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Glaube rührte in den Herzen der Menschen so viel mehr an als die Logik. Der kühle Kopf schien dem wütenden Herz im Zweifelsfall haushoch unterlegen. Gefühle beschworen unkontrollierbares Verhalten herauf. Chaos war einer der wenigen Mechanismen, die die Ordnung in der Welt mit einem einzigen Wimpernschlag zu Fall bringen konnten. Weil Angst mächtiger war als der Verstand. Das hatte die Geschichte bereits mehrfach bewiesen.
Edmond starrte das arme Tier an. Das Fell räudig und zerzaust. Das Maul im Todeskampf aufgerissen und erstarrt. Die Zunge hing schlaff zur Seite heraus. Auf dem Boden hatten sich kleine Blutlachen unter den in den Leib gerammten Nägeln gebildet. Doch sie waren dunkel verfärbt und angetrocknet. Der Kadaver war bereits steif. Die Totenstarre war ein Vorgang, der ein Lebewesen zu einem Ding werden ließ. Wie ein Stein, ein Holzblock oder Ziegel. Nur eben mit schwarzem, räudigem Fell drumherum.
»Es tut mir leid«, flüsterte Edmond und presste die Lippen aufeinander.
»Das sollte es auch!«, kam die prompte Antwort von der Seite. Mistress Delainy kräuselte sichtlich angeekelt die Nase. »Es ist ja wohl eindeutig, dass dieser widerwärtige Anschlag Ihnen gilt. Nicht nur, dass ich darunter leide, dass man in der ganzen Stadt diese schrecklichen Schmähungen über Sie findet, jetzt wird auch noch mein Haus Ziel dieser Anschläge. So kann das nicht weitergehen.«
Edmond kniff die Augen zusammen und wünschte sich weit fort. Warum nur war er Wissenschaftler geworden? Warum dürstete er danach, den Menschen Wissen zu bringen, wenn die meisten es weder wollten noch verdienten?
»Wenn Sie nicht fähig sind, dieses Unglück zu stoppen, sehe ich mich gezwungen, Ihnen ab Montag die Wohnung aufzukündigen. Zu Ihrem und zu meinem Wohl wohlgemerkt. Wer weiß denn schon, was diesen Fanatikern als nächstes einfällt.«
Er hatte es kommen sehen, es in ihren Augen gelesen in den letzten Tagen, vielleicht auch schon Wochen davor. Schon da hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn vor die Tür zu setzen, um sich den Ärger, den er neuerdings magisch anzog, vom Leib zu halten.
Aber sie hatte es bis jetzt nicht getan. Nicht ausgesprochen. Und das zeigte ihm, dass sie unter ihrem mit Schultertuch hochgeschlossenen schmucklosen Hauskleid sehr wohl ein weiches, liebenswürdiges Herz hatte.
Die Herzen sind Hüter unserer größten Schätze und gleichzeitig Erschaffer der ärgsten Gräuel, dachte Edmond bei sich. Es würde nichts helfen, mit Mistress Delainy zu diskutieren. Zu versuchen, es ihr auszureden. Wenn er die Wohnung behalten wollte – und das wollte er gewiss –, dann musste er sofort eine Entscheidung treffen.
»Ich werde mich an den Rat des Constable Johnson halten und die Stadt für ein paar Tage oder Wochen verlassen. Eine Reise nach Frankreich. Die Bretagne soll zu dieser Jahreszeit in geradezu magisches Licht getaucht sein. Der ideale Ort, um sich etwas Ruhe zu verschaffen und den Kopf frei für neue Ideen zu bekommen.«
Bei diesem Nachsatz zuckten die Mundwinkel der Vermieterin nach unten. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie überaus freundlich fragte: »Ich wusste gar nicht, dass Sie dort Verwandte haben?«
Oh du Schlange! Habe ich dich eben noch liebenswürdig genannt? Berechnend bist du und unverschämt!, schoss es Edmond durch den Kopf, bevor er ebenso unverbindlich freundlich erwiderte: »Ein Kollege hat dort ein hübsches Anwesen und mich bereits vor einigen Tagen eingeladen, ihm dort über den Sommer Gesellschaft zu leisten und einige wissenschaftliche Dispute zu erörtern.«
»Der gute Sir Isaac Newton?«, wagte Mistress Delainy sich weiter vor. »Wie wunderbar. Ich habe gleich bei seinem ersten Besuch gemerkt, wie gut Sie sich miteinander verstehen. Nehmen Sie die Familie mit?«
Jetzt war es Wut, die alle anderen Gefühle in Edmond verdrängte. Er presste die Lippen aufeinander, unfähig, noch etwas Angemessenes zu erwidern. Stattdessen nickte er knapp und ging auf die Tür zu. Einfach nur, um dem Gespräch zu entfliehen, bevor er die Beherrschung verlor. Doch offenbar deutete Constable Donald Leonard Johnson die Annäherung als Interessenbekundung an dem eigentlichen Subjekt des allgemeinen Anstoßes.
»Straßenkater«, sagte er, während er weitere Notizen niederkritzelte. Und als Edmond nichts erwiderte: »War wohl schon tot, als man ihn dran genagelt hat. Zu wenig Blut.« Er deutete auf die kleinen Flecken am Boden. »Wahrscheinlich vorher erschlagen. So wie’s die Leute draußen auf dem Land tun, wenn die Mäuseräuber zu faul werden. Einfach an den Beinen packen und …«
»Constable, bitte!« Edmond schloss die Augen. Er war ein Tierfreund. Für ihn hatte jedes Lebewesen eine Daseinsberechtigung. Die Vorstellung, dass man es wie ein Stück nasse Wäsche gegen etwas schlagen könnte, ließ ihn innerlich erzittern. Die Menschheit war eine Bestie, schlimmer als jedes Raubtier, das in Büchern verzeichnet war.
»Verzeihen Sie, Sir«, sagte Johnson und mühte sich im nächsten Moment um besonders eifrige Pflichterfüllung. Er zählte die symbolischen Bedeutungen einer toten Katze auf und zog am Ende dieselben Schlüsse wie Mistress Delainy zuvor. »Solange die Sache mit der Sonnenfinsternis noch offen ist, erscheint es mir äußerst ratsam für Sie, unterzutauchen.«
Edmond rieb sich über sein Gesicht, drehte sich zur Straße und blickte über die vielen Menschen, die dicht gedrängt am Zaun hingen und gafften. »Ich verreise«, sagte er schließlich. »Mit dem Schiff. Gleich morgen früh werde ich mich erkundigen, wann das nächste Passagierschiff nach Frankreich ausläuft.«
Johnson hatte aufgehört, zu schreiben und stellte sich neben ihn. »Ist nicht leicht, die Speerspitze zu sein. Verstehen Sie, was ich meine? Sie stehen mit Ihrer Forschung ganz vorn in der ersten Reihe. Da trifft’s einen am härtesten. Da bekommt man sowohl die Kugeln ab, als auch die Bajonette. Die Ersten sind die mit der größten Leidenschaft. Weil sie sehenden Auges gegen den Feind anstürmen und sich für alle, die nach ihnen kommen, opfern. Aber manchmal ist es selbst in der ersten Reihe klug, innezuhalten und in Deckung zu gehen.«
Edmond spürte, wie der Constable ihm die Hand auf die Schulter legte und sie einmal kräftig drückte. Seine Worte waren auf so vielfältige Weise wahr. Und sie waren so tiefsinnig, dass sich Edmond fragte, wie ein Mann mit einem geradezu poetischen und wachen Geist ausgerechnet zu so einem Beruf kam. Er hatte ganz eindeutig mehr zu bieten als man ihm auf den ersten Blick ansah. Und vielleicht auch mehr zu verheimlichen.
Edmond wagte nicht, dem Constable in die Augen zu sehen. Aus Angst, sich selbst zu entblößen. Die Andeutungen von Mistress Delainy hatten deutlich gemacht, dass es in der Londoner Gesellschaft bereits genug Gerüchte um ihn und seinen besten Freund gab.
Verbrüderung im Geiste war das eine, eine körperliche etwas ganz anders. Und genau daran dachten sie alle, wenn es um solch abgenutzte Worte wie Liebe ging. Dabei gab es so viel mehr. Nuancen der Anziehung, Freundschaft, Zuneigung. Ganz ohne, dass dies in aufgewühlten Kissen und Decken enden musste. Erfüllung ließ sich auf so viele Arten erreichen. Selbst über die Distanz hinweg. Trotz all des Fortschritts dieser Tage, gab es andererseits noch so vieles, das steinzeitlich und festverwurzelt war.
Es dauerte eine weitere quälend lange Stunde, bis der Constable schließlich genug mögliche Indizien und Spuren aufgenommen hatte und die Katze endlich abgehängt werden konnte. Langsam aber sicher zerstreute sich das Publikum. Edmond wollte gerade ins Haus gehen, als er in einem Hauseingang schräg gegenüber eine Gestalt in Kutte und Kapuze zu sehen glaubte.
Sein Puls schnellte in die Höhe. Sollte er Johnson von den anderen Vorkommnissen erzählen? Unschlüssig blickte er zwischen dem Constable und dem Häusereingang hin und her. Doch auf den zweiten Blick war der Hauseingang dunkel und leer.
Edmond hielt vor Anspannung die Luft an und ging ohne weitere Abschiedsworte auf sein Zimmer, um seine Koffer zu packen.
11.
Salziger Nebel
London – Sonntag, 28. April 1715
Am Morgen wartete Edmond sicherheitshalber ab, bis der aufkommende Tag das Dunkelgrau in den Straßen vertrieben hatte. Dann holte er den alten Mantel mit dem Notgroschen in der Tasche aus dem Schrank, entstaubte ihn, schlang sich zusätzlich einen vergilbten Seidenschal um den Hals und zog sich den Hut tief in die Stirn.
Das Frühstück von Mistress Delainey stand unberührt auf dem Schreibtisch. Die Erlebnisse und Bilder des gestrigen Abends hatten ihm auf den Magen geschlagen. Bis in seine Träume hatten ihn die Unholde und Schattengestalten verfolgt. Immer noch glaubte er, das dissonante Schreien von Katzen zu hören, die ihn in Scharen von den Hausdächern herab anstarrten. Schwarze Ungetüme mit leuchtend gelben Augen und spitzen Zähnen.
Auf dem Weg zum Hafen achtete er darauf, so gut wie möglich in der Menge unterzutauchen. Immer wieder blickte er über die Schulter, lauschte auf verräterische Schritte hinter sich. Doch er konnte nichts Auffälliges entdecken.
Bis zum berechneten Termin für die Sonnenfinsternis blieben ihm noch ganze fünf Tage. Er würde also doppeltes Glück brauchen, um ein Schiff zu finden und zudem genug Wind auf der Überfahrt zu haben, damit sie die Strecke im besten Fall in zwei oder drei Tagen schaffen konnten. Im schlechtesten würde es bis zu einer Woche dauern. Doch daran wollte er gar nicht erst denken.
Einige Zeit irrte er an den Anlegestellen entlang und fragte bei den Schiffen nach, wohin sie führen, bis er endlich Glück hatte.
»Im Morgengrauen legen wir nach Saint-Malo ab«, informierte der Quartiermeister unerwartet freundlich. »Sie haben besonderes Glück, denn wie Sie sehen, ist die Santa Cruise das neueste Modell, äußerst windschnittig und wendig. Die meisten setzen ja mehr auf Gediegenheit, aber wenn Sie es wagen wollen, bekommen Sie einen Vorzugspreis.«
Ja, Edmond hatte schon von diesem schnellen neuen Typ namens Schoner gehört, der zum ersten Mal in Amerika vom Stapel gelaufen war, und auch, dass einige gekentert waren. Als ehemaliger Kommandant eines Kriegsschiffs während einer Expedition war er bedeutend stärkere Schiffswände und einen robusteren Aufbau gewöhnt, aber da er Neuem gegenüber stets aufgeschlossen war, wollte er das Risiko eingehen.
Die frühe Passage bedeutete, dass er im Dunkeln durch die Straßen zum Hafen würde laufen müssen. Nicht gerade das, was er sich unter den gegebenen Umständen wünschte. Doch mit etwas Glück würde der Notgroschen für die Überfahrt und zusätzlich für eine Droschke reichen. So hoffte er zumindest.
»Dann werde ich es wagen«, sagte er, auch wenn ihm ein wenig mulmig dabei war. Andererseits – die ständige Gefahr, in der er sich befand, war weitaus lebensbedrohlicher.
Am liebsten hätte er sich gleich auf dem Schiff einquartiert, aber das wurde rundheraus abgelehnt, weil noch eine Menge vor dem Ablegen zu erledigen sei, und da würden Landratten nur stören.
So sehr man also darauf erpicht war, Passagiere anzulocken, so zuvorkommend war man denn doch nicht mehr, sobald die Koje belegt war. Edmond grinste schief, stellte den Irrtum, dass er keine Landratte war, nicht klar, und machte sich auf den Heimweg.
Der nächste Morgen versprach, ungemütlich zu werden. Von der Sonne war längst noch nichts zu sehen, als Edmond, in seinen Mantel gehüllt, die Reisetasche in der Hand, nach draußen trat.
In den Straßen hing der typische Londoner Nebel. Der Himmel war bedeckt und sternenlos. Irgendwo in der Nachbarschaft bellte ein Hund. Ein Scheppern erklang. Dann war es wieder still.
Edmond hatte sein Kleingeld am Abend genau gezählt und einsehen müssen, dass es nicht genug war, um sich ein wenig mehr Komfort und Sicherheit zu kaufen. Das Geld auf der Bank würde er für solch eine Angelegenheit nicht anrühren. Schließlich hatte er trotz allem eine Familie zu versorgen. Also schloss er den Mantel, packte seine Tasche fest und lief in schnellem Schritt die Straße entlang Richtung Hafen.
Er achtete darauf, in der Mitte der Gassen zu laufen, solange er keinem Karren ausweichen musste. In einigen Hauseingängen und Hinterhöfen standen Gestalten herum oder kauerten am Boden. Streuner und Landstreicher. Aber keiner schien sich sonderlich für ihn zu interessieren.
Noch schliefen die Stadt und die Heimatlosen, die zu ihren Füßen hausten und sich von Abfällen und hingeworfenen Almosen ernährten.
Das Geräusch von Schuhsohlen auf dem Straßenpflaster ließ seine Gedanken abrupt ins Hier und Jetzt zurückkehren. Schweiß brach ihm aus. Angst kroch ihm das Rückgrat hinauf und ließ Gänsehaut auf seinen Armen wachsen. Er wagte nicht, sich umzudrehen oder anzuhalten. Stattdessen beschleunigte er seinen Gang, lief beinahe. Etwas, das zu einer unschönen Angewohnheit wurde.
Doch auch die verfolgenden Schritte beschleunigten. Dissonant diesmal. Waren es zwei Personen? Oder drei? Gehetzt blickte Edmond nach vorn. Die reglosen Gestalten in den Hauseingängen schienen gespannt den Atem anzuhalten und ihn zu beobachten. Eine Ratte huschte direkt vor ihm über die Straße. Das Fell ölig-glänzend grau.
Edmonds Gedanken überschlugen sich. Wie konnte er sich schützen?
Kaum zu Ende gedacht, mischte sich hinter ihm das Klappern von beschlagenen Pferdehufen in die Geräuschkulisse. Zügel schnalzten. Die Tiere steuerten im schnellen Trab auf ihn zu. Und endlich wagte Edmond es, sich umzudrehen – gerade noch rechtzeitig, um mit einem Satz zur Seite zu springen und der Kutsche auszuweichen! Das heitere Lachen und Kichern aus dem Inneren ließ auf Amouröses schließen. Also kein Anschlag. Alles nur Einbildung. Oder?
Edmond blieb stehen und lauschte. Das Pferdegetrappel entfernte sich rasant und war bereits kaum mehr zu hören. Stattdessen waren da wieder Schritte, die fest auf das Pflaster traten, wie bei jemandem, der es eilig hatte und zielstrebig auf etwas zusteuerte.
Und diesmal sah er sie. Zwei dunkel gekleidete Männer mit Dreispitz und Mantel, die links an der Häuserwand entlang auf ihn zukamen. Edmond dreht sich panisch um und lief los. Bis zum Hafen war es nicht mehr weit. Vielleicht würden sie ihn verschonen, wenn es zu viele Zuschauer gab. Tagelöhner, die die Schiffe beluden, oder Fischer, die für den ersten Fang des Tages ihr Boot fertigmachten.
Doch bevor er die Anlegestellen erreichen konnte, tauchte vor ihm eine vermummte Gestalt in grauem Umhang und Kapuze auf. Sie hatten ihn in der Zange!
Ohne nachzudenken, schlug sich Edmond in eine schmale Seitengasse, drängte sich durch die noch geschlossenen und verbarrikadierten Stände der Straßenhändler und setzte seinen Weg in einem kopflosen Zickzackkurs fort, bis er wie durch ein Wunder unbescholten doch noch weiter östlich die Kaimauer erreichte.
Während er lief, wich die Schwärze der Nacht allmählich einem schmutzigen Blaugrau. Der Nebel zog sich übers Wasser zurück. Die Schatten wurden kleiner. Öllampen tauchten die Kisten und Säcke, die an den Entladestegen warteten, in vereinzelte Kegel aus Licht. Je näher Edmond den Schiffen kam, umso mehr Menschen waren unterwegs.
Matrosen hingen in den Wanten der Schiffe, kümmerten sich um die Ladung oder schrubbten die Decks. Das Schwappen der Wellen an die Piers, die ersten Schreie der Möwen und die Kommandos der Offiziere übertönten Edmonds Panik.
Keuchend und nassgeschwitzt hielt er inne und wagte erneut einen Blick zurück. Niemand war zu sehen. Keine Verfolger. Am Bootssteg saß ein Bootsmann auf einem Fass. Edmond nannte seinen Namen und erklärte ihm, dass er eine Passage gekauft habe, und der Mann winkte ihn schweigend durch.
Edmond atmete durch. Endlich in Sicherheit. Mit der freien Hand griff er das Haltetau, um über den Steg an Bord zu gehen. Auf dem Schiff roch es nach nassem Holz, Seife und Salz. Der Wind wehte in einer kräftigen Brise von Nordost und ließ die englische Flagge auf der Spitze des Frontmastes flattern.
Der Quartiermeister wartete oben, nahm das verabredete Geld in Empfang und deutete ihm mit einem Fingerzeig den Weg zu seiner Kabine.
Edmond hatte es nicht eilig, dorthin zu kommen. Er fühlte jetzt, da er in Sicherheit war, die Aufregung, die einen beschlich, wenn man zu einer Reise aufbrach. Dieser Kitzel des Abenteuers. Die Möglichkeit, etwas Neues zu entdecken und seinen Horizont zu erweitern.
Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, trotz des ganzen Verdrusses. Er würde zu Isaac fahren! An einen Ort, wo sie für sich sein konnten. Sich geben konnten, wie sie wirklich waren, ohne auf die Augen und Ohren anderer achten zu müssen.
Die Sonne blinzelte über den Horizont, als die Santa Cruise ablegte. Ein langer Pfiff ertönte, der Steuermann bellte den Matrosen Befehle zu und sofort griffen die eingespielten Rädchen ineinander. Zwei junge Burschen stemmten sich gegen die Holme der großen Winde, um den Anker einzuholen. Die Seemänner zogen den Steg ein und lösten die Leinen, während der Rest in den Wanten hing, bereit, die Segel zu setzen.
Unter den aktuellen Windverhältnissen würde die Überfahrt höchstens drei Tage dauern. Genug Zeit also, um rechtzeitig vor Ort bei Isaac zu sein, um gemeinsam die Sonnenfinsternis zumindest am Rande noch miterleben zu können.
Der elegante Schoner glitt die Themse entlang und nahm gemächlich Fahrt auf. Edmond blickte ein letztes Mal zurück zur Anlegestelle. Die anderen Schiffe wurden weiterhin emsig beladen. Erste Straßenhändler boten ihre Waren an. Und mitten in diesem Gewusel sah Edmond erneut die verhüllte Gestalt stehen. Eine schmale graue Silhouette mit Kapuze, die dort an jenem Dock reglos verharrte, von dem aus sie abgelegt hatten. Wie ein Versprechen. Eine stumme Botschaft. Ich sehe dich. Du entkommst mir nicht. Wir sind dir auf den Fersen.
Edmond fröstelte. Schlagartig sank seine gute Reiselaune. Für die nächsten drei Tage war er mit gut drei Dutzend Menschen auf diesem Schiff eingesperrt. Hier würde es kein Entkommen geben. Keinen sicheren Ort. Außer vielleicht seine Kabine. Und auch das war nicht gewiss.
12.
Elfenspiele
Comper
Endlich hatte sich der Eingang zu Nimues Schloss offenbart. David ging an der Seite seiner Schwester langsam zwischen den hoch aufgewölbten Wasserwänden entlang auf die Mitte des Sees zu. Nach einigen Metern wandelte sich der schlichte Sandboden in massiven Fels, der sich nach ein paar weiteren Schritten als eine in den Stein gehauene Treppe entpuppte.
Stufe um Stufe führt sie der Weg tiefer hinab in den See. Und obwohl David vorher ohne Probleme von einem Ufer zum gegenüberliegenden hatte blicken können, schien in dieser Falte der Realität Entfernung in anderen Maßeinheiten zu existieren. Oder war es vielmehr die Zeit, die sich nicht mehr greifen ließ?
»Wie lange gehen wir diesen Weg schon?«, fragte er schließlich Rian, als immer noch kein Ende in Sicht kommen wollte.
Seine Schwester schien die Sache ganz nach ihrer Art deutlich lockerer zu nehmen. Während sie gemütlich zwischen den Wassermassen, die sich nun über ihnen zu einem Dach wölben, entlang spazierte, blickte sie flüchtig über die Schulter zurück. »Ich schätze, es dauert, solange es eben dauert, bis wir ankommen.«
David verdrehte die Augen. »Was für eine hehre Weisheit. Es könnte genauso gut ein Trick sein. Eine Endlosschleife, in der sich ungebetene Gäste zu Tode laufen.«
»Wir sind aber keine ungebetenen Gäste«, hielt Rian dagegen. »Wir sind auf ausdrücklichen Wunsch der Dame vom See hier.«
»Du bist angefordert, ich habe nur die Funktion des Leibwächters. – Ich glaube, da vorn ist etwas«, sagte David und deutete vor sich.
Tatsächlich ragte einige hundert Meter weiter wie aus dem Nichts gekommen eine gigantische Steinwand empor. Doch sie gehörte zu keinem Schloss, es gab kein Tor oder sonst einen Durchgang. Das Einzige, was nun unübersehbar vor ihnen lag, war eine kleine grün-türkis schimmernde Lagune, in die ein gigantischer Wasserfall von der Felswand aus herabstürzte.
David stöhnte entnervt auf. Die elfische Ader, alles zu einem endlosen Spiel und komplizierter als nötig zu machen, war etwas, auf das er zukünftig gern verzichten konnte. Immer nur Stolperfallen und Rätsel, in denen sich am Ende, wie hier geschehen, der Spielleiter selbst verfing.
Rian jauchzte bei dem Anblick des klaren Wassers und der schäumenden Gischt unterhalb des Wasserfalls im Gegensatz zu David auf und schickte sich an, angezogen wie sie war, ins Wasser zu steigen. »Komm schon, du Zähneknirscher. Das Wasser ist herrlich warm und die Wassertropfen tanzen wie kleine quirlige Feen in der Luft.«
»Wir haben wichtigeres zu tun als jetzt ein Bad zu nehmen«, hielt David dagegen.
Doch die Laune seiner Schwester war viel zu ansteckend, als dass er allzu lange widerstehen konnte. Mit einem eleganten Hechtsprung landete er im türkisgrünen Nass und machte zwei lange Schwimmzüge unter Wasser.
Unter der Oberfläche eröffnete sich eine Welt. Das Becken war wie ein Tunnel, der grob in den Stein gehauen worden war. Ein Schacht, dessen Boden man nicht sehen konnte, so tief hinab ging er. An den Rändern tummelten sich kleine bunt blinkende Fischschwärme.
David kam zurück an die Oberfläche und schwamm hinüber zum Wasserfall, um in die Regenbogen-Gischt zu tauchen, die sich um den steten Strom formte.
»Siehst du, wie gut die Idee war?«, rief Rian und kam auf ihn zu gepaddelt.
»Unsinnig, aber gut«, gab er zurück und streckte die Arme aus. Das Wasser prasselte auf ihn hernieder. Ein Gefühl, als würden schwere Nadelkissen auf seine Haut prallen. Aber da war noch etwas. Etwas, das ihn irritierte.
An seinen Fingerspitzen spürte er einen Luftzug. Kälter. Geradezu frostig. Neugierig durchstieß David mit Kopf und Oberkörper die Wasserwand, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite befand.
Als er die Tropfen aus seinen Augen geblinzelt hatte, konnte er kaum glauben, was da zum Vorschein kam. Er blickte aus einer Höhle hinaus in eine magische Landschaft. Ein Teppich aus Eisblumen breitete sich vor ihm aus und ging ansatzlos in eine Blumenwiese über. Ein zart rosafarbener Himmel wölbte sich wie eine schützende Haube über die Szenerie. Zentrum von all dem war das kristallene Schloss, das sich in der Mitte erhob. Nimues Schloss. Endlich!
»Rian!«, rief David. »Rian, komm hier durch. Das musst du dir ansehen!«
Zu zweit kletterten sie durch das Portal und aus der eisigen Höhle ins Freie. Die Sonne war warm und wild. Doch sie konnte den Eisblumen nichts anhaben.
Ein kleiner Zauber half, die Kleider zu trocknen. David prägte sich die Lage des Ausgangs genau ein, um ihn später, wenn nötig, wiederfinden zu können. Dann marschierten sie los, auf das Schloss zu.
Schmetterlinge, so fein und zart wie Schneeflocken, flatterten von den Blüten auf und umtanzten die Besucher. Ihr Flügelschlag erzeugte leise Glöckchenklänge und malte Wölkchenspuren in die Luft.
»Wie unfassbar schön«, flüsterte Rian entzückt.
Vorsichtig durchschritten sie das Feld, bis sie die bunte Blumenwiese erreichten. Hier summte und brummte es vielstimmig. Insekten aller Art wanderten von einem Kelch zum nächsten und wirbelten dabei Blütenstaub auf. Es roch nach Honig und Vanille. Die Luft selbst schmeckte herb und gleichzeitig süß, belebend und träumerisch.
»Das hier ist unmöglich nur eine Illusion. Wie konnte Merlin das alles erschaffen? Er war doch nur ein menschlicher Zauberer, wenn auch der größte, den es je gegeben hat«, sagte Rian voller Staunen.
Während sie auf das Schloss zu gingen, beugte sie sich immer wieder vor und streifte mit den Händen die Knospen und Stängel, um unter dem wilden Summen der Insekten noch mehr Blütenstaub aufzuwirbeln.
David hatte keine Antwort auf ihre Frage. Er wusste genau wie alle anderen so gut wie nichts über Merlin.
Am Ende der Wiese fanden sie einen Weg, der sie in sanften Bögen durch die Landschaft bis an die Schlossmauern führte. Aus der Nähe wirkte das Gebäude wie ein natürlich gewachsener Kristall. Am Fuß milchig-weiß und zu den Spitzen der einzelnen Stelen hin immer durchsichtiger, sodass sich das Licht in allen Farben darin brach und als Regenbogen-Aura spiegelte.
»Wo habt ihr so lange gesteckt?«
David hörte die Worte, ohne die Sprecherin sehen zu können. Doch es war unverkennbar eine weibliche Stimme. In ihr lag kein Tadel, eher eine Neckerei. Doch das dahinterliegende Gefühl hatte nichts von der vorgespielten Leichtigkeit. Trauer schwebte zwischen den Zeilen und vielleicht sogar eine Spur von Angst.