- -
- 100%
- +
Dann erreichen die Frauen die Tore des Kantinengebäudes und gehen an ihrem Aufseher vorher. Sie ziehen sich vor seinem gierigen Blick in sich selbst zurück, bevor seine Faust den Stacheldrahtknüppel packt. Die Frau geht an dem Aufseher vorbei. Er macht eine Bemerkung und grinst. 41-571512 kann nicht hören, was er ihr gesagt hat, aber sie erstarrt plötzlich und hebt den Kopf. Wut lässt ihren Körper erzittern, und ihre braunen Augen sind voller Hass. Sie spuckt dem Aufseher ins Gesicht, eingekreist von den entsetzten Blicken der anderen Frauen ringsum.
Das Gesicht des Aufsehers verzerrt sich zu einer animalischen Grimasse. Er brüllt auf, hebt die Hand und schwingt den Knüppel. Der Stacheldraht trifft das Mädchen quer über das Gesicht, bricht ihr die Nase ab, reißt eine Wange auf, zerschneidet ihre Lippen und sticht ein Auge aus. Andere Frauen kreischen und laufen durcheinander, während der Aufseher flucht und schreit, mit seinem Knüppel zuschlägt und mit jedem neuen Schlag totes Fleisch aus dem Leib des Mädchens reißt. Sie schreit vor Schmerzen, wimmert und heult, sinkt zu einer zerschundenen, blutigen Masse in sich zusammen, während die Schläge auf sie einprasseln. Der starke Arm zerfleischt ihren Rücken und entblößt das Rückgrat. Der Stacheldraht reißt Fleischstücke von ihren Rippen. Andere Wachen schreiten ein, schieben die Frauen mit Schlagstöcken zur Seite, dirigieren sie in eine Richtung und bringen sie zum Schweigen. Jemand ruft etwas. Ein Bokor eilt herbei, holt mit seiner Peitsche aus und lässt sie auf den Rücken des Aufsehers niederfahren.
Der Aufseher blickt mit einem mordlüsternen Ausdruck in den Augen auf. Seine Faust umklammert den Knüppel, von dem Blut und kleine Fleischstücke tropfen. »Vor aller Augen, du Dummkopf?« schreit der Bokor, außer sich vor Zorn. »Willst du, dass sie alle Amok laufen, du Idiot?«
»Was zum Teu...«, knurrt der Aufseher mit Schaum vor dem Mund, aber der Bokor schlägt noch einmal zu, diesmal quer über seine Arme, und der Aufseher verstummt, zitternd vor Wut.
»Melde dich auf der Stelle in der Zentrale! Und jetzt raus hier. Ich entbinde dich von deinem Posten!« Sofort flankieren zwei Wachen den Aufseher, und auf ein Nicken des Bokors hin bedeuten sie ihm, dass er mitkommen soll. Er wirft noch einen Blick auf das blutig geprügelte Mädchen und spuckt angewidert aus, bevor er sich von den Wachen abführen lässt.
Der Bokor geht auf das Mädchen zu. Ein Wachmann sieht ihn fragend an. Der Zauberer schüttelt nur den Kopf. Der Schaden ist zu groß. Ohne ein Wort zieht der Wachmann eine Pistole und feuert zwei Schüsse in den Kopf des Mädchens ab. Andere treiben die Frauen mit Schlagstöcken zum Frühstück, während der Bokor über sein Mikrofon meldet, dass ein Zombie eingeäschert werden soll.
Erst in diesem Moment wird sich der Bokor der starren Blicke durch den Zaun bewusst, der Schlange von Männern, die stehengeblieben sind, und ihrer Wachen, die wütend ihre Schlagstöcke zücken und deren Blicke ihn streifen, bevor sie sich wieder den Zombies zuwenden. Einige Wachen legen die Hände auf ihre Pistolen und Maschinenpistolen und sind bereit, bei der leisesten Provokation zu ziehen. Und dann lässt ihr Bokor seine Peitsche knallen, hebt theatralisch eine Hand und befiehlt mit seiner düsteren Stimme: »In einer Reihe aufstellen! In einer Reihe aufstellen!«
Der Bokor muss seinen Befehl mehrmals wiederholen, bevor die Zombies sich endlich beruhigen, langsam, viel zu langsam, und widerwillig gehorchen. Unter den aufmerksamen Blicken ihrer Wachen bilden sie wieder eine Schlange. 41-571512 folgt ihnen wie in Trance, während ein unerklärlicher Schmerz seinen Brustkorb durchbohrt. Den Blick auf den Nacken des Toten vor ihm gerichtet, marschiert er zur Arbeit. Das letzte, was er hört, sind die Worte, die der Bokor über sein Mikrofon an die Wachen richtet.
»Strenge Überwachung heute, verstanden? Heute und die nächsten zwei Tage! Und diese Vollidioten da drüben werden noch von mir hören!«
*
»Freier Wille? Lächerlich. Wie kann ein Toter einen freien Willen haben?«
*
Der Schmerz wird unerträglich, zerreißt ihn von innen, brennt und ätzt wie Säure, zerrt an ihm, durchbohrt und zerfleischt ihn, während 41-571512 eine Silikontastatur aus dem Kasten nimmt und in den Deckel eines Handys einsetzt. Das Fließband trägt den Deckel weg und holt einen neuen. 41-571512 zwingt sich, nach einer neuen Tastatur zu greifen und sie in den Deckel einzusetzen. Das Fließband bringt einen neuen Deckel. Er nimmt eine neue Tastatur. Und dann verschwimmt sein Blick, eine Träne rinnt ihm über die Wange und noch eine, eine nach der anderen, und er kann nichts dagegen tun. Er sieht den geschundenen Körper des Mädchens vor sich, zerfleischt von aufgewickeltem Stacheldraht. Und das animalische Gesicht des Aufsehers, während er brüllt und ihr Fleisch mit Schlägen bis zu den Knochen aufreißt, bis sie nicht mehr wiederzuerkennen ist, bis zum Tod.
Die Augen voller Tränen, sitzt 41-571512 einfach nur da, und die Handy-Deckel ziehen ohne Tastaturen an ihm vorbei. Der Zombie neben ihm sieht ihn verwirrt an. Die Deckel stapeln sich, verursachen eine Stauung auf dem Fließband. Die Ordnung des Fließbands ist gestört, löst sich ganz auf, und eine vorhersehbare Gleichmäßigkeit schlägt in Chaos um. Der Fertigungsprozess ist unterbrochen, während die Tränen strömen und auf die Deckel tropfen.
»He!« ruft eine Stimme hinter 41-571512. »Was zum Teufel ist mit dir los? Arbeite!« Der Wachmann winkt seinem Kollegen zu und kommt mit gezücktem Schlagstock vorsichtig näher. Auch der zweite Wachmann kommt herüber, und als er die Stauung auf dem Band sieht, gibt er ein Handzeichen. Eine Glocke tönt durch die Fabrikhalle, und das Fließband hält an.
»Wir haben hier einen Aussetzer!« warnt der zweite Wachmann über sein Mikrophon.
»Arbeite, hörst du?« befiehlt der erste Wachmann, aber 41-571512 reagiert nicht, als habe er den Wachmann gar nicht wahrgenommen. Er sieht nur den zerhackten Körper des Mädchens und das Monster, das mit dem Knüppel in der Faust über ihr steht. »Komm schon, arbeite!«
»Das liegt wohl an der Scheiße, die heute passiert ist«, sagt der zweite Wachmann mit Unbehagen. Er schaut sich nervös um. Sein Blick geht zwischen 41-571512 und der anderen Wache hin und her, dann wirft er einen Blick über die Schulter. »Warte besser auf den Bokor!«
»Ja ja, der Bokor wird's schon richten! Du willst mir doch nicht sagen, dass dieser Kadaver sich verliebt hat? Arbeite, du Scheißkerl!« Der erste Wachmann stößt 41-571512 die Spitze seines Schlagstocks in die Rippen. 41-571512 zuckt zusammen, hebt den Blick und wischt sich wütend die Tränen weg. »Na los, arbeite!« fährt ihn der Wachmann noch einmal an. 41-571512 nimmt eine Tastatur aus dem Kasten, doch im selben Moment hat er wieder das Mädchen vor Augen und knirscht mit den Zähnen. Sie knacken und quietschen. Er beißt sie so fest aufeinander, dass er sie fast im blutenden Zahnfleisch zermalmt. Etwas kocht in ihm, steigt hoch und zerplatzt, etwas, das wer weiß wie lang in Ketten gelegen hat, versklavt von Obszönitäten und Tritten und Peitschenschlägen und den Befehlen einer Grabesstimme. Und schließlich bricht es unaufhaltsam aus, wie ein Vulkan. Mit einem wilden Geheul drischt der Zombie mit beiden Fäusten auf die Handy-Deckel vor ihm ein. Er zertrümmert, was er in die Finger bekommt, das Plastik zerspringt, und Splitter fliegen umher, während der Zombie zerstört, zerlegt und auseinanderreisst und eine unsagbare Befriedigung bei all der Zerstörung empfindet. Er schlägt wieder und wieder zu und greift nach dem Kasten mit den Tastaturen und wirft sie durch die Gegend. Er springt von seinem Stuhl auf, hebt ihn hoch und schleudert ihn mit unbändiger Wut gegen das Metallgestell des Fließbands, während beide Wachen Verstärkung herbeirufen und fluchend und mit hoch erhobenen Schlagstöcken auf ihn losgehen.
Schläge treffen seinen Rücken, seine Rippen, seinen Kopf, doch 41-571512 beachtet sie nicht. Zwei weitere Wachleute laufen herbei und schlagen ihn, doch 41-571512 spürt keinen Schmerz mehr. Er wirft den Stuhl, der scheppernd zu Boden fällt. Ringsum eifern ihm die anderen Zombies nach, schreien wild durcheinander und zerstören alles in Reichweite. Einer wirft mit Leiterplatten und stürzt sich dann mit Begeisterung auf die Gehäuserückseiten, in die er sie montieren soll. Ein anderer drischt mit einem Stuhl auf den Nietroboter ein. Der Tote neben ihm schleudert die montierten Mobiltelefone auf den Boden, trampelt darauf herum und zertrümmert sie zu winzigen Bruchstücken. Weiter unten am Fließband, an der Teststation, schlagen zwei Zombies die Monitore ein. An der Packstation zerreißen die Zombies Kartons, Bedienungsanleitungen und Garantiescheine. Sirenen heulen durch die Werkshalle, als 41-571512 den Arm eines Wachmanns packt, den Mann zu sich zieht, auf das Fließband wirft und sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn lehnt. Der Wachmann schreit, als 41-571512 ihm mit einem einzigen brutalen Ruck den Arm von der Schulter reißt. Blut spritzt ihm entgegen, und 41-571512 genießt das Blut, seine Farbe, den Geruch, die Wärme, die Fülle, mit der es aus der Wunde schießt und seinen dünnen Kittel durchtränkt.
Ein Wachmann feuert mit seiner Pistole. Mehrere Kugeln treffen 41-571512 im Rücken, aber er nimmt sie bloß als vage, stumpfe Piekser wahr. Zwei Zombies stürzen sich auf den Wachmann. Andere flüchten, als die Toten ihm den Helm vom Kopf reißen. Ein Toter vergräbt seine Zähne in den Hals des Wachmanns, und der andere drückt ihm die Augen aus dem Schädel. Überall fließt Blut, während 41-571512 schreit, auf das angehaltene Fließband springt, den Arm hochhebt und wild krakeelt, heult und unverständliches Zeug brabbelt. Alle Zombies in der Halle springen auf und rufen durcheinander. Ihre Schreie, die Sirene, Schüsse und Detonationen verschmelzen zu einem ohrenbetäubenden Lärm.
Die Techniker und die restlichen Wachen laufen hinaus. 41-571512 springt vom Fließband, wedelt mit den Händen und ruft allen zu, dass sie ihnen folgen sollen: hinaus, durch die Tore und in die Freiheit. Die Massen strömen aus der Fabrikhalle und werden mit Maschinengewehrsalven von den Wachtürmen beschossen. Neben 41-571512 stürzt ein Zombie zu Boden, dem ein Geschoss den Schädel zerschmettert hat und auf einer Seite das Gehirn herausquillt. Aber die Flut ist nicht mehr aufzuhalten! 41-571512 läuft über den Hof, und die Zombies folgen ihm. Während Projektile ihm um die Ohren pfeifen, holt er einen Wachmann ein und reißt ihn zu Boden. Binnen Sekunden fällt ein wütender Mob über den Mann her und reißt ihn in Stücke. Seine unmenschlichen Schreie ertrinken in einer Flut von Blut.
Die Maschinengewehre feuert weiter von den Türmen herunter. Die Zombies torkeln in einem Kugelhagel vorwärts, fallen zu Boden. Manche richten sich wieder auf, stolpern weiter, fallen wieder, erheben sich von neuem. Andere bleiben mit durchlöcherten Köpfen liegen. 41-571512 steht auf, und Blut tropft von seinem Körper, das Blut seiner Unterdrücker. Sein Blick streift über den Hof: Maschinengewehre; Tote, die sich erheben; Wachen, die um ihr Leben kämpfen oder davonlaufen, um ihre Haut zu retten; hilflose Bokors, deren Befehle niemand mehr beachtet; die Zombies; der Stacheldraht und die Freiheit dahinter; Leben; Maschinengewehre; Tod; Maschinengewehre - auf den Türmen.
41-571512 läuft weiter, springt über die leblosen Körper hinweg, stürzt sich in das Getümmel und zwängt sich durch die Massen von Toten hindurch. Ein Wachmann stellt sich ihm in den Weg und feuert mit einer Maschinenpistole auf ihn. Die Kugeln durchbohren 41-571512, halten ihn aber nicht auf. Er rammt den Wachmann, stößt ihn dabei zu Boden, entreißt ihm die Maschinenpistole und wirft sie zur Seite. Andere Zombies fangen den entwaffneten Wachmann ein, beißen ihn mit ihren verfaulten Zähnen tot und reißen ihn mit ihren dürren, knotigen Händen in Stücke. 41-571512 erreicht den Wachturm. Über ihm mähen die Maschinengewehre alle auf dem Hof nieder. Er klettert ungehindert und unaufhaltsam die Leiter hoch. In dem ganzen Gemetzel nimmt kein Wachmann ihn zur Kenntnis.
41-571512 klettert Sprosse um Sprosse höher. Und als er die letzte Sprosse erreicht, springt 41-571512 den Schützen an, reißt ihn von seiner Waffe weg und wirft ihn wie eine Stoffpuppe auf den Hof hinaus, wo er von der Masse zerrissen wird. Der Ladeschütze greift nach seiner Pistole, aber 41-571512 ist sofort bei ihm, legt ihm die Hände um den Hals und beißt ihm ins Gesicht. Die Hände drücken zu und zermalmen seinen Kehlkopf. 41-571512 beißt große Fleischstücke heraus, schluckt sie und beißt noch mehr ab, und es ist ein herrliches Gefühl! Er lacht über dem toten Körper und kichert und johlt vor Freude. Und dann packt er die Maschinenpistole und lehnt sein Gesicht an den Kolben. Er weiß nicht, woher er weiß, wie es geht, aber er drückt den Kolben an seine Schulter und fasst den Griff mit der rechten Hand. Sein Zeigefinger krümmt sich von ganz allein um den Abzug. Als Kimme und Korn auf einer Linie sind, drückt 41-571512 den Abzug. Er spürt die Rückschläge in der Schulter, aber er hat die Waffe fest im Griff, als er auf die benachbarten Türme feuert. Die Einschläge sind ohrenbetäubend. Er feuert auf den nächsten Turm. Und dann auf den dritten und letzten. Die MG-Schützen bekommen gar nicht mit, von wo sie der Tod ereilt.
41-571512 feuert und feuert, doch plötzlich verstummt das Maschinengewehr. Der Patronengurt ist am Ende angekommen, alle Kugeln sind verbraucht. 41-571512 sieht hinunter: die Menge unter ihm wälzt sich voran, steigt über die Leichen hinweg. Die befreiten Sklaven reißen das Tor nieder und strömen in die Freiheit hinaus. Eine Welle unbändiger Freude bricht alle Dämme, zerreißt alle Ketten, fegt alle Angst und Flüche und Schläge und Bosheiten beiseite. Weißer Rauch steigt aus den Türen einer der Schlafbaracken auf. Die Hütte steht bald lichterloh in Flammen, und wenig später auch die anderen. Zombies mit Fackeln in den Händen laufen umher und bejubeln die Flammen. 41-571512 blickt über den dreifachen Stacheldrahtzaun hinweg: weibliche Zombies entkommen aus ihren Werkstätten. Es ist niemand mehr da, der sie aufhalten könnte. Ihre Wachen und Bokors wurden entweder getötet, als sie den Aufstand im Männerbereich des Lagers niederzuschlagen versuchten, oder sie sind davongelaufen. Beim Anblick der befreiten Frauen ist 41-571512 wieder mit Traurigkeit erfüllt. Zu spät für das Mädchen. Aber dann wischt er sich die Tränen weg und blickt auf.
Die warme Morgensonne vertreibt den letzten Hauch der grauen Kälte. Über dem IGZ hat sich der Nebel vom Fluss Sava gelichtet. Neue Freude erfüllt 41-571512, als er von seinem Platz auf dem Wachturm den Tag begrüßt, der vor ihnen liegt. Einige Zombies bleiben stehen und heben den Blick. Sie winken ihm zu, plappern fröhlich vor sich hin, jubeln ihm zu, weil er es war, der sie vom Tod zum Leben geführt hat. Auch andere bleiben stehen und jubeln ihm zu. Rings um ihn wogt ein Meer von Freiheit, als wollten sie ihn fragen, wohin sie jetzt gehen sollen, wohin als nächstes, welchen Weg sie nehmen werden? Und vielleicht weiß 41-571512 nicht alle Antworten. Aber er weiß, dass der Albtraum vorbei ist und die Sonne das Vorzeichen eines neuen Zeitalters für sie ist: die Toten sind ins Leben zurückgekehrt. Er zieht das Oberteil seines Arbeitsanzugs aus, der mit dem Blut seines Folterers getränkt ist, und schwenkt es über seinem Kopf, ruft ihnen allen zu, dass sie sich darunter versammeln sollen, unter der roten Flagge der Freiheit.
Deutsch von Michael K. Iwoleit
Die Argosie
Tagane stellte ihre Schale ab und betrachtete mit Sorge die Wolken im Westen, die sich bis hinauf zur Stratosphäre erhoben. Sie waren die Vorboten eines Gewitters. Auf der Steuerbordseite, eine halbe Meile entfernt, schwebten mehrere strahlend gelbe Blimps etwa fünfzehn Meter über den Wellen. Ihre Tentakel hingen bis zur Wasseroberfläche hinab und reichten zehn bis zwanzig Meter in die Tiefe, sanfte tödliche Fallen für alles, was sich in ihnen verfing. Marmorartige Muster auf ihren Blasen pulsierten friedlich zwischen Schwarz und Violett und gaben nicht zu erkennen, dass sich ein Gewitter zusammenbraute. Aber Tagane wusste, dass die Blimps nicht so niedrig schweben würden, wenn sie kein herannahendes Unwetter spürten. »Wir tauchen heute Nacht!«, sagte sie zu niemand bestimmtem.
»Sollen wir auf den Inseln nach einem Unterschlupf suchen?«, fragte Slaven. Mina hatte bereits aufgegessen. Sie aß gewöhnlich schneller als andere. Conrad beachtete die anderen nicht und holte sich einen Nachschlag aus dem Topf. Nur Roberta hob den Blick und begann schneller zu essen, gekochte Algen, die sie sich mit Essstäbchen in den Mund schaufelte. »Wir tauchen heute Nacht«bedeutete, dass es Zeit wurde, die Langleinen aus dem Wasser zu ziehen.
»Das würden wir nicht mehr schaffen«, sagte Tagane.
»Vielleicht wird das Gewitter nicht so stark.« Slaven hatte keine rechte Lust, die Leinen einzuholen. Sie wussten alle nur zu gut, dass nicht genug Zeit gewesen war, um etwas zu fangen. Jedenfalls nichts Erwähnenswertes.
»Wir werden nichts riskieren.« Tagane wandte sich den anderen zu: Slaven, Roberta, Mina und Conrad. »Ihr wisst alle, welche Gewässer unsere Argosie gerade durchquert.« Sie nickten wie ein Mann. Die Argosie ist so gut wie der Kapitän, dachte Tagane. Und der Kapitän ist so gut wie die Seeleute. »Los, esst auf, und dann machen wir uns an die Arbeit.«
*
Slaven hatte wie üblich recht. Gerade einmal etwas über fünfzig Pfund Flinkschwänze und ein paar Stachelfische. Sie vergeudeten nur ihre Köder. Große Klinker und 'kudas kamen nur nachts an die Oberfläche, wenn der Ozean in Flammen stand.
Aber Tagane hatte wie üblich auch recht. Während sie die Leinen einholten, alle Haken sicherten und die Fische ausnahmen, wurde der Wind stärker. Die Wellen begannen gegen die Flanken der Argosie zu spritzen und ihr Deck zu nässen, und das Schiff, offenbar unbeeindruckt von dem bevorstehenden Gewitter, blähte alle vier Segel. Die Argosie pflügte durch den aufgewühlten Ozean und zog schäumendes Kielwasser hinter sich her, vom Wind voran geschoben, getrieben von Instinkten aus einer Zeit, an die sich niemand mehr erinnern konnte.
»Soweit es uns betrifft...« Slaven trat von hinten an Tagane heran und schlang ihr die Arme um die Hüfte. Tagane nickte. Seine Berührung beruhigte sie. Tief in ihren Inneren murmelte die Argosie. Ihre Lust trieb auch Tagane an. Der Wind zerwühlte ihr pechschwarzes Haar und wälzte von Westen bleischwere Wolken heran. Auf einmal zuckte ein Blitz durch die Gewitterfront. Dann noch einer und noch einer. Es ist Zeit, beschloss Tagane. Die Argosie hielt immer noch ihre Segel ausgebreitet: ledrige Membranen von gut neun Metern Spannweite, von den starken Armen getragen und so gedreht und geneigt, dass sie möglichst viel Wind einfingen und die Argosie immer auf Kurs hielten. Aber die Argosie war schwer, angeschwollen, tief eingesunken; das Gewitter würde ihr einige Schwierigkeiten bereiten. Und sie spürte Taganes lautloses Flehen, ihr Unbehagen vor dem unbändigen Wind und dem entfesselten Ozean. Die Instinkte würden warten müssen.
Die Argosie ließ zwei Segel sinken und zog die Arme in ihre Schale. Roberta, Mina und Conrad hatten sich bereits ins Schiffsinnere zurückgezogen, in die längsseitigen Septa, die ihnen als Unterkunft dienten. Die Wellen schlugen höher, spülten übers Deck, und Schaum strömte die Seiten der Schale hinab. Schließlich zog die Argosie die letzten beiden Segel ein. Tagane spürte mehr, als dass sie hörte, wie die Kammern sich mit Wasser füllten und die Schale abzutauchen begann. In wenigen Minuten würden die Wellen über der Schale und den Personen zusammenschlagen, die sich darunter verbargen. Die Argosie würde in die stillen Tiefen versinken, sicher vor dem Toben eines tropischen Gewitters. »Gehen wir«, sagte Tagane und führte Slaven ins Schiffsinnere.
Ein naher Blitz flackerte über die innere Perlmuttschicht des Septums. Tagane warf durch die Sichtluke einen letzten Blick auf die von elektrischen Entladungen zerrissene Gewitterfront, ehe die Wellen über ihnen zusammenschlugen. Die Kammern waren gefüllt, und es ging abwärts. Vom Wind gepeitscht und von Blitzen durchstochen lief das Meer über ihnen förmlich Amok: eine heulende Bestie mit Schaum vor dem Mund, die mal stöhnte, dann wieder brüllte und jedes lebende Ding tief in die Stille hinein trieb, in eine Dunkelheit, geschmückt mit schillerndem Leuchtplankton wie Sterne in der Nacht.
Roberta lag auf einer Matratze aus getrockneten Algen. Conrad streckte sich neben ihr aus, nahm ihre Hand, küsste ihre Finger und leckte das Salz von der Handfläche. Roberta bewegte sich im Schlaf und seufzte kaum hörbar - man konnte sonst nicht viel tun unter Wasser. Mina hängte überall in der Kammer Lampen auf, kleine getrocknete Blimp-Blasen, gefüllt mit einem feinen Pulver, das aus getrockneten Fackelwürmern hergestellt wurde. Sie tauchte ihre Finger in eine Schüssel Wasser und besprenkelte das Pulver in allen Lampen. Wenn sie befeuchtet wurden, glühten sie in einem weichen grünlichen Licht, das durch die Sichtluken in die Tiefe drang. Ab und zu schlängelte sich ein Arm der Argosie durch das Licht.
Die Argosie sank immer tiefer, und das Gewitter war zuletzt nur noch ein gedämpftes Donnern von oben. Etwas schwamm durch das grünliche Leuchten, irgendetwas Großes, das selbst die Ausmaße des größten 'kudas übertraf. Tagane strengte ihre Augen an, aber die Dunkelheit hatte das Ding bereits verschluckt. Sie starrte noch eine Zeitlang in die Schwärze, dann zuckte sie die Achseln. Wer weiß, was in diesen Tiefen lauert, dachte sie. Aber sie fühlte sich sicher in der mächtigen, stabilen Schale der Argosie, die dem Druck in 1.500 Faden Tiefe standhalten konnte. Sie fühlte sich geschützt, bewacht von Dutzenden starken Armen. Die Jahrhunderte waren der einzige Feind einer ausgewachsenen Argosie.
Mina nickte in Richtung Roberta und Conrad, die umschlungen in den trockenen Algen lagen und sich küssten. Roberta spreizte schamlos die Beine. Conrad schob ihren knallbunten, blümchengemusterten Sarong hoch, entblößte ihren straffen Unterbauch und berührte sie dort, wo es am schönsten war. Seine Finger kraulten ihr Schamhaar, streichelten die Schamlippen und reizten ihre Klitoris. Mina verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: »Die beiden haben auch nur das Eine im Sinn.« Aber Tagane übersah nicht das lüsterne Funkeln in Minas neckischen grünen Augen. Die Leidenschaft sprang von der Argosie auf all ihre Passagiere über. Tagane spürte, wie sie durch ihren Körper strömte, auf ihrer Haut prickelte und sie feucht zwischen den Beinen machte.
Tagane streckte eine Hand nach Mina aus, die andere nach Slaven. Sie zog die beiden zur anderen Matratze und gab sich ihnen hin. Slaven zog sein T-Shirt und seine Jeans-Shorts aus. Sein Schwanz richtete sich stolz auf, während Mina Taganes beige Hose aufknöpfte und sie ihr über die Beine zog. Slaven zog ihr das weiße Flanellhemd aus und entblößte ihre vollen Brüste, dann wartete er darauf, dass Mina sich aus ihrem orangefarbenen Overall schälte. Schließlich nahmen sich beide ihres Kapitäns an und bedeckten ihr Gesicht und ihren Hals, ihre Brüste und ihren Bauch mit sanften, warmen und feuchten Küssen. Sie versank glücklich in einem kochenden Strudel, entflammt von ihrem schweren, heißen Atem, gereizt von ihren Fingern, Zungen und Lippen, und stöhnte in Extase, als Slavens Schwanz in ihre Möse glitt. Mina liebkoste und küsste sie beide, voll brennender Sehnsucht beim Anblick Slavens, der Tagane in langsamen, stetigen Stößen fickte, bis er schließlich erstarrte und in ihr kam, sie mit Sperma füllte. Im selben Moment kam es auch Tagane, und Mina fingerte sich fieberhaft zum Orgasmus, dann sackten alle drei auf der Matratze zusammen, Leib an Leib an Leib. Roberta und Conrad trieben es neben ihnen, er in ihr, sie um ihn, und das alles im Innern der Argosie, tief im Schoß des Ozeans, der ihr Leben war.
*
Das Gewitter ging vorbei, und der Ozean funkelte. Die Argosie trieb an der Oberfläche, ließ ihre Arme müßig durchs Wasser schlängeln, hatte die Segel eingezogen und ließ ihre Schale sanft von den Wellen umspülen. Tagane und ihre Mannschaft traten aufs Deck hinaus, ihre Leidenschaften befriedigt. Fürs Erste. Der Himmel über ihnen war mit Sternen gesprenkelt, der Ozean ringsum brannte.
Nach dem Gewitter war das Leben aus seiner Zuflucht in der Tiefe an die Meeresoberfläche zurückgekehrt: unermessliche Massen mikroskopischer Stachelkästchen, winzige Geschöpfe, die sich mit filigranen Schalen schützten, bewehrt mit Stacheln und ausgestattet mit Leuchtorganen. Ihnen folgten Fackelwürmer und Borstenwürmer und Lanzenköpfe; Schlangenschlucker, Gaffer und Beilfische und andere Tiefseefische, die bei Nacht an die Oberfläche kamen. Außerdem gefräßige Klinker und 'kudas und Stachelfische und wer weiß was noch, das im Ozean der Lichter, Fackeln und Laternen, die die Dunkelheit mit hellen Farben zerrissen, nach Nahrung suchte. Grün- und Blautöne, gelb, rot, weiß: glühend, miteinander verschmelzend und ineinander strömend, während das Plankton wimmelte. Schulen bildeten und zerstreuten sich und sammelten sich erneut, während rings um die Argosie das Leben wogte.




