Elfenzeit 6: Zeiterbe

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London lag immer noch in dichten Dunst gehüllt. Das Atmen fiel ihm schwer. Die Laternen, die eine nach der anderen angezündet wurden, verstreuten ihr diffuses, milchig gelbes Licht über Straße und Bordstein und spiegelten sich in den verwinkelten Fenstern der Häuser.
Das Leben hatte sich an diesem trüben Freitag bereits nach drinnen verlagert. Familien saßen am Abendbrottisch, die Schwerenöter in den Bars und Bordellen und die Halunken und Bettler irgendwo in den Gebäudeeingängen und Abwasserkanälen.
Edmond erwog abermals, für den Rückweg eine Kutsche zu nehmen. Doch als er nach einer Ausschau hielt, war weit und breit keine in Sicht. Also marschierte er müde und ausgelaugt den Weg zu Fuß zurück zu seiner Wohnung.
Mistress Delainy, die Vermieterin seines Arbeitsdomizils, schien einmal mehr in ihrem Sessel am Kamin zu sitzen und zu stricken. Ihre Silhouette zeichnete sich trotz des dünnen Vorhangs dunkel vor der Lampe ab. Die restlichen Fenster waren dunkel.
Als Edmond seinen Schlüssel aus der Hosentasche fischte, erklang ein Poltern. Eine Ratte huschte den Bordstein entlang. Nur eine Ratte, dachte er erleichtert. Dann hörte er die Schritte. Schritte von mehreren Personen, die schneller wurden.
Instinktiv drehte Edmond sich um und zuckte zurück, als ein Holzknüppel knapp an seinem Kopf vorbei schwang.
»Verdammt!« Er keuchte vor Schreck auf, wankte einige Meter rückwärts, drückte die Tasche fest an den Körper und riss den freien Arm in die Höhe, um einen möglichen zweiten Schlag abzuwehren.
Stattdessen erwischte ihn ein tief angesetzter Fausthieb in den Magen, bevor er den Angreifer überhaupt kommen sah. Schwarz gekleidete Gestalten. Zwei, vielleicht drei. Ihre Mäntel blähten sich, während sie herumwirbelten, um zu einer neuen Attacke anzusetzen.
Edmond stieg der beißende Geruch von Ruß und Schmieröl in die Nase. Sie hatten sich getarnt. Deshalb erkannte er keine Gesichter. Das hier waren keine Trunkenbolde, die auf Streit aus waren. Dies war ein Angriff mit Vorsatz. Ein geplanter Überfall, der ihm galt. Ihm ganz allein.
Edmond fühlte pure Panik. Er war kein Kämpfer. Kein Soldat. War er nie gewesen. Seine Welt bestand aus Zahlen und Papier. Mühsam richtete er sich auf. Die Tasche hatte er nach dem Magenschwinger fallen gelassen. Seine Unterlagen. Er wollte danach greifen, sein Werk und sich selbst in Sicherheit bringen. Der Hauseingang war nur noch wenige Meter entfernt. Doch ein weiterer Schlag mit dem Prügel ließ ihn kopfüber zu Boden stürzen.
Abermals erklangen Schritte. Dann zerriss ein Schuss den nächtlichen Dunstschleier.
3.
La Porte des Secrets
Paimpont
David warf sich in seiner Unterwäsche auf das Hotelbett, drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Noch etwas länger und wir wären bei diesem Regenguss im Stehen ertrunken.«
»Gern geschehen«, gab Rian schnippisch zurück, während sie seine und ihre Sachen in dem kleinen Badezimmer verteilte, um sie trocknen zu lassen.
»Ernsthaft. Noch eine halbe Stunde länger, und mir wären die Ohren geschmolzen bei so viel Süßholzraspelei. Er wäre die perfekte Besetzung für eine dieser Soap-Operas im Fernsehen.« David bewegte die Augenbrauen mehrmals hoch und runter.
»Du meinst solche, die du dir mit mir zusammen so gern anschaust?«, konterte seine Schwester.
»Nur, um etwas von deinem ewig währenden Süßigkeitenvorrat abzubekommen«, erwiderte er schmunzelnd und schleuderte Rian ein Kissen in den Rücken.
»Hey! Die Kissenschlacht spar dir lieber für dich und Nadja auf.« Kaum ausgesprochen, gefror Rian in der Bewegung und drehte sich dann langsam zu ihm um. »Entschuldige, das war wohl etwas gedankenlos von mir.«
Davids Herz krampfte sich zusammen, doch er mimte den Starken und zuckte mit den Achseln. »Du hast ja recht. Sobald wir sie gefunden und sicher zurückgebracht haben, werde ich sie in mein Bett zerren und nie wieder hinauslassen.«
»Chauvinist.« Rian mühte sich um ein Lächeln. Doch auch sie vermisste unübersehbar ihre beste Freundin und machte sich große Sorgen um sie.
Trotz des nagenden Gefühls, weil sie Nadja nicht selbst suchen gingen, sondern es Fabio überließen, entschieden sie, den Abend und die Nacht im Ort zu verbringen und erst am folgenden Tag bei hoffentlich besserem Wetter zum See von Nimue aufzubrechen. So wie die Blaue Dame es ihnen ausgerichtet hatte.
Rian schlug vor, sich mit etwas trockeneren Klamotten einen großen Café au Lait zu gönnen und danach die Umgebung zu erkunden, bevor es dunkel wurde.
Eine gute Idee, fand David. Und das nicht nur, weil er sich immer noch fragte, was für ein Tier er vorhin am Waldrand gesehen hatte. War es nur ein Trugbild gewesen? Oder ein Feentier, das Nadja geschickt hatte? Solchen Geschöpfen war es möglich, frei zwischen den Welten zu wechseln. Und sie waren vornehmlich weiß. Genau wie das, was David gesehen hatte. Oder zumindest glaubte, gesehen zu haben. Doch dann wäre es wohl kaum davongelaufen. Viel wahrscheinlicher war eine Reflexion der zahlreichen Blitze, die sich am Himmel wie ein Adergeflecht fortgepflanzt hatten. Oder?
Die Ungewissheit trieb David zusammen mit seiner Schwester hinaus auf die Straße. Das Café Librairie lag nur wenige Schritte entfernt die Rue du Général de Gaulle entlang. Ein kleiner verschwiegener Laden mit einer breiten Schaufensterfront und zwei einfachen Holztischen draußen an der Straße.
Rian war sofort hellauf begeistert, als sie einen Blick ins Innere warf. »Schau doch, es ist gleichzeitig eine Boutique!«
David verdrehte die Augen und folgte nur widerwillig. Manchmal war die kindliche Begeisterung seiner Schwester einfach zu viel des Guten. Besonders, wenn der Shopping-Wahn sie überfiel und er am Ende alles tragen musste. Zu seiner Überraschung fanden sich auf den Regalen und Ausstellungsflächen keine typischen Touristen-Souvenirs, sondern ausgesuchte Mineralien, liebevoll gestaltete Kunstobjekte und ein paar handgemachte Halsketten.
Es roch nach Kiefernharz und Tannenzapfen. Im Hintergrund spielte eine Musik, die aus Wind und vereinzeltem Vogelgezwitscher bestand. Aber das auffälligste war die Energie, die dieser Ort verströmte.
Rian schritt geradezu andächtig zwischen den Verkaufstischen entlang, berührte hier und da einen der glatt geschliffenen Halbedelsteine oder linste nach dem Preis einer Kette.
»Bonjour, Monsieur«, erklang eine voluminöse, warme Stimme. Eine ältere Frau war zu ihnen hereingekommen. »Mein Name ist Anne-Marie. Kann ich Ihnen helfen?« Ihr Französisch klang ein wenig härter, als David es bisher in der Region gehört hatte. Doch er konnte noch nicht ausmachen, ob es ein Akzent war oder einfach eine sprachliche Eigenheit.
»Bonjour«, erwiderte er mit einem leichten Kopfnicken. »Wir sind gerade erst angekommen und wünschen uns einen Café au Lait.«
Anne-Marie lächelte mit ihrem ganzen Gesicht. Die Fältchen in ihren Augenwinkeln mehrten sich, die Mundwinkel gehoben, erschienen kleine Grübchen in den vom Alter gezeichneten Wangen.
»Ich glaube, Sie suchen mehr als das, nicht wahr? Für den Anfang kann ich Ihnen mit Sicherheit weiterhelfen.«
David guckte sie ein wenig verdattert an. Wusste sie etwas? Las sie in ihm seine Sehnsucht und Sorge ab? »Weiterhelfen?«, brachte er ein wenig stotternd hervor. »Wie meinen Sie das?«
Jetzt lachte sie auf. Offen, herzlich und ein wenig verschmitzt. »Mit dem Kaffee, mein Herr. Dürfen es zwei sein? Für Sie und ihre wunderhübsche Begleitung?«
»Unbedingt!«, meldete sich Rian zu Wort und lehnte sich von hinten gegen ihren Bruder. »Das hier ist übrigens mein Zwillingsbruder David und mich können Sie Rian nennen.«
»Willkommen in Paimpont, dem Tor zum Zauberwald«, sagte Anne-Marie und ihre Augen blitzten erneut geradezu schalkhaft auf. »Hat dich einer der Steine gerufen?«, fragte sie mit einem angedeuteten Nicken in Richtung der Verkaufsauslage.
Sie war wie selbstverständlich ebenfalls ins Du verfallen. Eine Wirkung die Rian fast immer auf die Menschen hatte, wenn sie mit ihrer überbordend fröhlichen Art zu ihnen sprach.
»Am liebsten würde ich sie alle nehmen!«, entgegnete sie.
»Und was ist mit dir, David?«, wandte sich die Inhaberin nun wieder ihm zu. »Was brauchst du?«
Ein Kribbeln durchfuhr seinen Körper, als würde ihr Blick ihn von innen nach außen abtasten.
»Immer noch Café au Lait«, sagte er knapp und trat einen Schritt auf den Ausgang zu.
Rian warf ihm einen tadelnden Blick zu, doch Anne-Marie nickte lächelnd und eilte eifrig in den hinteren Teil des Ladens. »Ouais, ouais, ist schon unterwegs!«
»Du bist unverbesserlich«, sagte Rian, als sie es sich draußen an einem der massiven Holztische bequem gemacht hatten.
Das Gewitter hatte sich mittlerweile verzogen, doch die Straße glänzte immer noch nass. Die Häuserwände dampften in der milder werdenden Spätnachmittagssonne und verliehen der schmalen, ordentlich gekehrten Gasse etwas Mystisches.
Niemand sonst schien sich schon wieder hinaus zu trauen. Dachte David zumindest. Doch am westlichen Ende, dort, wo die Straße an den nahen See angrenzen musste, konnte er bei genauerem Hinsehen Menschen vor einem großen Dreikantgebäude ausmachen. Doch sie waren zu weit weg, um Genaueres erkennen zu können.
»La Porte des Secrets – Das Tor der Geheimnisse«, wisperte eine Stimme hinter ihm. David fuhr herum und blickte erneut in das lachende Gesicht von Anne-Marie, die mit der Bestellung zurück war. »Bei diesem Graupelwetter die beste Art, sich einen schönen Abend zu machen. Wenn ihr Glück habt, gibt es noch Karten«, erklärte sie, während sie den Kaffee servierte.
»Ist das eine Show?«, fragte Rian, während sie nach ihrer Tasche griff.
Anne-Marie wiegte den Kopf. »Theater, Museum, Märchenstunde. Im Grunde von allem etwas. Aber auf jeden Fall sehenswert, wenn man sich für den Wald und seinen Zauber interessiert.«
»Was für einen Zauber hat er denn?«, hakte David skeptisch nach. Das Ganze klang ihm mittlerweile doch zu sehr nach Verkaufsanzeige. Wahrscheinlich arbeitete sie mit dem Betrieb zusammen, um ihnen Besucher zuzuschanzen.
»Man sagt, es wäre die Heimstatt von Merlin«, gab die Inhaberin beflissentlich Antwort. »Die Welt glaubt, er wäre ein Zauberer gewesen. Vielleicht der größte, der je gelebt hat. Doch in Wahrheit war er ein Druide. Ein Anhänger der Vorläufer der Ancient Order of Druids. Die wussten schon in grauer Vorzeit mehr über die Gestirne als die Wissenschaftler heute. So heißt es. Sie schöpften ihre Stärke aus Licht und Schatten. Eine Magie, die auf der Dualität der Dinge beruht, so wie die Erde selbst.«
Sie beugte sich mit ihrem Tablett ein wenig vor und flüsterte verschwörerisch. »Auch heute noch sollen Merlins Abkömmlinge zu besonderen Anlässen ihre Rituale und Zeremonien im Hain abhalten.«
»Gibt’s darüber auch einen Vortrag?«, fragte David kühl und kassierte im nächsten Moment von seiner Schwester einen Hieb mit dem Ellenbogen in die Seite.
Und diesmal schien er es geschafft zu haben, Anne-Marie zu vergraulen. Ihr Blick ruhte einen Lidschlag lang auf ihm, dann richtete sie sich auf und ging hinein.
»Du bist unmöglich«, fuhr Rian ihn an. »Sie hätte uns vielleicht noch mehr über diese druidischen Vorfahren erzählen können.«
»Das ist doch alles Mumpitz und Touristenfängerei«, beharrte David. Doch sein Bauchgefühl war sich da auf einmal gar nicht mehr so sicher.
Ungewöhnlich stumm saßen sie eine Weile lang nebeneinander und ließen die Gedanken jeder für sich schweifen. Wie gern hätte David diesen Ort mit Nadja erkundet. Sie hätte die Gelegenheit ergriffen und wäre vorausgeeilt, um sich jede einzelne Ausstellung anzusehen.
Er trank von seinem Kaffee und leckte sich den Milchschaum von den Lippen. Nadja hatte schon oft mit Hilfe ihres journalistischen Gespürs die richtige Entscheidung für den folgenden Schritt getroffen, für den Weg zum nächsten Puzzlestück auf ihrer Suche und Mission. Vielleicht sollten er und Rian dieser Eingebung folgen und sich Das Tor der Geheimnisse näher ansehen. Einen Versuch war es zumindest wert.
Nachdem Anne-Marie auf einen Wink hin das Tablett mit der Rechnung auf den Tisch gestellt hatte, zog sie mit der anderen Hand einen Stapel Karten aus ihrer Tasche. Die Ränder wirken abgegriffen und speckig. »Wie wäre es zum Abschied mit einem Blick in die Zukunft, mon chère?«, fragte sie, während sie das Set mit einigen gekonnten Handgriffen auffächerte.
Davids Lippen wurden schmal. Nichts hätte er lieber getan, nichts mehr gewünscht, als vorauszusehen, was passieren würde. Doch die Antwort lag nicht in einem Kartenspiel. Er schüttelte den Kopf.
»Und Sie, Mademoiselle? Wollen Sie es riskieren?« Sie hatte erneut zur höflich-distanzierten Anrede gewechselt. Ob nun aus reinem Geschäftsgebaren oder weil David sie mit seinen schroffen Antworten ernsthaft beleidigt hatte.
Rian hob die Hand, als wollte sie nach einer Karte greifen. Dann zögerte sie. Ihr Blick wanderte zwischen David und dem Fächer hin und her. Bis sie schließlich die Entscheidung traf und zugriff.
Während die Rückseite schmucklos einfarbig, mit einer weißen Linie den Rand entlang gestaltet war, zeigte sich auf der Vorderseite die Handschrift eines wahren Künstlers.
Das Bild wirkte unglaublich zart und filigran. Eine Zusammenstellung aus wässrigen Blauschattierungen im Hintergrund, die von kräftigeren Linien überlagert waren. Gelbe, rote und braune Flächen formten die Gestalt einer Frau, die auf einem Stein saß und ihre Füße in den Strom einer Quelle tauchte. Kleine weiße Sprenkel wirkten dabei wie die Gischt des sprudelnden Wassers und ließen die Szene geradezu lebendig erscheinen. Die Frau selbst hielt ihr Gesicht durch eine Kapuze verborgen; den Kopf einem fahlen Mond zugewandt.
»Die Dame vom See«, entfuhr es Rian, während sie mit den Fingern die Konturen der Linien nachfuhr.
»Das Quellenmädchen steht für ein unmögliches Vorhaben«, sagte Anne-Marie mit seltsam überraschtem Tonfall.
Als David zu ihr hinaufblickte, sah er ihre Stirn in Falten liegen. »Kein gutes Omen also?«, hakte er nach.
»Es ist eine machtvolle, aber auch tückische Karte. Sie lockt mit einer großen Belohnung. Doch jene, die danach streben, erkennen meist zu spät, welches Opfer die ihnen gestellte Aufgabe bedeutet. Wählt euren Weg weise und mit Bedacht«, mahnte sie ernst, ja eindringlich, bevor sie erneut ihr Lächeln zeigte. »Aber vorher solltet ihr euch unbedingt die Show ansehen. Mein Neffe steuert die Lichttechnik.« Sie zwinkerte.
Etwas unschlüssig standen David und Rian schließlich wieder auf der Straße und sahen zu beiden Seiten. Es war rasch dunkel geworden. Nur die beleuchteten Fenster der angrenzenden Wohnungen spendeten ein wenig Licht. Sollten sie zurück zum Hotel gehen und etwas essen oder der wandelnden Werbebroschüre Folge leisten?
»Wir können ja mal hingehen und es uns von außen ansehen«, schlug Rian vor.
»Also schön.« Die Ablenkung würde seine Gedanken von der Düsternis fernhalten, die sich auf der kleinen, zarten Seele breitmachte.
Das Gebäude lag direkt neben einer Kirche, klein und unscheinbar klebte das Haus an dem monumentalen Seitenschiff. Und doch hatten sie etwas gemeinsam. Beide waren aus dunklen Schiefersteinen erbaut, die für diese Gegend typisch waren. Ein wenig grobschlächtig, strahlten sie trotz ihrer Schlichtheit eine gewisse Gemütlichkeit aus. Einen eigenen Charakter, im Gegensatz zu den modernen Stadtbauten.
La Porte des Secrets prangte über der weiß gestrichenen Eingangstür mit den eingesetzten Glasfenstern. Seitlich davon war das Logo an die Wand gemalt – eine symbolische Darstellung des Waldes. Einfach und kraftvoll zugleich, wie eine Rune.
Farbige Strahler beleuchteten das Haus, eingebettet in den Rhythmus von Gezwitscher und dem Sausen des Windes, wie David es bereits im Café vernommen hatte.
»Kommen Sie, treten Sie ein und lassen Sie sich von den Legenden rund um Brocéliande und seinen vielen Bewohnern verzaubern«, begrüßte sie eine Stimme. »Mein Name ist Pierre und ich werde auf dieser Tour Ihr Begleiter sein.«
Da sie nun schon da waren, kaufte David zwei Tickets und sie betraten den verschlungenen Pfad im Gebäude, der sie zu den verschiedenen Attraktionen führen würde.
Pierres Werkstätte machte den Anfang. Er erzählte ihnen, wie intensiv die Region einst von den Früchten des Waldes gelebt hatte. Von ihrem Holz, aber auch von den Tieren, die darin lebten.
»Das prachtvollste Tier war der Hirsch. Er durchschritt im Frühling, Sommer, Herbst und Winter den Wald und achtete darauf, dass alles im Gleichgewicht blieb«, erklärte die Stimme aus dem Lautsprecher, während sie die authentisch zusammengestellten Kulissen betrachteten.
»Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, ob die kleinen Symbole auf unserer bretonischen Flagge eben diesen Hirsch darstellen. Doch mit dieser Vermutung liegen Sie falsch. So groß und imposant das Tier mit seinem Geweih auch sein mag, es steht in der Gunst der Bretonen nur an zweiter Stelle. Wappentier und heiligstes Geschöpf dieses Waldes ist das Hermelin.«
Gleichzeitig mit dieser Verkündigung betraten David und Rian den nächsten Abschnitt und standen unversehens in einem schummrigen Raum, der an den Wänden Szenen aus dem Wald nachstellte.
»Es ist eine Projektion«, staunte Rian. Denn die Figuren, die in einer Art Scherenschnitt-Technik gezeigt wurden, bewegten sich. Abermals erklang die Musik der Natur und bannte auch Davids Aufmerksamkeit, während Pierre seine Geschichten weiterspann.
»Da ist es wieder!«, rief David, als plötzlich ein weißes Tier in der Kulisse auftauchte und flink von einer Seite zur anderen lief.
Die restlichen Zuschauer, die sich in diesem Raum eingefunden hatten, drehten sich um und musterten David mit unverhohlenem Grinsen.
»Wieso wieder?«, frage seine Schwester hinter vorgehaltener Hand, um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen.
»Weil ich es bereits bei unserer Ankunft am Hotel gesehen habe«, gab David zu.
»Das weiße Hermelin, genau wie der weiße Hirsch und die ebenso schneeweiße Eule sind, der Sage nach, einige der Boten jener Fee, die unter dem Namen Viviane, Nimue oder auch Herrin vom See aus der Artus-Sage bekannt geworden ist.« Wieder war es Pierre, der für Aufklärung sorgte.
»Also beobachtet Nimue uns bereits?«, fragte Rian.
David zuckte unschlüssig mit den Schultern.
Als die Show vorbei war, blieben sie ein Stück zurück, während der Besucherstrom sich vorwärts, den Gang entlang zum nächsten Abschnitt bewegte.
»Ein bisschen seltsam sind diese Zufälle schon. Findest du nicht?«, sagte seine Schwester mit gedämpfter Stimme. »Du siehst weiße Tiere, dann schickt uns die Café-Besitzerin hierher und ich ziehe dazu auch noch Nimues Karte.«
»Oder die Karten waren gezinkt und hätten alle das gleiche gezeigt, weil sie Werbung für diese Touristen-Attraktion machen soll«, konterte David.
»Und das Hermelin?«, blieb Rian hartnäckig.
David verzog den Mund. »Es hat geregnet. Der Himmel war voller Blitze. Vielleicht habe ich auch nur eine weggeworfene Flasche gesehen, die am Parkplatzrand entlangrollte und nur weiß gewirkt hat.« Er wusste selbstverständlich, dass es Übernatürliches in vielfältiger Form in der Menschenwelt gab. Aber nicht alles was danach aussah, hatte wirklich einen magischen Ursprung. Dennoch. Ein leiser Zweifel blieb und nistete sich ein.
»Schau doch! Da sind Kobolde!«, rief Rian. Sie war vorgegangen und winkte David eilig zu sich.
»Du willst doch nicht etwa behaupten, Ceridwen wäre ein Kobold!«, tönte hinter David eine wohl bekannte Stimme. Pierre. Live und leibhaftig!
»Ceridwen, die Göttin?«, fragte Rian verwirrt.
»Oh, sie war vieles, aber allem voran war sie eine mächtige Fürstin und Druiden-Priesterin. Ihr Haar soll so schwarz wie die Nacht gewesen sein und so wundervoll glitzernd wie das Firmament«, berichtete der stämmige Mann routiniert und strich sich sinnend über seinen kastanienfarbenen Vollbart.
»Was hat sie mit den Korrigans zu tun?«, hakte Rian wie immer neugierig nach. Denn die Göttin war auf dem Bild von einer Schar kleiner Gestalten umringt.
»Der Legende nach ist die Fürstin mit einigen anderen Frauen in den Wald geflohen, um den Pfaffen zu entkommen. Die Kirche hat damals regelrecht Jagd auf alle Andersgläubigen gemacht. Es heißt, sie hätten sich mit der Natur vereinigt, um so zu wunderschönen, wie auch überaus gefährlichen Feen zu werden – magische Gestalten, die in die Zukunft blicken konnten, Krankheiten heilen und in jeder beliebigen Gestalt erscheinen konnten, um jenen zu helfen, die es verdienten. Die Bösen hingegen verfolgten sie und führten sie mit Hilfe von Trugbildern in die Irre.«
Es war schwer herauszulesen, wie viel Pierre davon wirklich glaubte und was einfach nur Teil einer guten Geschichte war. Ceridwen war in Earrach durchaus ein Begriff. Getroffen hatte David sie nie und wie es aussah, konnte er froh darüber sein.
»So, wie ihr die Fürstinnen, die ihr Korrigans nennt, hier in der Ausstellung findet, sehen sie sie nur tagsüber aus. Der Tribut, den ihre magischen Fähigkeiten fordern. Nachts verführerisch schön und am Tage zusammengeschrumpelt und knorrig wie die Wurzeln, mit denen sie ihre Tränke brauen und die Zauber wirken.« Pierre wandte sich an Rian und schnalzte einmal mit der Zunge. »Und da es dunkel ist, bin ich mir gar nicht so sicher, wen ich hier gerade vor mir habe.«
Der nächste Verehrer in der Reihe. David verzog das Gesicht. »Mein Magen knurrt, wir sollten zurückgehen, um es noch rechtzeitig zum Hotel zu schaffen, bevor das Restaurant schließt.«
»Ich begleite euch! In welchem wohnt ihr?«, lud sich Pierre mit unüberbietbarer Dreistigkeit ein.
Rian gluckste, als sie Davids Miene bemerkte. »Warum nicht. Ich höre gern Geschichten. Besonders, wenn sie von machtvollen Frauen handeln.«
Damit sank Davids Laune auf den Nullpunkt. War das die Retourkutsche für seine unfreundlichen Worte im Café? Wenn ja, hatte sie es ihm mit dieser Aktion doppelt und dreifach zurückgezahlt. So viel war sicher.
Den Rest der Ausstellung ließen sie ohne anzuhalten hinter sich. Ihr redseliger Begleiter gab am Ausgang bei der Kassiererin Bescheid, dass er Feierabend machen würde, und schon waren sie auf dem Weg zurück ins Le Relais de Brocéliande.
»Wird es nicht irgendwann langweilig, immer wieder dieselben Geschichten zu erzählen?«, fragte David, als sie sich an einen der Tische auf der von Kerzen erleuchteten Terrasse des Le Bistrot gesetzt hatten.
»Ich mache auch Führungen durch den Wald und zu den verschiedenen Sehenswürdigkeiten«, erklärte Pierre stolz.
Rian war erstaunt. »Ich dachte, das Gebiet ist mehrere Kilometer groß.«
»Das ist es auch. Wer nicht gut zu Fuß ist, kann sich im Bike Tour Shop ein Fahrrad oder E-Bike ausleihen. Gleich rechts um die Ecke vom Hotel. Die bieten selber Touren an. Aber die Informationen, die man dort erhält, sind nur das übliche oberflächliche Geschwafel.« Pierre sah sie nacheinander an. »Damit gebt ihr euch ganz sicher nicht zufrieden. Das habe ich schon auf den ersten Blick erkannt. Es ist diese Aura.«
David hatte gerade die Speisekarte aufschlagen wollen und gefror in der Bewegung. Das war schon das zweite Mal, dass jemand so etwas erwähnte. Hatten die Einwohner elfisches Blut in sich? Konnten sie erkennen, wen sie wirklich vor sich hatten?
Auch Rian wirkte einen Moment lang irritiert, fing sich dann und lächelte. »Was für eine Aura?«
Pierre grinste verschmitzt. »Es ist meine Gabe, die wahrhaft Suchenden in der Masse auszumachen. Die, die nicht nur ein hübsches Foto haben wollen, sondern sich für die machtvolle Essenz interessieren, die hinter all den Hochglanzprospekten steckt, mit denen in der Tourismusbranche geworben wird.«
David atmete erleichtert auf. In dieser von Mythen aufgeheizten Umgebung lief er offensichtlich Gefahr, paranoid zu werden.
Das Essen bestand aus guter französischer Küche und erschreckend kleinen Portionen. So, wie sich das für die bonne cuisine française eben gehörte. Es brauchte vier weitere Gänge und einen doppelten Nachtisch au chocolat, bis er und Rian sich satt und zufrieden zurücklehnten.







