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»Wer?«, fragte David irritiert. Sie spürte, dass er ihr folgte, als sie sich auf den See zu bewegte.
»Du musst nur richtig hinsehen. Hineinsehen, ohne etwas Bestimmtes erkennen zu wollen«, sagte Rian, gebannt von dem Schauspiel, das sich ihr bot. »Als wären wir in unserer Welt. Wir haben zu sehr auf die Menschenwelt geachtet. Der See ist hier aber nur verankert, wie ein Tor, und wir müssen die Grenze überschreiten. Die Boten weisen uns den Weg.«
Der Hirsch blieb hinter ihnen zurück, während das Hermelin über den See lief, sich zwischen den Nebelsäulen hindurch schlängelte, hinein tauchte, nur um eine Körperlänge weiter vorn wieder aufzutauchen. Ein Umriss nur, aber auf magische Weise so real wie alles andere, das Rian wahrnahm.
»Komm«, sagte sie und hielt ihrem Bruder hinter ihr die Hand entgegen.
Diesmal blieb David stumm, als er seine Hand voller Vertrauen in ihre legte und sie sanft umschlang. Ihr Zwillingsblut ließ ihre elfische Seite im Gleichklang schlagen, so wie einst.
Gemeinsam folgten sie dem kleinen Boten. Und als Rian den ersten Schritt in den See hinein unternahm, da teilten sich der Nebel und das Wasser und gaben einen schmalen Pfad zwischen den Elementen frei.
8.
Bandorchus Ausflug
Hügel von Tara
Bandorchu saß auf ihrem Bett im frisch errichteten Schlafgemach und spießte mit einem Zahnstocher die Augen einer unartigen Dryade auf, die man ihr auf einem Teller serviert hatte.
Ohne ihre Besitzerin waren es nur mehr tote hölzerne Klötze, in deren Mitte eine bleiche, eichelförmige Pupille saß. Das Leben eines Menschen war genauso leicht zu beenden wie das eines Baumgeistes. Es war der Widerstand, den Bandorchu so sehr an den Nicht-Elfischen genoss. Dieser kindliche Trotz, gepaart mit einem starken Willen, der im Kontrast zu ihren verletzlichen Leibern stand. Doch gegen Magie waren sie machtlos. Selbst ein einfacher Kobold wie der Springgans konnte sie dazu bringen, willenlos Befehlen zu folgen. Und genau das würde sie sich zunutze machen. Das hatte er mit dieser albernen Zahnstocherlieferung eindrucksvoll bewiesen.
Die Dunkle Königin konzentrierte sich und sog die Energien, die über die Ley-Linien zu ihr strömten, in sich auf. Ihr treuer, schattenloser Diener hatte gut daran getan, die Stäbe an den nördlichen fünf Hauptknoten zu setzen, um ihr die Quelle der Macht zugänglich zu machen.
Auf diese Weise konnte sie ihr Reservoir zur Gänze auffüllen, zu hundert Prozent auftanken, statt sich weiter mit den Häppchen zufrieden geben zu müssen, die die Menschen ihr geboten hatten. Wirre, beschädigte Seelen, die Bandorchus Diener nach dem Übertritt in diese Welt aus den abgelegenen Gassen der Städte herangeschafft hatten. Doch damit war vorerst Schluss. Jetzt, da sie auf die geballte Energie aus der Erde zugreifen konnte.
Alle würden ihr zu Willen sein, wenn sie sich erst diese Welt und die der Sidhe Crain Untertan gemacht hatte. Der nötige Grundstein war gelegt, das Basislager im Aufbau. Nun galt es, den Schlachtplan genauer auszuarbeiten. Sie brauchte noch mehr Macht, mehr Energie! Sie würde ihre Heerschar zu einem einzigen vernichtenden Schlag in den Krieg führen. Also musste jedes noch so winzige Rädchen im Getriebe einwandfrei funktionieren.
Und ausgerechnet in dieser vielleicht alles entscheidenden Stunde war ihr wertvollster Diener nicht hier! »Wo bist du?«, rief die Dunkle Königin in den leeren Raum hinein. »Komm zu mir, damit ich dich für deinen Verrat büßen lassen kann!«
Doch der Getreue tauchte nicht auf. Trotzte ihr schon wieder! Einmal mehr wünschte Bandorchu sich ihr Hündchen herbei, um es zu treten, zu würgen und sich an seinem Leid sattzusehen. Kein anderer hatte es je so lange an ihrer Seite ausgehalten, in Knechtschaft und Pein. Hin und her gerissen zwischen Verzückung und Qual.
Mit einem Wutschrei sprang die Königin auf und befahl dem Mann ohne Schatten, zurückzukehren und sich ihr auszuliefern. Das Band zwischen ihnen war eng geknüpft. Sie und ihn verband so viel mehr als nur das Streben nach Macht. Sie waren voneinander abhängig. Er brauchte sie. Er zehrte von ihr. Und er würde kommen! Kommen müssen!
Mit einem giftig-süßen Lächeln auf den Lippen straffte sie sich, rückte ihre Robe zurecht, fuhr sich durch ihr langes, seidig schimmerndes Haar und war wieder die Dunkle Königin, Herrscherin über die Verbannten, Gebieterin ihrer Gefühle. Nichts konnte sie aufhalten. Gefasst und siegessicher trat sie aus der Kammer in den steinernen Palisadengang hinaus.
Die Wände waren aus massivem Granit gebaut. Wie ein Fort, eine Trutzburg, die dereinst jedem Ansturm standhalten würde. Aber noch war es nicht soweit. Noch brauchte es Vorbereitung und weitere Planung. Und es brauchte die Menschen. Diese unerschöpfliche Welt.
Sie brauchten Nahrung und Waffen, Handwerker, Schmiede, Bauleute. Und es brauchte Informationen. Ein Netzwerk, das sich über die Welt spannte, um über jedwede Entwicklung, die ihr Vorhaben betraf, auf dem Laufenden zu sein.
Menschenseelen waren so schwach und anfällig. Ein Fingerschnipsen reichte, um sie sich dienstbar zu machen, ihren Willen zu brechen, sie als brave Marionetten auf dem Schachbrett zu positionieren und nach ihren Wünschen zu verschieben. Es wurde Zeit, die Figuren zu wählen.
Die Schritte der Dunklen Königin hallten durch die Gänge und fingen sich im Turm der Wendeltreppe, als sie im Stechschritt hinabstieg. Das erste Mal, seit sie in Tara angekommen war und den Bau ihrer Trutzburg begonnen hatte, verließ Bandorchu ihre neue Heimstatt, trat aus dem schützenden Wall heraus, um sich unter die Menschen zu mischen. Gänzlich allein. Durch ihre eigene Macht geschützt.
Der Weg ins Dorf war nicht weit. Nach ein paar hügeligen Wiesen und Feldern tauchten die kleinen Hütten und Höfe vor ihr auf. Ein typisch irisches Idyll. Durchdrungen von Schafdung und schalem Ale. Die Menschen hier liebten es einfach, herzlich und streitlustig, so viel wusste Bandorchu über das Volk der Koboldfreunde und Freiheitskämpfer.
Mit erhabenem Gang stieg sie sicheren Schrittes über die Moosfelder der Weide, öffnete das Gatter und trat wie selbstverständlich hinaus auf die Dorfstraße.
Die Sonne neigte sich dem westlichen Horizont zu, um sich niederzulegen. Die Bauern waren dabei, ihr Tagwerk zu beenden, die Tiere zurück in ihre Ställe zu bringen, sie zu füttern und schließlich an das eigene Wohl zu denken. Wer nicht daheim bei seiner Familie hocken musste, ging unter Leute. Mit dem schwächer werdenden Licht wurden die Menschen redselig und gesellig.
Doch als die Dunkle Königin in ihrer weißen, beinahe durchsichtigen Robe, ihrem glatten, strahlendblonden Haar und ihrem zartelfischen Antlitz die erste Häuserzeile erreichte, kam die dörfische Welt zum Stillstand.
»Oh, wie wunderschön«, hauchte eine Bäuerin, die gerade dabei gewesen war, ihre Wäsche abzuhängen.
»Ist das ein Engel, Mama?«, fragte das Kleinkind an ihrem Rockzipfel.
Die Männer hingegen plusterten ihr imaginäres Gefieder, reckten die Köpfe, streckten die Brust heraus und strichen sich das Hemd über ihrer Bierwampe zurecht. Ein besonders eifriger Kerl eilte herbei, zog seine Kappe vom Kopf und verbeugte sich, als wäre Bandorchu eine Balldame und er ihr ergebener Tanzpartner.
»Was fürne Ehr’, so ne hübsche Dame hier zu ham«, sagte er und lächelte sein schönstes Zahnlückenlächeln.
Doch die Dunkle Königin war nicht unterwegs, um sich Schmeicheleien abzuholen. Es gab viel zu organisieren. »Wer ist der Krämer an diesem Ort? Wer der Fleischer? Und wer hat einen ordentlichen Karren mit kräftigen Pferden, um mir die gewünschten Güter zu transportieren?«, fragte sie mit klarer, lauter Stimme.
Die Männer sahen sich an und wirkten unschlüssig. Bis auf den buckelnden Speichellecker wollte sich keiner näher wagen. Also schob sich Bandorchu die Ärmel links und rechts bis zu den Ellenbogen hinauf, ließ die Finger einmal knacken, bevor sie erst nach der Magie in der Erde und dann nach den Seelen dieser Dummköpfe griff.
Einen nach dem anderen band sie an sich, machte sie alle zu ihren hörigen Opfern, raubte ihnen die Sinne und stahl ihnen ihren Willen. Genau wie es der Springgans zuvor bei dem Schäferjungen getan hatte, um ihr Zahnstocher zu besorgen.
Ihre Magie floss in schwarzvioletten Strängen zu jedem einzelnen, der sich im Umkreis von fünfzehn Metern auf der Straße befand. Ganz egal, wie sehr die Frauen und Kinder aus der Ferne protestierten oder schrien, die Männer ließen alles stehen und liegen, wandten sich ihrem neuen Mittelpunkt zu und folgten ihrem Ruf.
»Irwin! Wo willst du denn hin, Irwin?«, rief eine Alte ihrem Mann nach.
Der Greis kam in schleppendem Gang auf Bandorchu zu, ohne zu antworten oder sich auch nur nach seiner Frau umzudrehen. Sein Gesicht zeugte von jahrzehntelanger harter Arbeit bei Sonne, Regen und Sturm. Fasziniert betrachtete die Dunkle Königin die tiefen Furchen in seiner Haut. Ledrig und spröde, fast wie Baumrinde wirkte sie. Doch Bandorchu konnte spüren, dass in seinen Knochen noch reichlich Leben steckte.
Seine großen klobigen Hände baumelten seitlich aus abgetragenen Ärmelenden. Zwei gut geschulte Werkzeuge, die blind ihre Arbeit verrichten konnten.
»Was ist dein Talent?«, fragte die Dunkle Königin, als er vor ihr stehenblieb.
»Ich bin Fuhrmann. Ich transportiere das Holz, ziehe mit meinen Gäulen die Baumstämme aus dem Wald, säubere sie von Ästen und bring sie rüber in die nächste Stadt ins Lager oder direkt zum Verladebahnhof, wenn’s Holz weiter weg reisen soll«, antwortete der Mann gehorsam.
»Sag mir deinen Namen, Fuhrmann«, befahl Bandorchu mit zuckersüßer Stimme, während die Alte immer noch keifte und zeterte.
»Liam«, kam die prompte Antwort.
»Dann hör mir gut zu, Liam«, sprach sie und fasste seinen Kopf mit beiden Händen. »Du gehörst jetzt mir. Du wirst tun, was immer ich wünsche, bis ich dir etwas anderes befehle.« Erneut ließ sie die Magie aus sich heraus strömen, ihn umschlingen und schließlich in ihn dringen. Zielsicher bahnte sich ihr Zauber den Weg zum Zentrum seines Denkens und Handelns und hinab in sein Herz und seine Eingeweide. All das würde von nun an danach schmachten, ihre Stimme zu hören und ihre Kommandos zu empfangen. In ihm gab es nur noch sie als Sonne, die er zu umkreisen hatte, und ein paar elementare Überlebensinstinkte, die ihn atmen und verdauen ließen.
»Du wirst meiner Spur folgen und uns all dein Holz bringen und was du sonst noch an Waren in deinem Lager hast. Aber vorher versorgst du uns mit so viel Essen und Wein, wie auf deinen Karren passt.« Mit einem bittersüßen Kuss auf seine Lippen besiegelte sie den Bannzauber. Er stöhnte auf. Von Grauen überwältigt und doch verzückt. Denn die Erkenntnis, gefangen zu sein, wich bereits bei seinem nächsten Atemzug aus dem Bewusstsein. Mit leergefegtem Verstand stand er da, während ihm eine letzte Träne über die Wange rann.
»Hexe! Seht, was sie gemacht hat! Sie ist eine verdammte Ausgeburt der Hölle!«, schrie die Alte und kam ihrem Mann mit hoch erhobenem Teppichklopfer nach.
Bandorchu hob belustigt die Brauen, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ab. Ein bisschen Drama war nie verkehrt, als unterhaltsames Intermezzo.
»Seht ihr das denn nicht? Dass sie euch alle bezirzt?«, keifte die Frau, als sie heran war. Den Klopfer immer noch drohend erhoben, drehte sie sich, um die Umstehenden aufzurütteln. Doch die Blicke der Männer galten nur ihr – der Dunklen Königin Bandorchu.
»Schweig jetzt«, sagte sie, als die Alte immer lauter und hysterischer wurde. Eine Handbewegung reichte, um ihr die Stimme zu nehmen. Um ihr die Kehle zuzuschnüren und dann zuzudrücken.
Die Augen weit aufgerissen, die Hände an den Hals gelegt, keuchte die Greisin, kratzte sich die Haut auf bei dem verzweifelten Versuch, sich von dem unsichtbaren Henkersseil zu befreien, das sich von Sekunde zu Sekunde fester zuzog.
Oh, wie Bandorchu es genoss. Wie sehr sie es liebte, Verzweiflung zu säen, Hoffnung zu rauben und Todesangst zu schüren. Die Energie in ihr brodelte so heiß und gierig, dass ihr Herz zu hämmern begann. Brunftige Leidenschaft wallte in ihr auf, wollte einen Körper nehmen, ihn niederzwingen, sich untertan machen und schließlich genommen werden. Haut an Haut. Ineinander verschlungen. In Schmerz und Lust vereint, bis die Anspannung in einem Feuerwerk der Ekstase endete, sich auflöste und – zumindest für einen kurzen Moment – an ihre Stelle Befriedigung setzte.
»Der nächste!«, rief sie voller Gier, formte die Hand zur Faust, presste das letzte bisschen Leben aus der Frau und wandte sich den wartenden Männern zu.
Die Frau brach leblos zusammen, den Kopf unnatürlich schräg zur Seite gekippt, das Gesicht zu einer Fratze des Schreckens verzerrt. Das würde anderen eine Lehre sein.
»Schaff sie weg von hier«, befahl sie Liam.
Seine Augen spiegelten für einen Bruchteil Erkennen und Schmerz wider. Tief in ihm drinnen wusste er, was passierte, spürte er sein eigenes Herz brechen. Dennoch beugte er sich ächzend vor, packte seine tote Frau an den Haaren, als wäre sie ein Stück Holz, und zog sie routiniert die Straße hinab zurück zum Hof.
Mehr Menschen strömten aus den Häusern, redeten aufgeregt durcheinander und deuteten auf Bandorchu. Vielleicht war diese Demonstration ihrer Macht doch keine so gute Idee gewesen. Eine Tote mochte noch keine Schlagzeilen wert sein, aber ein Dutzend würde am Ende noch die Gesetzeshüter von außerhalb auf den Plan rufen. Unnötiger Trubel, der lästig werden konnte.
Also entschied sich die Dunkle Königin dafür, es für heute gut sein zu lassen. Zwei der umstehenden Burschen zog sie magisch mit sich, während sie dem Rest befahl, sich wieder um ihre alltäglichen Dinge zu kümmern. Es würde an ihnen sein, die ganze Sache ihren Familien zu erklären. Unnötig, sie auch noch zu bannen. Vorerst zumindest.
Es war so einfach, den menschlichen Geist zu verdrehen, ihn zu wenden und zu töten, wie es ihr beliebte. Die Energie, die sie dafür benötigte, war verschwindend gering, im Vergleich zu so manchem elfischen Opfer.
Kaum einer, mit Ausnahme des Getreuen, hatte sich je gegen ihre Einflussnahme gewehrt, hatte sich ihr trotzig widersetzt und ihre Nerven strapaziert. Andererseits waren es die kämpferischen Gegner, die sie schätzte. Ihre Pein war die schönste, weil in ihnen immer noch der Hoffnungsfunke glomm, sie könnten ihr entkommen. Doch das musste sie bei ihrem getreuen Diener nicht befürchten. Auch wenn er ihr trotzte, er war ihr verfallen. Mit Haut und Haar. Und eine leise Stimme sagte ihr, dass das verlorene Schaf auf ihren Ruf hin heimgekehrt war und sehnsüchtig seine Strafe erwartete.
Bandorchu lächelte grimmig bei diesem Gedanken, drehte sich um, wischte mit der Hand einmal elegant durch die Luft und trat zufrieden den Heimweg an. Ein violetter Windhauch fegte durch die Straße, umspielte die Menschen und ließ Verwirrung und Wut verrauchen, ließ sie vergessen und weitermachen mit ihrem kleinen nichtigen Leben.
Sie würde wiederkommen und erneut mit ihnen spielen. Bis sich alle Steinchen am richtigen Fleck versammelt hatten. Bis ihr Netz gespannt war und ihre Diener und Verbündeten bereit für die letzte Schlacht waren.
9.
Der magische Wall
Hügel von Tara
»Ich habe sie gehabt! Die Spur! Eben war sie noch da. Ganz frisch! Und dann wieder nicht mehr«, sagte Pirx und sprang aufgeregt über die Straße und in Feld hinein. »Vielleicht war die Dunkle Königin gar nicht vor uns, sondern hinter uns.«
»Wohl kaum«, antwortete der Grogoch und schmatzte unwillig.
Der alte Kobold war für Pirx’ Geschmack viel zu ruhig und gelassen. Es kam einfach nicht in Frage, dass sie Bandorchu verloren hatten. Vielleicht mal kurz verlegt, aber nie gänzlich verloren! Sowas durfte es nicht geben!
»Jetzt ist auch noch der Kerl einfach verschwunden. Wusch und weg!«, zeterte der Pixie fassungslos und biss sich vor Aufregung und Wut in seine rote Kappe.
»Erinnert mich an das Zeitgrab«, sagte Grog und schmatzte erneut. »Es ist nicht nur die Spur, die einfach abbricht. Es liegt etwas Magisches in der Luft. Schon die ganze Zeit.«
Pirx hielt inne und schnüffelte. Da hing so einiges in der Luft. Bier, Schnaps, Schweiß und Schafkacke überall. Aber jetzt, da sein Freund ihn darauf hingewiesen hatte, roch er es auch. Diesen Andershauch.
»Du denkst, sie haben nen Wall errichtet? Mitten auf den Feldern?« Pirx kratzte sich die Stacheln und schob die Kappe wieder auf den Kopf.
»Es muss ein gewaltig großer sein, wenn sie alle darin untergekommen sind«, sagte Grog und rieb sich grüblerisch das haarige Kinn.
»Gigantisch groß sogar! Schließlich wird die Königin nicht in einem Campingzelt wohnen wollen«, setzte Pirx die Überlegungen fort. »Aber wie sollen wir die Grenze finden?«
»Wir werden abwarten, bis wieder jemand die Stadt in derselben Richtung verlässt.«
Die Worte des Grogoch klangen einleuchtend. Also legten sie sich am Straßenrand auf die Lauer. Es dauerte mehrere Stunden, doch kurz bevor Pirx soweit war, die Sache abzublasen und sich etwas Essbares zu besorgen, sah er einen alten Tattergreis auf einem Wagen den Weg in ihre Richtung einschlagen.
»Vielleicht will er ins nächste Dorf«, meckerte Pirx, als der Grogoch ihn anschob, um an dem Gefährt dran zu bleiben.
»Schau doch, was er geladen hat«, hielt Grog dagegen. »Sieht aus, als wäre es für ein Picknick bestimmt, nur eben ein wirklich großes.«
Tatsächlich hatte der Alte Essen, Bier und Decken womöglich für ein ganzes Heerlager dabei. Pirx nahm seine Beinchen in die Hand, um zusammen mit dem schwerfälligen, aber nicht minderschnellen Grogoch die Verfolgung aufzunehmen.
»Irgendwann wird er auf die Wiese abbiegen«, prophezeite Grog. Und genauso kam es.
Ungefähr auf der gleichen Höhe wie zuvor, als sie den Jungen in den Feldern verloren hatten, lenkte der Fuhrmann sein Pferd von der Straße und auf die Wiese.
Der bis zum Bersten beladene Karren schwankte gefährlich bei der Aktion und Pirx musste einem Fässchen ausweichen, das sich aus der Seilverankerung gelöst hatte, über ein paar Kisten abwärts rollte und dann – durch einen letzten Schlag – in hohem Bogen auf die unsichtbaren Verfolger zuflog.
Mit hörbarem Krachen kam das Fässchen auf dem Boden auf, polterte gegen einen der zahlreichen Findlinge zwischen den Grashalmen und zerbarst. Roter Wein spritzte in alle Richtungen und besudelte Pirx.
»Pass doch auf, du Holzkopf!«, schimpfte der Pixie und hielt sich sofort den Mund zu.
»Kssssssh«, machte der Grogoch. »Du verrätst uns ja!«
Zu spät, zu spät. Doch die Kobolde schienen unverschämtes Glück zu haben, denn der Alte auf dem Kutschbock rührte sich nicht, blickte nicht zurück und machte auch sonst nicht den Eindruck, als hätte er etwas gehört. Nicht einmal das berstende Fässchen.
Pirx war beinahe froh darüber, dass die Dunkle Königin so gut darin war, den Menschen die Köpfe zu verdrehen und die Sinne zu rauben. Aber nur beinahe, denn er wusste, dass so etwas bei Bandorchu selten ohne Qual vonstattenging. Alles, was sie anfasste, hatte früher oder später Schmerzen zu erleiden.
Bei dem Gedanken erschauderte Pirx und hätte um ein Haar erneut den Augenblick verpasst, als der Alte samt Karren mir nichts dir nichts direkt vor seiner Nase verschwand.
»Potztausend«, murmelte der Grogoch.
Zusammen liefen sie zu der Stelle, zogen sicherheitshalber mit den Füßen ein paar Markierungen in den Boden und begannen dann, das vermeintliche Nichts mit Händen und allen zur Verfügung stehenden Sinnen abzutasten.
»Ich glaub, ich spür da was«, sagte Grog und sah aus, als würde er ein riesiges unsichtbares Ei begrabschen. »Knifflige Sache. Ganz knifflige Sache.«
Pirx gesellte sich zu ihm. Doch er musste sich mächtig anstrengen, um endlich ebenfalls den Strom der Energie ertasten zu können, der hier wie eine Fontäne aus der Erde zu kommen schien, um sich dann über dem Land als gigantischer Fächer auszubreiten.
»Sie zapft die Ley-Linien an«, bestätigte er nach genauerer Untersuchung. »Direkt aus dem Boden. Das muss ein mächtiger Strang sein. Oder sogar mehrere, die an einem Ort zusammenfließen.«
Grog nickte andächtig. »Klug von ihr. Sie hat sich ein Energiezentrum als neue Heimat ausgesucht.«
»Bestimmt ne alte Kultstätte! Eine dieser Steinwälle oder Hügelgräber, die es hier überall gibt. Megalithenzeug und sowas«, mutmaßte Pirx.
»Die Frage ist, wie wir da jetzt reinkommen«, brachte Grog das Problem auf den Punkt.
Ein Thema, auf das Pirx keine Antwort hatte. Noch nicht. Aber jetzt, da sie Bandorchu erneut auf der Spur waren, würden sie einen Weg durch die magische Barriere finden. Kostete es, was es wollte!
10.
Die letzte Drohung
London – Samstag, 27. April 1715
Edmond Halley hastete, den Brief seiner Vermieterin in Händen haltend, nach Hause. Die Nachricht klang dringlich und Edmond schwante Übles.
Hatte man sie an seiner statt überfallen? War man in seine Wohnung eingebrochen und hatte sie verwüstet? Seine Unterlagen zerstört oder gestohlen? Hatten die Eindringlinge vielleicht sogar seinen Notgroschen entdeckt, den er unter einer lockeren Bodendiele versteckt hatte? Er musste sich beeilen und nachsehen.
Im Laufschritt schaffte Edmond es bis zur Abzweigung der Dartmouth Street. Von hier aus konnte er die eng aneinander geschmiegten Häuser bereits sehen.
Mistress Delainy legte keinerlei Wert auf Prunk. Nur auf Sauberkeit und Ruhe. Die Menschentraube, die sich am Eingang versammelt hatte, versprach daher zweierlei: Eine unschöne Geschichte und eine übellaunige Vermieterin noch dazu. Hauptsache, dass es ihr gut ging.
Edmond holte Atem, straffte sich und trabte das letzte Stück in möglichst angemessener Haltung. Im Grunde lief ein Gentleman nicht. Niemals. Nicht einmal, wenn es um seine Forschung ging. Aber Edmonds Sorge war zu groß. Die Regularien der Royal Society waren in vielerlei Hinsicht alt und verstaubt. Das hatte er bereits mehrfach aufgrund seines vergleichsweise modernen Forschungsfeldes zu spüren bekommen.
Als hätten die Alteingesessenen Honoratioren Angst, die Weltordnung könnte einstürzen, wenn man Anstandsregeln und wissenschaftliche Konzepte auch einmal in Frage stellte oder erweitern wollte. Dabei war dies doch der Kern allen Strebens und Lernens! Sich ewiglich neu zu entdecken, neu zu erfinden und Dinge in Zusammenhänge zu bringen, die vorher undenkbar erschienen waren.
»Da sind Sie ja!«, begrüßte Mistress Delainy ihn mit schreckensbleicher Miene und zum Himmel gereckten Armen. Sie war eindeutig am Leben.
»Ihr Bote hat mich gerade erst erreicht«, entschuldigte sich Edmond und hob, der Etikette folgend, den Hut zu einem knappen Gruß, bevor er sie nach dem Grund der Nachricht fragte.
»Sehen Sie selbst«, sagte Mistress Delainy und deutete in einer übertrieben theatralischen Geste zur Eingangstür, während sie die andere Hand mit einem ebenso meisterlich inszenierten Stöhnen an die Stirn legte.
Edmond kannte seine Vermieterin gut genug, um zu erkennen, dass sie durchaus echauffiert, aber gewiss nicht völlig außer sich war. Für gewöhnlich beschränkten sich ernsthaft schockierte Menschen darauf, nur noch zu schreien, statt einen Auftritt wie fürs Theater hinzulegen.
Ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen folgte Edmond dem Fingerzeig. Doch seine Miene gefror, als er erkannte, um was es ging.
Das, was alle anderen Schaulustigen mit vorgehaltener Hand anstarrten, und was der Parish Constable mit seinen Leuten akribisch untersuchte, war eine Katze. Eine tote, schwarze Katze, die jemand wie eine Trophäe an die Tür genagelt hatte.
Edmond musste nicht lange überlegen, wer so etwas Grauenvolles getan haben konnte. Oder warum. Erst der Drohbrief. Dann der Mann, der ihn verfolgt hatte. Und nun die Katze – schlechtes Omen, Teufelsbotin und Wiedergängerin zwischen den Welten des Diesseits und Jenseits. Die Anhänger von Blut und Wasser Christi wollten überdeutlich seinen Tod. Und bewiesen mit dieser Gräueltat, dass es auch für ihn nicht nur eine leere Drohung bleiben würde, wenn er weiter in London bleiben und die Sonnenfinsternis nicht widerrufen würde.