- -
- 100%
- +
Tagane betrachtete den Ozean, der sie umgab. Sie hatte immer schon den Eindruck gehabt, dass die Farben nach einem Gewitter am strahlendsten leuchteten. In der Ferne erblickte sie dunkle Gebilde, die durch das Grün schnellten, etwas Großes und Ungewohntes, das sie noch nicht gefangen hatten. Was vielleicht auch besser so war, dachte sie. Rund fünfzig schwarze Blimps erhoben sich sechzig Meter über die Wasseroberfläche, von marmorartigen Mustern überzogen, die organgefarben leuchteten und sie immer an glühende Magmaklumpen erinnerten, die gerade erkalteten.
Plötzlich setzte sich die Argosie ruckartig in Bewegung. Tagane spürte ihre Unruhe für einen Moment, bevor sie ihre starken Arme hoch über die Wasseroberfläche hob und alle vier Segel ausbreitete, um möglichst viel vom leichten Wind einzufangen. Mina sprang auf die Füße, Roberta und Conrad nach ihr. »Meinst du ...?«, fragte Slaven.
»Möglicherweise«, nickte Tagane. Sie spürte, dass sie alle von neuer Unruhe erfasst wurden. Und die Argosie auch. »Wurde auch Zeit.« Mit Lasten beladen, bewegte sich die Argosie recht schleppend und war wenig geneigt, ihren Kommandos Folge zu leisten und in die gewünschte Richtung zu segeln, den Fischen, Algen und Fackelwürmern hinterher, von denen sie lebten.
Die Argosie segelte dahin, von einem Verlangen getrieben. Langsam und träge, aber sie segelte und zog ein helles Kielwasser hinter sich her. Als ob er das wortlose Flehen der Argosie erhörte, blies der Wind etwas stärker. Das Schiff und seine Mannschaft ließen die Blimps hinter sich, segelten über den flammenden Ozean, gefolgt von einer Schule Klinker, die sicheren Abstand zu den Armen der Argosie hielten. Tagane lehnte sich gegen die Reling. Der Wind schlug ihr kalt ins Gesicht und zerwühlte ihr Haar. Sie warf einen Blick auf Slaven, Roberta, Mina und Conrad. Die Anspannung zwischen ihnen nahm erneut zu. Auch in Tagane. Erwartungen, Nervosität, Unruhe. Sie betrachtete noch einmal ihre Seeleute, die Kameraden, mit denen sie die Argosie teilte. Ihretwegen lebte sie nicht auf den Inseln, in der Sicherheit festen Bodens unter ihren Füßen. Ihretwegen war sie auf dem Meer unterwegs und den Wind, den Strömungen und den Launen der Argosie ausgeliefert. Vor einem Gewitter konnten sie sich in die Tiefe zurückziehen. Vor den Ungeheuern waren sie durch die Arme eines wohlwollenden Ungeheuers geschützt. Ihretwegen, erkannte Tagane, segele ich. Und mit ihnen fühlte sie sich lebendig.
Man muss nicht leben, aber man muss segeln. Ein uraltes Sprichwort, das noch von der Erde stammte. Tagane hatte es vor langer Zeit gehört. Aber auf der Argosie gab es diesen Unterschied nicht. Leben und Segeln waren ein und dasselbe. Tagane begriff, dass sie sich ein Leben ohne Segeln nicht mehr vorstellen konnte. Und in gewisser Weise - gegen jede Logik, denn sie alle wussten, das sie nur Passagiere waren, die von der Gnade eines unendlichen Ozeans eingelullt wurden, der sich in Wahrheit nicht um seine Kinder scherte - erfüllte es sie mit Freude und Frieden.
»Tagane, schau mal! Da drüben«, wurde sie von Conrads Ruf aufgeschreckt. Sie hob den Blick, sah in die Richtung, in die sein Finger zeigte, und sah eine ferne Schale und Arme und vier ausgebreitete Segel. Eine zweite Argosie.
Bevor sie etwas sagen konnte, spürte Tagane, dass die Kammern sich rasch mit Wasser füllten, schneller als üblich. »Rein mit euch!«, befahl sie, und sie alle verkrochen sich hastig in der Schale, in ihrer Luftblase, während die Argosie tauchte, getrieben von einem Instinkt, über den sie keine Kontrolle hatte.
*
»Er ist riesig«, flüsterte Mina, ihre Nase an die Sichtluke gedrückt. Tagane entging nicht das Zittern, das ihren zerbrechlich wirkenden Körper durchfuhr. Sie spürte es selbst. Sie alle spürten es - es war das Zittern der Argosie. Anspannung. Erwartung. Süßes Verlangen.
»Er ist nicht größer als unsere Argosie«, sagte Slaven.
Aber auch nicht viel kleiner, befand Tagane. Das Männchen war in etwa fünfzig Faden Tiefe zur Ruhe gekommen, die Arme angelegt, die Segel eingezogen. Seine Schale war ein dunkles, eiförmiges Gebilde inmitten der schimmernden Aquarelle der Farben. Er wartete darauf, dass ihre Argosie auf ihn zukam.
»Siehst du jemanden?«, fragte Conrad. Tagane schaute durch die Sichtluken, aus denen milchig grünes Licht drang, das das Männchen einhüllte. Und ja, sie sah einen Mann. Sie winkte ihm zu. Er winkte zurück. Und dann erschien ein zweiter Kopf neben ihm, der Kopf einer Frau.
»Wir haben Gäste!«, rief Tagane. Alle waren begeistert. Es wurde Zeit für ein wenig Veränderung. Sie drängten sich alle neben Tagane um die Lichtluke zusammen, um zu sehen, was auf sie zukam.
»Ich kann nichts sehen«, klagte Roberta. Die Argosie näherte sich dem Männchen, der zweiten Argosie.
»Sie kommen mir nicht bekannt vor«, sagte Slaven. Er winkte den drei Köpfen zu, die sie inzwischen aus dem Männchen beobachteten. »Es könnten Leute aus dem Norden sein. Die nördliche Strömung ist in diesen Monaten recht stark.«
Und dann, durch den brennenden Ozean, streckte die Argosie einen Arm aus und berührte das Männchen. Sie betastete seine Schale und strich über seine Arme. Sie umfuhr sein riesiges Auge und streichelte sein Schild. Tagane wusste, dass das Weibchen immer als erstes einen Arm ausstreckt. Das Weibchen lädt immer als erstes zum Tanz. So verlangen es die Tradition und die Sitten der Argosies.
Das Männchen musste nicht lang umgarnt werden. Taganes Herz machte einen Sprung, als es seine Arme ausbreitete und auf die Argosie zukam. Auch sie streckte ungeduldig ihre Arme aus. Das Männchen verharrte für einen Moment, dann kam es ganz nah. Sein Saugrohr verband sich mit dem der Argosie. Wer immer sich im Männchen aufhielt, das wusste Tagane, würde durch das Saugrohr in ihre Argosie hinüber steigen. Die Mannschaft des Männchens kommt immer zum Weibchen hinüber. Sie alle - Tagane, Slaven, Roberta, Mina und Conrad - starrten angespannt auf die fleischige Membran vor dem Eingang der Kammer.
Die Membran öffnete sich, und ein mittelalter blonder Mann in Begleitung zweier jüngerer Frauen betrat ihr Zuhause. Die Mannschaft der anderen Argosie bestand nur aus drei Leuten, was Tagane ein wenig beruhigte. Es wäre ihr alles andere als recht gewesen, wenn sieben oder acht Männer die Kammer betreten hätten, mit vielleicht einer oder zwei Frauen. Und Mannschaften konnten sich ihre Schiffe nicht aussuchen. Die Argosies trafen die Wahl.
Sie sind auch nervös, erkannte Tagane. Sie spürten das Drängen des Männchens, so wie Tagane das Drängen ihrer Argosie spürte. Und sie kennen uns nicht, wie auch wir sie nicht kennen. Tagane lächelte. Ein Lächeln brach immer das Eis. Die Frauen antworteten mit einem sichtlichen Flattern ihrer Herzen. Der Mann lächelte auch. »Ich bin Sven«, sagte er. Der Kapitän, der den Besuch abstattete, ist immer der oder die erste, die sich vorstellt. »Tilda und Marina.«
Tagane stellte sich und dann ihre Seeleute vor. »Kommt rein«, sagte sie und begrüßte die Gäste in ihrer Argosie mit offenen Armen. Sie musterte die drei, während sich die Membran hinter ihnen wasserdicht schloss, und kam schließlich zu dem Schluss, dass sie die Besucher mochte.
»Ihr müsst aus dem Norden kommen«, sagte Slaven und trat auf sie zu.
»Ja, der nördliche Strom ist in diesem Jahr sehr stark«, erwiderte Sven mit einem Nicken. Sein Blick blieb an Roberta und Mina hängen. Er mochte Tagane und ihre Seeleute auch, vielleicht die ersten fremden Gesichter, die er seit Monaten gesehen hatte. Trotzdem blieben Tilda und Marina etwas reserviert.
Dann erzitterte die Argosie. Sie wussten alle, was gerade geschah. Sie konnten es in sich spüren, in ihren Herzen pochen, in ihren Schläfen trommeln. Die Weibchen und das Männchen klammerten sich aneinander, verschlangen ihre Arme, zwei Argosies, die sich in lebhaften Zuckungen vereinten. »Unsere Argosie ist ziemlich ungeduldig«, sagte Tilda mit trockenem Mund, als müsse sie sich entschuldigen.
»Ja«, brummte Tagane, nahm Sven an der Hand und führte ihn zur Matratze. Der Kapitän machte den Anfang. So war es Tradition und Sitte bei den Seeleuten. »Und unsere Argosie hört kaum noch.« Die Argosie erzitterte wieder, diesmal stärker. Ihr Verlangen traf Tagane wie ein Blitzschlag, riss sie auseinander und verbrannte sie zu Asche wie einen alten Baum. Mit zittrigen Fingern streichelte sie Svens unrasierte Wangen, zerzauste sein Haar und zog ihn an sich, so wie die beiden Argosies sich gerade mit ihren kraftvollen Armen umklammerten. Sie küssten sich, anfangs kurz, unsicher, und dann sahen sie einander in die Augen - Augen, die nichts als Verlangen ausdrückten - und küssten sich wieder und konnten mit dem Küssen nicht mehr aufhören, angetrieben von der Lust ihrer Argosies. Sie zogen sich hastig aus, und Sven drückte Tagane sanft in die trockenen Algen. Tagane spreizte die Beine für ihn, bereit für ihn, feucht für ihn, und nahm ihn - hart und angeschwollen - in sich auf, nahm ihn ebenso, wie er sie nahm, gab sich ihm hin, wie er sich ihr hingab, mit Freude, hieß ihn willkommen, so wie ihre Argosie das Männchen willkommen hieß. In den Nebel ihrer Leidenschaft versunken, fickten die beiden Kapitäne, geborgen in einem schwitzenden, zitternden, brennenden Meer aus den Körpern ihrer Seeleute.
All das kam Tagane in kurzen Momentaufnahmen zu Bewusstsein, in Ausbrüchen von Farbe, die in den Ozean ringsum ausströmte. Smaragdgrün: Conrad mit Tilda, die auf ihm ritt, von seinem Schwanz aufgespießt, und mit ihrem unbändigen kastanienbraunen Haar durch die Luft peitschte, und Mina - die süße, stets hilfreiche Mina -, die beide liebkoste und küsste. Orange: Marina, in einem orgasmischen Krampf, die Beine eng um Slaven geschlungen. Himmelblau: Slaven, der nach einem lautstarken Orgasmus in sich zusammensackte, erschöpft, mit schweißnasser Stirn, Roberta an seiner Seite liegend, gleich neben Marina, die sie mit einem Lächeln akzeptierte, und die beiden küssten und umarmten und streichelten sich; und Roberte, die nach unten rutschte und Marinas angeschwollene Möse leckte, von krausem blonden Haar an der Nase gekitzelt, während sie sich an Slavens Samen erfreute, der zwischen den Schamlippen hervor rann. Grün: Sven, der stöhnte und Worte in einer nordischen Sprache hervor bellte, die Tagane nicht verstand, dann erstarrte und sie mit seinem Sperma füllte, und sie genoss es ebenso wie er und schloss sich ihm nach einer kurzen Pause an, als er Mina befummelte, ihren Hintern anhob und in sie eindrang. Feuerrot: Slaven, der Tilda wilde fickte, immer wieder seinen Schwanz in sie hinein stieß. Gelb: Conrad, der sich zu Marina und Roberta gesellte, und dann kam auch Tagane dazu, fasste ihn am Schwanz, positionierte ihn vor Marina und führte ihn ein; und er drang in sie ein, und die beiden bumsten, während Roberta und Tagane sie küssten und streichelten und ihnen den Schweiß von der salzigen Haut leckten, bevor sie sich einander zuwandten. Violett: Mina und Sven, dem es nach mehreren Minuten heftigen Stoßens kam, aber er hatte immer noch nicht genug, und seine starken Arme drehten Mina auf den Bauch; und er küsste und tätschelte ihren straffen Hintern, bevor er sie von hinten bestieg. Weiß: Slaven und Tilda, die sich neben ihnen aneinander pressten. Acht Körper, zu einem heißen, schwitzenden Malstrom aus Küssen und Lecken, Streicheln, Reiben und Reizen, Ficken und Bumsen vereint. Ein kontinuierlicher Strom von Orgasmen, die zu einem einzigen großen Höhepunkt ineinander übergingen, den Worte nicht beschreiben können. Atemlos, mit schwindendem Bewusstsein, während die beiden Mannschaften und die zwei Argosies ein neues Leben schufen, inmitten des Feuerwerks unzähliger Lebewesen, mit denen sie den Ozean teilten.
*
Das Feuerwerk verpuffte, die Nacht ging in die Dämmerung über. Tagane befreite sich aus dem Bündel von Leibern, die ausgestreckt auf den Algen lagen. Ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken, zog sie Marinas Hand von ihren Brüsten und eine Locke ihres blonden Haars von ihrem Hals, dann stand sie zitternd auf, kaum imstande, auf ihren Beinen zu stehen. Sie hatte Hunger. Das kann warten, beschloss sie und trat an die Sichtluke. Die beiden Argosies hatten immer noch ihre Arme verschlungen. Tausende transparenter Kugeln, so groß wie Taganes geballte Faust, trieben im Meer. Eier, befruchtete Eier. Befruchtet in einer Nacht der Instinkte und Leidenschaften und süßer Hingabe von Mensch und Tier, in einem Ozean, der sie alle nährte, der ihr Zuhause war - einem Ozean des Lebens.
Tagane wusste nicht, wie lang sie durch die Sichtluke starrte. Plötzlich spürte sie einen warmen Atem in ihrem Rücken. Die unrasierte Wange lehnte sich an ihr Gesicht. Tagane hob eine Hand und fuhr mit den Fingern durch Svens Haar. Sven ließ seine Hand auf ihren Bauch sinken und streichelte ihn sanft und fürsorglich. Der Drang war befriedigt, alles war gemäß den Traditionen und Sitten der Argosies und Seeleute getan worden. »Woran denkst du?«, flüsterte Sven und küsste ihren Hals.
Die Leiber auf den Matratzen rührten sich. Mina murmelte etwas im Schlaf. Slaven drückte sie an sich, und sie wurde wieder ruhig. Conrad schlummerte neben Roberta, Tilda und Marina. Alle vier schliefen fest, und Tagane wusste, dass sie eine ganze Zeit nicht mehr aufwachen würden. Mit ihrer Hand bedeckte sie Svens Hand auf ihrem Bauch. Vielleicht hatte in der letzten Nacht ein neues Leben begonnen, wer wusste das schon? Wenn sie Glück hatten, mochten sie alle mit Kindern gesegnet sein.
Tagane sah durch die Sichtluke zwei neue kleine Argosies, gerade erst gezeugt, in die Tiefe sinken, wo sie schlüpfen und wachsen und reifen und - wenn sie das Glück hatten, unzähligen, mit scharfen Zähnen gespickten Kiefern zu entkommen - eines Tages groß und mächtig an die Meeresoberfläche zurückkehren würden. Als ausgewachsene Argosies.
Und Argosies brauchten immer Kapitäne und Seeleute.
Deutsch von Michael K. Iwoleit
Fußspuren am Strand
Zähne. Scharf, nach hinten gebogen und gezackt, um besser Fleisch zerreißen zu können. Zähne, die sich durch eine friedliche Herde Iguanodons beißen, die im frühen Morgenlicht grasen.
Die Meute brüllender Megalosaurier - graue, mit grünen Tarnflecken gesprenkelte Raubtiere - jagte über die Waldlichtung und stürzte die Iguanodons in blinde Panik.
Inmitten der schrecklichen Schreie war Sie, auf die Hinterbeine aufgerichtet, während sie durch die aufgeschreckte Herde lief, sich nur der Zähne eines Megalosauriers bewusst, der den Abstand immer mehr verringerte, der schneller war als Sie, dessen speicheltriefende Kiefer nur darauf warteten, sich in Sie zu verbeißen. Instinktiv - es blieb keine Zeit zum Denken - schwang sie Ihren kraftvollen Schwanz und holte aus. Der Megalosaurier wich geschickt dem tödlichen Schlag aus, der ihn beinahe am Kopf erwischte, kam dabei aber aus dem Tritt. Seine Kiefer schnappten ins Leere. Aber der Räuber gab nicht auf.
Nichts als diese Kiefer im Kopf, tauchte Sie geräuschvoll zwischen die hohen Palmfarne, Gingkos und Magnolien in der Hoffnung, die blutrünstige Bestie abzuschütteln, wenn sie durch das Dickicht abgebremst wurde und Ihr einer Chance zur Flucht gab. Sie sprang über einen umgestürzten, moosbedeckten Baumstamm. Ihr wuchtiger Körper preschte durch Sprösslinge, ihre schweren Füße zertrampelten Schachtelhalme und Farne unter ihr. Aufgeschreckte Insekten stoben nach rechts und links davon. Etwas Winziges, Haariges flitzte ins Dickicht und rettete sich im letzten Moment davor, zertreten zu werden.
Sie hörte einen Schrei hinter sich - das Geräusch tiefer Wunden und eines nahen Todes. Ein schwerer Körper brach mit einem dumpfen Laut in sich zusammen. Sein steifer Schwanz trommelte hilflos auf den Boden. Für einen Moment sah sie Vorderbeine durch die Luft zucken, als das unglückliche Geschöpf versuchte, seinen Angreifer mit spitzen Daumenstacheln zu erdolchen. Die Laute des Tötungsaktes wurden leiser, während Sie weiter lief. Hungrige Raubtiere knurrten und fauchten, während sie sich um die besten Stücke Fleisch balgten, die einem noch lebenden Iguanodon aus dem Leib gerissen wurden. Heißes Blut schoss hervor und färbte die Welt rot.
Angetrieben von Panik, von den Schreien eines gnadenlosen Gemetzels, die in Ihrem Kopf widerhallten, hatte Sie gar nicht bemerkt, dass Ihr Verfolger Ihr gar nicht mehr nachjagte - dass er umgekehrt war, um sich seinen Anteil an dem Gemetzel zu sichern. Als Sie längst in Sicherheit war, hetzte sie immer noch kopflos durch den Wald, bis schließlich eine Spur Vernunft Ihren Schrecken überwog und Ihr sagte, dass es vorbei war. Erschöpft und außer Atem hielt sie inne und lauschte dem Pochen ihres Herzens in ihren Ohren.
Ringsum flüsterte der uralte Wald: das leise Schnattern kleiner gefiederter Dinosaurier, die sich unter Farnen versteckten, mit Krallenfüßen durch trockene Blätter scharrten, auf der Suche nach etwas, das klein genug war, um es packen und verschlingen zu können; die Pfiffe von Pterosauriern, die über ihr Libellen jagten, mit grauen, ledrigen Flügeln schlugen, während sie geschickt hohe Bäume umkurvten. Dies waren alles vertraute Geräusche, die Sie jeden Tag hörte.
Erleichtert kam sie zu dem Schluss, dass die Gefahr gebannt war, Sie den Räuber abgeschüttelt hatte.
Aber wo befand Sie sich nun? Sie schaute sich um.
Die hohen Sequoien - dicke Säulen mit rötlicher Rinde - kamen Ihr nicht bekannt vor. Nach einer kurzen Erkundung wurde Ihr klar, dass Sie diesen Teil des Waldes noch nie gesehen hatte. Sie hob den Kopf, holte tief Luft und stieß einen langen, traurigen, durchdringenden Ruf aus. Dann horchte Sie. Jedes lebende Wesen im Wald ringsum verstummte, aus dem täglichen Einerlei geschreckt durch diesen fremdartigen, lauten Ruf. Sie rief erneut und lauschte. Stille. Sie rief ein drittes Mal - aber es kam keine Antwort. Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatte sich so weit von der Herde entfernt, dass die anderen Sie nicht mehr hörten. Und das erfüllte Sie mit Unbehagen, Angst, Beunruhigung. Den ganzen Tag rief und horchte Sie, rief und horchte, rief und horchte. Schließlich rief Sie nur noch und wurde mit jedem unbeantworteten Ruf ein Stück verzweifelter. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Sie von der Geborgenheit der Herde getrennt.
Zum ersten Mal in Ihrem Leben war Sie allein.
*
Vesna sitzt auf der Bank unter den Kiefern. Über dem Meer lodert der Sonnenuntergang und setzt den Himmel in Flammen. Hinter ihr, in einem Lorbeerbusch, warnt ein kleiner Dinosaurier mit wachsamen Augen, dass eine Katze umher schleicht. Der Dinosaurier hat Flügel, schwarze Federn und einen gelben Schnabel. Neben Vesna, auf Blättern in ihrer Mappe skizziert, ruhen einige andere Dinosaurier: ferne Verwandte der Schwarzdrossel mit den wachsamen Augen, der tschilpenden Spatzen, der Blaumeise über ihr und der Möwen, die vom Meer zurückkehren.
Eine blonde Haarlocke fällt Vesna über die Augen. Sie wischt sie ärgerlich weg. Und dann entladen sich die aufgestauten Gefühle dieses Tages wie Magma von irgendwo tief in ihrem Innern, und ihre wasserblauen Augen füllen sich mit Tränen. Vesna bedeckt ihr Gesicht mit den Händen, und ein Schluchzen erschüttert sie. Der Knoten in ihrem Bauch, der sich seit heute früh zusammengeballt hat, droht zu platzen. An der Grabungsstätte ist es ihr irgendwie gelungen, sich zusammenzureißen, ihre Tränen vor den Kollegen zu verbergen, Fragen und mitleidigen Blicken auszuweichen. Jetzt aber ...
Das Schluchzen bringt Erleichterung, und nach einigen Minuten beruhigt sie sich, schnieft, wischt die Tränen von den Wangen und fühlt sich etwas besser. Taschentücher. Sie greift nach einer Packung Papiertaschentücher in ihrer Tasche.
Plötzlich wird sie einer Hand gewahr, die ein ordentlich zusammengefaltetes, völlig sauberes Taschentuch hält.
Die junge Frau hebt ihren tränenfeuchten Blick. Ein Herr, den sie auf über sechzig schätzt, steht vor ihr, das graue Haar mit einem Mittelscheitel, der Schnurrbart sauber gestutzt. Er trägt einen tadellosen, sandfarbenen Anzug, passend für den frühen Herbst, einen Schal um den Hals und einen Spazierstock in der anderen Hand.
»Danke.« Vesna nimmt das Taschentuch, wischt ihre Tränen weg und schnäuzt sich die Nase. Sie gibt das Taschentuch mit einem verlegenen Lächeln zurück, als täte es ihr leid, dass sie sich zum Narren gemacht hat. Sie fragt sich, wie lang er hier gestanden hat. »Ich fürchte ...«
»Das ist überhaupt kein Problem, junge Dame«, erwidert der Mann mit einer leichten Verbeugung. Vesna lächelt erneut und seufzt. Es wird spät, Zeit zu gehen. Sie hebt ihre Tasche und ihre Mappe auf. Lorbeer, Oleander und Kiefern versinken in der Dunkelheit. Die Nacht schleicht sich in verborgene Winkel des Gestrüpps, und Dinosaurier, die heute Vögel sind, suchen sich einen Schlafplatz und werden verstummen. Von der kiesbedeckten Promenade dringt Licht herüber. Es wird Zeit, in ihr billiges Hotelzimmer zurückzukehren, wo sie wahrscheinlich noch mehr weinen wird.
»Entschuldigen Sie, junge Dame.« Vesna spürt eine Spur Dringlichkeit, fast etwas Flehendes in der Stimme des Mannes. Sie hält inne. »Ich habe den Eindruck - verzeihen Sie mir, wenn ich mich irre -, dass Sie einen anstrengenden Tag hinter sich haben. Wenn Sie erlauben: Vielleicht kann ich Sie irgendwo zum Abendessen einladen?«
Sein Angebot kommt für Vesna ganz überraschend. Sie weiß nicht, was sie antworten soll. Der Mann, der vor ihr steht, könnte ohne weiteres ihr Großvater sein. Ein Dinosaurier, denkt sie boshaft und schämt sich sogleich dafür. Irgendwie hat sie das Gefühl, dass er, ebenso wie die Dinosaurier, nicht in diese Welt und Zeit gehört, und genau das könnte der Grund sein, warum sie sich plötzlich von ihm angezogen fühlt. Und warum auch nicht?, fragt sie sich nach kurzem Nachdenken.
»Vesna.« Sie lächelt, als sie sich vorstellt und dem Mann die Hand hinhält. Er nimmt ihre Hand in seine und küsst sie behutsam, wie ein wahrer Gentleman. Vesna hebt eine Augenbraue, überrascht und amüsiert über die altmodischen Manieren des Mannes. Sie versucht sich zu erinnern, ob schon einmal jemand auf diese Weise ihre Hand geküsst hat. Nein, bis heute nicht.
»Šarić. Professor Šarić.« Der Mann stellt sich mit einer leichten Verbeugung vor. Etwas an dieser Verbeugung erfüllt sie mit Zuversicht, und sie gestattet ihm, sie bei sich unterzuhaken, und führt sie über den Gehweg. Nach zehn Minuten erreichen sie ein Restaurant mit einer gemütlichen Terrasse. Im selben Moment, als der Mann ein gemeinsames Abendessen vorschlug, hat Vesna bemerkt, wie hungrig sie ist. Irgendwo über ihnen, in der dichten Kiefernkrone, ruft ihr ein kleiner nachtaktiver Dinosaurier, gedrungen, mit braunem Federkleid, großen gelben Augen und einem schwarzen Schnabel - eine kleine Eule -, von seinem Ast aus zu, bevor er sich auf die Jagd begibt.
*
Sie folgte dem Bach, den Sie an dem Tag entdeckte, nachdem die Megalosaurier Ihre Herde angegriffen hatten, und erreichte nach fünf Tagen das Meeresufer. Der Bach murmelte durch den Wald, floss mit anderen Bächen zusammen und weitete sich nach zwei Tagen zu einem trägen Fluss. Klares Wasser stillte ihren Durst - klares Wasser, das Sie durch ein seltsames, unbekanntes Land führte.
Vor Ihr erstreckte sich das Meer. Zum ersten Mal in Ihrem Leben sah Sie Plesiosaurier, deren ferne, kleine Köpfe sich auf langen, gräulichen Hälsen hoch über die Wellen erhoben, unter ihnen ihre Körper und die Flossen, die durchs Wasser schlugen. Gegen die Wolken zeichneten sich die Silhouetten großer Pterosaurier ab, die ihre Kreise zogen, von aufsteigender warmer Luft getragen, ihre langen Flügel bewegungslos. Mehrere kleine Pterosaurier - mit gefalteten Flügeln und langen Schwänzen, nackten roten Köpfen und mit nadelspitzen Zähnen gespickten Kiefern - labten sich an einem toten Fisch am Strand.
Sie schritt über den weichen Sand und hielt inne, um an einer großen, spiralförmigen, an den Strand gespülten Ammonitenschale zu schnüffeln. Der Geruch von Verwesung aus dem Inneren der Schale war neu für Sie. Neugierig stupste Sie die Schale mit Ihrer Nasenspitze an, aber nichts kroch daraus ins Freie. Als Sie wieder aufblickte, bemerkte Sie eine Spur von Fußabdrücken, die über den Strand führte, dann abknickte und unter den Palmfarnen und Araukarien verschwand. Sie sah genauer hin und entdeckte weitere Fußabdrücke, ganz winzige, die die flinken Füße eines kleinen Dinosauriers zurückgelassen hatten. Und große, kreisrunde Abdrücke, die Spuren eines Sauropoden, einem Herdentier wie Sie selbst, das Sie einmal gesehen hatte, mit Beinen dick wie Baumstämmen, die einen massigen Körper trugen, einem langen Hals und peitschenartigem Schwanz. Sie blickte zurück: Sie selbst hatte auch Fußabdrücke hinterlassen. Aber da war noch eine andere Reihe von Fußspuren. Ihre Nüstern blähten sich, als Sie den schwachen, verblassten Geruch einatmete, den Geruch erkannte und erstarrte. Ein Megalosaurier war hier vor einiger Zeit auf der Pirsch gewesen. Vielleicht hatte er hier nach Aas gesucht, bevor er in den dunklen Wald zurückgekehrt war. Oder vielleicht jagte er immer noch. Zähne... Auch hier lauerte Gefahr, erkannte Sie. Sie musste vorsichtig sein. Dennoch war Sie relativ sicher, solang Sie sich am Strand aufhielt. Es wäre für einen Fleischfresser schwierig, sich auf offenem Gelände an Sie heranzuschleichen und Sie anzuspringen.




