
(a) Die Möglichkeit der sinnlichen Gegenstände erfordert die Materie (die Realität) der Gegenstände in der Erscheinung. Gemäß dem Ergebnis der transzendentalen Analytik bietet unser Denken und unser Verstand der Erkenntnis die Formen a priori (Kategorien), und die Gegenstände die Materie der sinnlichen Mannigfaltigkeit. Daher drückt die Erkenntnis eine Beziehung zwischen den Gegenständen und dem Denken aus: ihre Form ist apriorisch aus dem Verstand, und das, was als ihre Materie gilt, muss in der Erscheinung gegeben werden und wird von Kant als „realitas phaenomenon“ bezeichnet. Dies bedeutet, dass die Möglichkeit der sinnlichen Gegenstände auf der Realität in der Erscheinung basieren muss. Alle diese Behauptungen lassen sich vollständig aus der transzendentalen Analytik ableiten. (b) Kant diskutiert weiter über den Inbegriff von der Materie der Möglichkeit aller sinnlichen Gegenstände. Kant weist darauf hin:
Nun kann ein Gegenstand der Sinne nur durchgängig bestimmt werden, wenn er mit allen Prädicaten der Erscheinung verglichen und durch dieselbe bejahend oder verneinend vorgestellt wird. Weil aber darin dasjenige, was das Ding selbst (in der Erscheinung) ausmacht, nämlich das Reale, gegeben sein muß, ohne welches es auch gar nicht gedacht werden könnte; dasjenige aber, worin das Reale aller Erscheinungen gegeben ist, die einige allbefassende Erfahrung ist: so muß die Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne als in einem Inbegriffe gegeben vorausgesetzt werden, auf dessen Einschränkung allein alle Möglichkeit empirischer Gegenstände, ihr Unterschied von einander und ihre durchgängige Bestimmung beruhen kann.1
Ähnlich wie der Prozess in den Paragraphen 1–15 wird die durchgängige Bestimmung eines sinnlichen Gegenstandes im Vergleich mit allen Prädikaten der Erscheinung durchgeführt. Dies setzt voraus, dass das Reale aller Erscheinungen gegeben sein muss. Daraus folgt: „[…] so muß die Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne als in einem Inbegriff gegeben vorausgesetzt werden.“
(c) Jetzt scheint das Reale aller Erscheinungen als ein Ding betrachtet zu werden. Allerdings nimmt Kant dazu kritisch Stellung:
Nun können uns in der That keine anderen Gegenstände als die der Sinne und nirgend als in dem Context einer möglichen Erfahrung gegeben werden, folglich ist nichts für uns ein Gegenstand, wenn es nicht den Inbegriff aller empirischen Realität als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt. Nach einer natürlichen Illusion sehen wir nun das für einen Grundsatz an, der von allen Dingen überhaupt gelten müsse, welcher eigentlich nur von denen gilt, die als Gegenstände unserer Sinne gegeben werden. Folglich werden wir das empirische Princip unserer Begriffe der Möglichkeit der Dinge als Erscheinungen durch Weglassung dieser Einschränkung für ein transscendentales Princip der Möglichkeit der Dinge überhaupt halten.2
Auf der Grundlage der kritischen Philosophie können nur die Gegenstände der Sinne uns gegeben werden. Deswegen kann der Inbegriff aller empirischen Realität nur als Voraussetzung oder Bedingung der sinnlichen Gegenstände betrachtet werden. Das bedeutet, dass der Begriff des entis realissimi durch den unzulässigen Gebrauch der Vernunft hervorgebracht wird.3 In diesem Zitat weist Kant deutlich darauf hin, dass sich das empirische Prinzip der Möglichkeit der sinnlichen Gegenstände von dem transzendentalen der Möglichkeit der Dinge überhaupt unterscheidet. Das eine beschränkt sich immer auf das Gebiet der Erfahrung. Im Gegensatz dazu ist das andere transzendental, d.h. es ist eine Erweiterung hin zur Möglichkeit der Dinge überhaupt bzw. der übersinnlichen Dinge. Deswegen versteckt sich im enti realissimo, das aus Passage 1–15 abgeleitet ist, eine Illusion aufgrund „der Weglassung dieser Einschränkung“. Diesen Unterschied kommentiert Anneliese Maier wie folgt: „wir haben gesehen, dass und in welcher Weise sich auf dem Standpunkt der Dissertation der alte Begriff der realitas differenziert hat: das realitas phaenomenon wurde zum Empfindungsgegebenen, die realitatis noumenon blieb das bejahende Prädikat, das den Dingen selbst wahrhaft innewohnt und in seinem höchstmöglichen Grad Gott zukommt, und repräsentierte damit recht eigentlich den ursprünglichen ontologischen Realitätsbegriff.“4 D.h. nur wenn wir die Realität als realitas noumenon betrachten, kann auf ein ens realissimum geschlossen werden. Allerdings kann die Realität, die die Möglichkeit der sinnlichen Gegenstände bildet, nur die realitas phaenomenon sein.
Kant hat jedoch in der kurzen Diskussion nicht angegeben, ob „der Inbegriff der Materie der Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne“ der Summe der Realitäten in der Erscheinung gleich ist, oder ob die Prädikate, die abgeleitet werden und die miteinander nicht koexistieren können, ausgeschlossen werden müssen. Er erklärt auch nicht, ob „der Inbegriff der Materie der Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne“ das Ideal des entis realissimi ist. Es wurde bereits festgestellt, dass es eine Ähnlichkeit gibt zwischen den Arten, wie Kant auf das ens realissimum in den Paragraphen 1–15 und auf einen Inbegriff der Materie der Möglichkeit aller sinnlichen Gegenstände in den Paragraphen 16-18 schließt. Allerdings besteht das Hauptziel der Paragraphen 16–18 darin, nichts als die Quelle der transzendentalen Illusion aufzudecken. Kant ist der Auffassung, dass diese Illusion im Wesentlichen in der Aufhebung der Grenzen der Erfahrung begründet ist. Diese Illusion entsteht, weil wir die auf die Erscheinung angewendeten Kategorien auf die übersinnlichen Dinge bzw. auf das Ding an sich anwenden. Kant nennt diesen Prozess „transzendentale Subreption“5.
Obwohl wir die in den Passagen 16–18 ausgedrückte Kritik am Gottesbegriff aus der kritischen Perspektive erklärten, wurde deutlich, dass Kant seine Kritik am Begriff eines entis realissimi schon in den Paragraphen 1–15 durchgeführt hat. So sagt er beispielsweise, dass das ens originarium, ens summum und ens entium „nicht das objective Verhältniß eines wirklichen Gegenstandes zu anderen Dingen“, sondern „der Idee zu Begriffen“ bedeuten, und „uns wegen der Existenz eines Wesens von so ausnehmendem Vorzuge in völliger Unwissenheit“ lassen.6 Daraus ergibt sich die Frage, wie man diese Behauptung verstehen soll. Kann sie nur als Kritik aus der Perspektive der kritischen Philosophie verstanden werden? Um dies zu klären, wird die Beziehung zwischen dem transzendentalen Ideal (dem enti realissimo) und dem Gottesbeweis im Beweisgrund dargelegt.
2.1.2 Der Gottesbeweis im „Beweisgrund“ und das transzendentale Ideal
Der Leitfaden des Gottesbeweises im Beweisgrund kann so formuliert werden: Ausgehend von der Möglichkeit der Dinge überhaupt wird auf das ens realissimum geschlossen. Obwohl Kant im 2. Abschnitt des Theologie-Hauptstückes den gesamten Ableitungsprozess mit der vollständigen Erkenntnis der Dinge beginnt,1 hat er sich an die Grenzen der Erkenntnistheorie nicht streng gehalten. Peter Rohs behauptet, dass der Inbegriff aller möglichen Prädikate nicht zum enti realissimo führt, da das vollständige Erkennen der Dinge nichts mit dem Begriff der Theologie (dem enti realissimo) zu tun hat: „zur Idee vollständiger Erkenntnis gehört die Idee einer vollständigen Menge möglicher Prädikate, aber nicht die eines ens realissimum.“2 Dies ist tatsächlich das Ergebnis einer irrtümlichen Begrenzung des Ableitungsprozesses des allerrealsten Wesens im epistemologischen Kontext. Peter Rohs ist einer der wenigen Forscher, die die Wichtigkeit des Prinzips der durchgängigen Bestimmung bemerken. Rohs begrenzt sich allerdings auf den epistemologischen Zweck des vollständigen Erkennens der Dinge. Außerdem ignoriert er die enge Beziehung zwischen dem enti realissimo und dem Gottesbeweis im Beweisgrund. Um die Kritik an der Vorstellung eines allerrealsten Wesens (eines entis realissimi) in den Paragraphen 1–15 zu verstehen, ist es notwendig, dass wir den Gottesbeweis im Beweisgrund zuerst genau betrachten.
Der Beweisgrund beginnt mit der Möglichkeit der Dinge. Kant teilt die Möglichkeit der Dinge nach Form und Materie ein: Die Möglichkeit hinsichtlich der Form unterwirft sich dem Gesetz des Widerspruchs, und die Möglichkeit in Bezug auf die Materie hängt von der Realität ab. Kants nächstes Argument befasst sich hauptsächlich mit der Möglichkeit der Dinge auf Seiten der Materie, die auf einem Realen (einem realiae) basiert. Da es sich beim Realen eigentlich um Materie der Möglichkeit der Dinge handelt, würden alle Möglichkeiten aufgehoben, wenn das Reale aufgehoben würde:
„Nun geschieht dieses durch die Aufhebung alles Daseins, also wenn alles Dasein verneint wird, so wird auch alle Möglichkeit aufgehoben. Mithin ist schlechterdings unmöglich, daß gar nichts existire.“3
D.h. solange es irgendeine Möglichkeit gibt, gibt es ein Reales. Daraus ergibt sich, dass es irgendein Reales gibt. Anschließend legt Kant die Beziehung zwischen der Möglichkeit der Dinge und der realen Sache fest: „diese Beziehung aller Möglichkeit auf irgendein Dasein kann nun zwiefach sein. Entweder das Mögliche ist nur gedanklich, in so fern es selber wirklich ist, und dann ist die Möglichkeit in dem Wirklichen als eine Bestimmung gegeben; oder es ist möglich darum, weil etwas anders wirklich ist, d.i. seine innere Möglichkeit ist als eine Folge durch ein ander Dasein gegeben.“4 Das erste bezieht sich auf die Beziehung zwischen der Möglichkeit und einem konkreten Ding, wie das Denken die Bestimmung des Subjekts ist; das zweite bezieht sich auf das Verhältnis der Möglichkeit der Dinge zu einem Wesen, das alle Realitäten enthält. Offensichtlich konzentriert sich Kant auf das letztere. Kant zufolge gibt es ein Wesen, das der Realgrund aller Möglichkeiten ist. In der anschließenden Untersuchung definiert Kant dieses Wesen als ein schlechterdings notwendiges Wesen (das ens necessarium). Der Grund für diese Definition liegt darin, dass es als Realgrund aller Möglichkeiten absolut notwendig ist: „schlechterdings nothwendig ist, dessen Gegentheil an sich selbst unmöglich ist.“5 Kant fasst diesen Prozeß folgendermaßen zusammen:
„Alle Möglichkeit setzt etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denkliche gegeben ist. Demnach ist eine gewisse Wirklichkeit, deren Aufhebung selbst alle innere Möglichkeit überhaupt aufheben würde. Dasjenige aber, dessen Aufhebung oder Verneinung alle Möglichkeit vertilgt, ist schlechterdings nothwendig.“6
Das heißt, alle Möglichkeiten beruhen auf der Existenz eines entis necessarii, das also nicht ohne Existenz sein kann, sonst würden alle Möglichkeiten verneint. Deshalb muss es notwendig existieren. Danach weist Kant darauf hin, dass dieses ens necessarium einig, einfach, unveränderlich und ewig ist, und dass es die höchste Realität enthält. Es besteht kein Zweifel, dass es Gott ist. Das ist Kants letzte Schlussfolgerung.7
Wir bemerken, dass hier auf das ens necessarium geschlossen wird, zu welchem die höchste Realität als seine Eigenschaft gehört. Umgekehrt wird aber im 2. Abschnitt des Theologie-Hauptstückes auf das ens realissimum geschlossen, als dessen Prädikat die Notwendigkeit betrachtet wird. Aus diesem Grund gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden. Allerdings erinnert der Gottesbeweis im Beweisgrund uns an den kosmologischen Beweis im 3. Abschnitt des Theologie-Hauptstückes:
„Der kosmologische Beweis, den wir jetzt untersuchen wollen, behält die Verknüpfung der absoluten Nothwendigkeit mit der höchsten Realität bei; aber anstatt wie der vorige von der höchsten Realität auf die Nothwendigkeit im Dasein zu schließen, schließt er vielmehr von der zum voraus gegebenen unbedingten Nothwendigkeit irgend eines Wesens auf dessen unbegränzte Realität […]“8
D.h. der 2. Abschnitt des Theologie-Hauptstückes deckt die Illusion auf, „von der höchsten Realität auf die Nothwendigkeit im Dasein zu schließen“. Im Vergleich dazu ist der Denkprozess im Beweisgrund dem kosmologischen Beweis ähnlich, welcher von der absoluten Notwendigkeit auf die höchste Realität schließt. Daher hat Dieter Henrich mit Nachdruck darauf hingewiesen: „der einzig mögliche Beweisgrund ist ursprünglich ein Beweis vom Dasein des notwendigen Wesens. Seiner ganzen Anlage und systematischen Stellung nach ist er der Versuch einer Antwort auf das Problem des kosmologischen Grundbegriffes.“9 Daneben erweitert Dieter Henrich diese Schlussfolgerung und sagt: „der Beweis aus dem Vernunftideal der omnitudo realitatis ist nur der Beweis von Gottes Existenz. Die klassischen Beweise und vor allem der ontologische sind aber zugleich von dem kosmologischen Problem des ‚ens necessarium‘ bestimmt.“10 Mit anderen Worten, der Beweisgrund und die traditionellen Gottesbeweise drehen sich um das Konzept des entis necessarii. Im Vergleich dazu führt das ens realissimum, das im 2. Abschnitt des Theologie-Hauptstückes abgeleitet ist, nicht dazu, dass es notwendig existieren muss. Dieter Henrich macht jedoch nicht klar, welcher Unterschied zwischen der reinen Existenz und dem notwendigen Dasein besteht, denn Kant sagt auch: „Es versteht sich von selbst, daß die Vernunft zu dieser ihrer Absicht, nämlich sich lediglich die nothwendige durchgängige Bestimmung der Dinge vorzustellen, nicht die Existenz eines solchen Wesens, das dem ideale gemäß ist […] voraussetze“.11 Aus diesem Zitat ergibt sich, dass Kant die Grenze zwischen der Existenz und dem notwendigen Dasein verdeutlicht hat. Wir müssen Dieter Henrichs Urteil möglichst genau analysieren. Er behauptet: „Die Fehler des Beweises vom Jahre 1763 ist dem analog, den die Kritik der reinen Vernunft aufdeckt: Was nur subjektive Gültigkeit für die Möglichkeit des Denkens hat, wird hypostasiert zum Prinzip aller Dinge.“12 Henrich scheint zu sagen, dass das Ideal des entis realissimi nur eine subjektive Gültigkeit hat, dagegen wollen der Beweisgrund und die traditionellen Gottesbeweise darstellen, dass dieses Ideal notwendigerweise objektiv existiert.