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Schon seit Jahren stritten Simon und Eugen über die Entstehungsursachen des Krieges. Sie taten es leidenschaftlich, sehr grundsätzlich und mit der Freude am intellektuellen Wettstreit. Ihre beiden Positionen waren seit Langem unverändert gegensätzlich, aber immer wieder bemühten sie sich, ihren Auffassungen neue Facetten hinzuzufügen. Noch immer hoffte jeder von den beiden, dass er eines Tages den anderen überzeugen werde.
Simon vertrat die Auffassung, an diesem letzten Krieg, wie an allen anderen Kriegen auch, sei die Unfähigkeit des Menschen schuld, seinen technischen Fähigkeiten moralische Schranken zu setzen. Wie auch immer, die Menschen seien nicht imstande, tödliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. Sie könnten einfach nicht wissen, ob andere es ehrlich mit ihnen meinten. Misstrauen und Rüstung seien die natürliche Folge. Der Krieg sei immer das Überhandnehmen von Misstrauen und Rüstung.
Eugen setzte dem immer erst einmal entgegen, diese Betrachtungsweise sei viel zu ernsthaft. Heute sei die Zeit gekommen, aus der ironischen Distanz auf die Vergangenheit zu sehen. Gerade weil alles verloren sei, müsse man mit größerer Freiheit an die Erklärung gehen. Er mokierte sich über Simons anspruchsvolle Gedankengebäude und nannte sie bestürzend vollkommen. Sie hätten, wie sich Eugen auszudrücken pflegte, ›philosophische Vorkriegsqualität‹. Vor allem wenn er sich so über Simons Thesen lustig machte, geriet Eugens Stimme völlig außer Kontrolle und begann sich zu überschlagen.
Eugens Erklärung wiederum war so, dass Simon nicht müde wurde, ihr groteske Beliebigkeit anzuprangern. Eugen vertrat nämlich die Meinung, die Kriege seien ein Produkt der außer Kontrolle geratenen Ästhetik. Gerne zitierte er in diesem Zusammenhang Zeitungen, die er bei seinem Besuch in Bamberg in einer Bibliothek eingesehen hatte. Da hätten Journalisten, die es weit von sich gewiesen hätten, dass sie als Verherrlicher des Krieges bezeichnet wurden, seitenlang von der Schönheit und der Präzision neuer Waffen geschwärmt. Sogar die Vernichtungskraft sei häufig mit einer Sprache gefeiert worden, die an Feuilletonberichte über gewisse Opernaufführungen gemahnte. Simon ärgerte sich jedes Mal, wenn Eugen die Zeitungen zu zitieren begann, weil er meinte, dass das eine unfaire Diskussionsweise sei. Er könne diese Behauptungen nicht überprüfen, sodass Eugen einen Vorteil in Anspruch nähme, der ihm nicht zustünde. Vor längerer Zeit, mitten in der Hitze der Diskussion, hatte Eugen darauf geantwortet, er, Simon, könne ja, wenn er Lust habe, nach Bamberg gehen und alles überprüfen. Damals war Simon sehr getroffen gewesen und hatte über zwei Wochen lang kein Wort zu Eugen gesagt.
Auch an diesem Abend waren die beiden nach kurzer Zeit wieder bei ihren alten Thesen. »Was du vergisst«, sagte Simon, »ist die Tatsache, dass das Bewusstsein unserer Vorfahren einfach nicht deinen Konstrukten entsprochen hat. Sie haben sich bemüht, den Krieg zu verhindern. Was du dauernd zitierst, das mögen ja einige Journalisten einmal geschrieben haben. Aber deshalb ist es doch noch lange keine Erklärung für den Krieg!«
Hier kreischte Eugens Lachen so laut auf, dass sich einige Schläfer unruhig herumwarfen und fast aufgewacht wären. »Diese Forderung, mein Lieber, ist ja wieder einmal von bestechender Logik! Unsere Vorfahren! Soll ich wirklich meine Erklärung daran messen, ob sie den Einsichten einer Welt voll Geisteskranker entspricht? Das ist doch wieder so, als ob ich einen von unseren kleinen Narren nur so behandeln dürfte, dass es seinen dumpfen Gefühlen verständlich wird.«
Dies war ein Punkt, an dem sich Simons und Eugens Meinungen wiederum grundsätzlich unterschieden. Während Simon nicht aufhörte zu betonen, man müsse die frühere Geschichte und die eigenen Vorfahren trotz des Krieges mit Ernst und Ehrfurcht betrachten, sprach Eugen immer nur von den Idioten, die vor dem Krieg gelebt und alles verschuldet hätten. Simon wurde atemlos vor Zorn, wenn Eugen derartig blasphemisch sprach. Auch jetzt schwieg er, und man hörte nur ein Atemgeräusch, das sich von einem Röcheln langsam zu einem tiefen Stöhnen steigerte.
An Abenden wie diesem war es schon vorgekommen, dass sie kein Ende gefunden hatten. Am Morgen, wenn die anderen aufstanden, saßen sie noch immer am Feuer und stritten. Heute Abend allerdings überwanden sie diesen Punkt der Diskussion. Sie kamen auf das Thema zurück, das sie am Nachmittag schon einmal besprochen hatten. Es war Eugen, der das Gespräch wieder auf Jolanda brachte.
»Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir die Frage, ob unsere Vorfahren alle Idioten waren, zurückstellen sollten. Wir haben jetzt wichtigere Dinge zu besprechen. Oder bist du anderer Meinung?«
Simon, dem dieses Gezänk über die geistige Verfassung der Vorfahren immer ein wenig zuwider war und der sich nur darauf einließ, weil er meinte, im Namen der Vernunft sprechen zu müssen, nahm diesen Vorschlag Eugens dankbar an. Er wünschte sich manchmal, dass Eugen von dieser merkwürdigen Geschichtsphilosophie ablassen würde. Zusammen könnten sie dann daran gehen, die Geschichte vor dem Krieg sachlich zu diskutieren. Aber Eugen war und blieb ein Surrealist, eine Mischung aus klarem Verstand und verrückten Einfällen. Da musste man ja schon dankbar sein, wenn er wenigstens jetzt einmal die Augen nicht vor den dringenden Problemen verschloss. Jolanda war noch jung, aber Eugen hatte, auch wenn er selbst es am Nachmittag nicht hatte eingestehen wollen, trotzdem recht: Man musste sich rechtzeitig um einen Mann kümmern, der Jolanda angemessen war.
Anschließend redeten sie noch eine halbe Stunde lang darüber, was zu tun sei. Sie kamen überein, dass sie innerhalb von zwei Wochen eine Entscheidung suchen wollten. Auf welche Weise auch immer, Jolanda würde, wenn es soweit war, den schönsten Mann bekommen, den es in ganz Süddeutschland gab. Eugen wollte mit dem Funkgerät weiterhin herumhorchen, ob es noch andere junge Männer gab, die infrage kamen.
Die darauffolgenden Tage verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Manchmal gingen Eugen und Simon mit den anderen Mitgliedern der Gruppe in den Wald, um Nahrung zu sammeln. Meist aber blieben sie vor der Höhle sitzen und beratschlagten, was sie tun wollten. Nachdem eine Woche vergangen war, hatte Eugen noch immer keinen geeigneten anderen Kandidaten mit dem Funkgerät ausfindig machen können. Alles deutete darauf hin, dass der Mann, der südlich von Nürnberg lebte, der einzige war, der über alle äußerlichen Merkmale eines gesunden Mannes verfügte. Rudolf, Eugens Verbindungsmann, hatte nur Gutes berichtet. So lief alles auf die Frage hinaus, wie es gelingen könnte, den Mann zu Jolanda oder Jolanda zu dem jungen Mann zu bringen.
Wie dringend diese Aufgabe war, zeigte sich drei Tage später. Eugen und Simon waren mit in den Wald gegangen. Als sie am Vormittag plötzlich auf den Gedanken kamen, dass es möglich sein musste, aus einem der ausgebrannten Dörfer ringsum so viel Material zu beschaffen, dass ein Fahrzeug gebaut werden konnte, gingen sie zur Höhle zurück. Unterwegs kamen sie an einer kleinen Höhle vorbei, aus der sie deutlich eine klare, unverzerrte Frauenstimme hörten. Als sie der Stimme nachgingen und die Höhle betraten, sahen sie zuerst Jolanda. Sie war bis auf ein dünnes Hemd ganz nackt und kniete vor dem halb ausgezogenen Robert. Die Augen des Narren zuckten nervös hin und her, und aus seinem Mund floss der Speichel vor lauter Erregung. Ganz offenbar war es Jolanda, die die Initiative ergriffen hatte und sich bemühte, Robert begreiflich zu machen, was er als Nächstes zu tun hatte. Obwohl der Narr nichts anderes wünschte, als seine Gier an Jolanda zu befriedigen, war er offenbar unfähig, die einfachsten, instinkthaften Handlungen auszuführen.
Simon sah, dass Eugen alles richtig eingeschätzt hatte. Jolanda war kein Kind mehr. Sie hatte Wünsche. Sie wollte einen Mann und nahm, wenn es nicht anders ging, sogar mit den Narren vorlieb. Sie konnten nur hoffen, dass sie bisher bei solchen Versuchen noch keinen Erfolg gehabt hatte. Eine weitere Missgeburt hätte die Versorgungslage der Gruppe verschlechtert. Es ging ihnen schon schlecht genug, auch wenn dieser Sommer gut war. Vielleicht war der Darauffolgende so, dass sie nur von Wurzeln leben mussten. Vielleicht verhungerten sie alle.
Eugen sprang vor, sein kräftiger rechter Arm wurde lebendig, packte Robert und warf ihn zwei, drei Meter durch die Luft. Der Narr rollte über den Boden, blieb ängstlich zusammengekauert liegen und schlang die Arme um seinen Kopf, als wollte er Schläge abwehren. Jolanda starrte Simon an und sagte nichts.
»Komm mit«, röhrte Simon.
Er zog Jolanda hoch, und sie machten sich zu dritt auf den Weg zur Höhle. Der Narr, der es gewohnt war, den anderen zu folgen, lief in einiger Entfernung hinter ihnen her.
In den folgenden Tagen sorgte Eugen dafür, dass immer eine der Frauen aus der Gruppe ein Auge auf Jolanda hatte. Nach einer weiteren Woche kam eine der Frauen und meldete, dass Jolanda Menstruationsbeschwerden habe. Eugen erzählte Simon davon. Sie waren erleichtert. Jolanda war nicht schwanger.
Als sie tags darauf den Rat einberiefen, an dem alle Mitglieder der Gruppe teilnahmen, konnten sie konkrete Vorschläge machen. Überall in der Gruppe ruckten die Köpfe in schweigender Zustimmung, als Eugen sprach. Er sagte zuerst, dass Jolanda – ›die schöne Jolanda‹, wie er sie nannte – wohl nach allgemeiner Auffassung nur an einen Mann gegeben werden dürfe, der in gleicher Weise vollkommen sei wie Jolanda selbst. Auch die jungen Männer widersprachen nicht. Unter ihnen war keiner, der sich jemals Aussichten gemacht hatte. Sie alle waren hässlich und in vielfältiger Weise verkrüppelt. Bei dem einen war das Gesicht eine grotesk verzerrte Maske, bei einem anderen waren die Beine so weit verkürzt, dass er nur mit lächerlichen Trippelschrittchen gehen konnte. Einige waren wahrscheinlich ohnehin zeugungsunfähig. Alle vertrauten sie ihren Philosophen, die schon das Richtige für Jolanda tun würden.
»Wir haben nun in der Nähe von Nürnberg einen jungen Mann gefunden. Er soll sehr schön sein. Aber nach Nürnberg sind es über fünfzig Kilometer. Das ist das Problem. Überall die Strahlung, wie ihr wisst. Simon und ich machen jetzt den Vorschlag, Jolanda dennoch zu dem jungen Mann zu bringen. Wir glauben, dass das möglich ist.«
Eugen erklärte weiter, wie der Plan aussah, den er zusammen mit Simon ausgedacht hatte. Es gab weit und breit keine Fahrzeuge. Aber in der Nähe, in einem der Dörfer, wo die Strahlung noch nicht tödlich war, da müsste es Fahrräder geben. Er erklärte der Gruppe, was man unter einem Fahrrad zu verstehen hatte. Es gelang ihm nur unvollkommen. Er hatte auf seiner Reise nach Bamberg zwar eine Vielzahl von Fahrrädern gesehen, aber er wusste nicht, wie man auf den schmalen Rädern fahren sollte. Wenn er auch nicht zweifelte, dass das möglich war.
Es musste ihnen gelingen, ein Fahrrad zu holen. Und sie brauchten Teile von anderen Fahrrädern für den Fall, dass etwas repariert werden musste. Und Werkzeug natürlich. Dann aber, und das sei die eigentlich wichtige Sache, müssten sie noch einen Karren herstellen, den man hinter dem Fahrrad befestigen und so ziehen konnte. Auf dem Karren würden sie eine Kiste befestigen, und in dieser Kiste würde sich Jolanda während der Reise aufhalten.
Natürlich konnte das keine Kiste aus Holz sein. Die würde ja keinen Schutz vor der Strahlung bieten. Nein, es gab andere Materialien. Blei sei am besten, Blei schütze gut. Man werde es sicherlich in den Batterien der Autos, die in den Dörfern herumstanden, finden. In den Büchern, die er gelesen habe, stünde jedenfalls, dass in den Batterien Blei sei. Daraus müssten sie eine Kiste bauen. Jetzt sei Juni. Zwei Monate Zeit, dann könnte alles fertig sein. Wenn die Gruppe gemeinsam ans Werk gehe. Gemeinsam könnten sie es schaffen.
Nachdem Eugen geendet hatte, nahm Simon all seine Kraft und all seinen Atem zusammen, und entwarf keuchend und manchmal brüllend ein Zukunftsbild, durch das er die Angehörigen der Gruppe zusätzlich zu motivieren hoffte.
»Später, vielleicht nach fünfzehn Jahren schon, da kommt vielleicht einer zu uns. Er ist groß und schön. Er ist ein Mensch, wie es ihn nur vor dem Krieg gab. Viele von uns können das noch erleben. Ein Sohn von Jolanda! Er wird eine schöne Frau mitbringen. Zusammen werden sie weitere Kinder haben. Sie werden unsere Gruppe führen. Wenn wir uns also anstrengen, dann tun wir es für uns. Und wir tun es, damit die Menschheit überlebt.«
Eugen grinste breit und mit zuckenden Lippen. Simon konnte von seinen Träumen nicht lassen. Das belustigte ihn. Er sah das Unternehmen für eine interessante Sache an und für nichts sonst. Das Überleben der Menschheit war ihm egal. Die Sache brachte Abwechslung. Besonders für ihn selbst. Das war Rechtfertigung genug.
Ob Simons Appell es war, der die Gruppenmitglieder für die Reisevorbereitungen einnahm, oder ob sie deshalb arbeiteten, weil sie gewohnt waren, den Ideen ihrer beiden Philosophen zu folgen, das war nicht zu entscheiden. Sicher war nur, dass die ganze Gruppe zusätzliche Arbeit leistete. Sie vernachlässigte die Vorratsbeschaffung nicht. Außerdem aber trugen sie aus dem in der Nähe gelegenen Dorf alle Fahrräder zusammen, die sie fanden. Dazu kam, dass jemand in einem Haus, das am Weg stand, der hinunter ins alte Dorf führte, Zementsäcke entdeckte. Simon hatte diesem Mann einmal erzählt, dass man früher mit Zement Beton gemischt und Häuser gebaut hatte. Weil ein Haus für die Höhlenbewohner ein Kasten war und sie ja doch auch einen Kasten bauen wollten, erzählte der Mann Simon von seinem Fund. Simon, der niedergeschlagen war, lebte wieder auf. So konnte es vielleicht auch gehen.
Die Idee mit den Autobatterien war kein Fehlschlag gewesen, aber die ganze Sache war schwieriger als erwartet. Zwar standen in dem Dorf und auch auf der Straße dorthin verrostete Autowracks in großer Zahl, aber das Blei in ihren Batterien war bis auf Reste von der Säure zerstört. Es war mühsam und langwierig, so viel Blei zu sammeln, dass ein geeigneter Kasten gebaut werden konnte. Da kam der Zement gerade recht.
Nachdem die Rohmaterialien zusammengetragen waren, teilten Simon und Eugen die Gruppe in zwei Abteilungen. Die eine Abteilung, für die Simon zuständig war, beschäftigte sich mit der Konstruktion des Fahrrads und des Anhängerkarrens, die andere machte sich unter der Leitung Eugens daran, den Kasten zu bauen. Beide Werke waren schwierig, aber sie kamen doch stetig voran. Am einfachsten war die Zusammenstellung des Fahrrads. Weil der Gummi der Reifen spröde und brüchig geworden war, mussten sie nicht nur die besten Reifen heraussuchen, sondern auch dafür sorgen, dass eine gewisse Zahl von Ersatzreifen fertig auf die Felgen montiert zur Verfügung stand. Simon meinte, dass vier Ersatzreifen, je zwei für das Vorder- und zwei für das Hinterrad, genügen müssten.
Den Karren bauten sie aus den Teilen der übrigen Fahrräder. Er war dreirädrig, und das Vorderrad ließ sich so bewegen, dass der Karren immer der Laufrichtung des ziehenden Fahrrads folgen würde. Auf diese Konstruktion war Simon besonders stolz, weil nur sie es möglich machte, dass der schwere Kasten mit Jolanda transportiert werden konnte.
Der Kasten, den Eugens Abteilung baute, wurde aus Beton gemacht. Aus Brettern hatte Eugen einen großen und einen kleineren Holzkasten anfertigen lassen, die dann ineinander gestellt wurden, sodass der Zwischenraum mit dem Beton ausgegossen werden konnte. Das Ergebnis war eine unförmige, steinerne Kiste, die man dann noch mit einem nicht sehr dicken Mantel aus Blei umgab. Am Ende war die Kiste so schwer, dass sie nur von mehreren Männern gehoben werden konnte.
Das Gewicht des Kastens machte Simon skeptisch. Er war nicht sicher, ob der Karren genügend stabil und der Fahrer genügend kräftig sein würde, um Jolanda zu transportieren. Als er seine Bedenken Eugen mitteilte, grinste der und meinte, Simon müsse sich ja zumindest um die Kraft des Fahrers nicht allzu große Sorgen machen.
Als Fahrer des Gefährts war von Anfang an Eugen ausersehen. Er hatte sich freiwillig zur Verfügung gestellt und argumentiert, er habe die größte Erfahrung, was Reisen anbeträfe. Außerdem werde er nicht mehr lange leben. Sein Nutzen für die Gruppe sei also geringer als der Simons, der wegen seines Asthmas ja ohnehin nicht infrage käme.
Als in der Mitte des August die Arbeiten wider alles Erwarten vorzeitig abgeschlossen waren, musste Eugen erst einmal lernen, Fahrrad zu fahren. Er übte lange Zeit unter der Anteilnahme der ganzen Gruppe, die am Rande seiner Versuchsstrecke aufgereiht war. Eine von Grasbüscheln übersäte Straße, rechts und links die Mitglieder der Gruppe, auf der Straße Eugen, der erste kleine Anläufe nahm. Er machte Fortschritte, wobei das größte Problem blieb, dass sein linker Arm viel zu schwach für diese Fahrt war. Simon fand die Lösung. Er brachte an dem Fahrradlenker eine Stange an, auf deren Ende sich Eugen wie auf eine Krücke stützen konnte. Von da an war vieles einfacher, und Eugen machte zusehends Fortschritte.
Anfang September beherrschte Eugen das Fahrrad vollkommen. Auch die Fahrversuche mit dem Karren waren gut verlaufen. Dem Transport stand nichts mehr im Wege.
Eugen, der die Nürnberger Gruppe bereits in den vergangenen zwei Monaten von dem Fortgang der Arbeiten über Funk informiert hatte, meldete jetzt, dass alle Vorbereitungen zu einem guten Ende gebracht seien. Die anderen funkten zurück, dass sie alle, vor allem aber der junge Mann, für den Jolanda bestimmt sei, mit großer Spannung auf den Transport warteten.
Die Gruppe in der Höhle lebte in den letzten Tagen vor der Abreise in fiebriger Spannung. Sogar die Narren, die den Sinn des Treibens nicht verstehen konnten, liefen aufgeregter als sonst umher. Vorräte für Eugen und Jolanda wurden zusammengestellt. Eugen arbeitete zusammen mit Simon die endgültige Route aus, die Simon fahren sollte. An mehreren Punkten der Strecke wurden Ausweichstraßen für den Fall festgelegt, dass das Gebiet zu stark strahlte.
Dann, am 9. September, war es soweit. Die letzten Vorbereitungen waren abgeschlossen. Die Sonne schien und machte die mit dem Staub des Krieges immer noch angereicherte Atmosphäre wieder rötlich dunstig. Es war warm. Die ganze Gruppe begleitete Eugen und Jolanda zur Straße. Dort stieg Jolanda in den Kasten, der bis auf winzige, mit einfachen Filtern versehene Öffnungen verschlossen wurde. Eugen winkte noch einmal allen zu und gab Simon die Hand. Dann stieg er auf das Fahrrad, und das Gespann rollte zuerst langsam, dann schneller werdend die mäßig geneigte Straße hinab. Noch einmal hob Eugen mit einer altertümlich wirkenden, sportlichen Geste den linken, dürren Arm, ehe er hinter der Kurve verschwand …
Simon und Eugen hatten ausgerechnet, dass die Reise, wenn keine außergewöhnlichen Schwierigkeiten auftreten würden, ungefähr eine Woche dauern konnte. Dabei hatten sie berücksichtigt, dass Eugen häufig Straßen nehmen würde, die wie die blinden Gänge eines Labyrinths vor einer zerstörten Brücke oder einer zugeschütteten Stelle endeten. Obwohl also eine Woche vergehen musste, ging Simon doch am Abend zu dem Funkgerät und sprach mit der Nürnberger Gruppe in einer Weise, als könnte Eugen mit Jolanda schon eingetroffen sein. …
Ihm fehlte plötzlich die vertraute schrille Stimme. Wo war Eugen jetzt? Wo fand er eine ruhige Stelle für die Nacht? War er vielleicht trotz des bereitgehaltenen Geigerzählers schon in einen Bereich gekommen, in dem er vom Rad gestürzt war, weil sein Körper lautlos zerstört worden war?
In der Nacht träumte Simon, wie Eugen mit dem Fahrrad zwischen grünen Wiesen dahinfuhr. Die Sonne schien von einem blauen Himmel. Simon wunderte sich noch im Traum, denn in seinem ganzen Leben hatte er nie einen blauen Himmel gesehen. Der Himmel war rot. Wie oft hatte er mit Eugen darüber gesprochen, dass die Erde, wenn man sie von einem Satelliten aus noch einmal betrachten könnte, ein rötlich-gelber Planet wäre. Nicht mehr blau wie früher. Hier, in seinem Traum, fuhr Eugen in einen blauen Herbsttag. Und, was ebenso wunderlich war: Eugen, dessen Stimme doch in Wirklichkeit schrill und misstönend war, sang mit einer angenehmen Baritonstimme ein Lied, während er mit dem Fahrrad durch die Landschaft fuhr. Außerdem die Arme! Eugen hatte zwei gesunde Arme! Und ein Gesicht, das nicht mehr in spastische Zuckungen geriet, wenn er den Mund aufmachte. Ein ruhiges, schönes Gesicht hatte Eugen in dem Traum. …
Am Morgen, als Simon erwachte, sah er noch immer das Bild aus seinem Traum vor sich. Der Traum steigerte seine Unruhe, die ihn gleich nach dem Erwachen wieder befiel. Es war merkwürdig, an diesem zehnten September gab er den Sammlern, die am Morgen wie gewohnt in den Wald gingen, ganz allein die Anweisungen. Beim Frühstück konnte er sich mit Eugen nicht wie sonst über ein philosophisches oder historisches Thema streiten. Die Gruppe schien mit einem Male nur noch aus Narren zu bestehen.
Der erste Tag verging, und der zweite Tag verging. Simons Unruhe wuchs ebenso wie sein Gefühl der Einsamkeit. Wieder funkte er nach Nürnberg und ließ sich von Schilderungen der vorbereiteten Begrüßungsfeierlichkeiten ablenken. Und auch in den folgenden Nächten träumte er von Eugen.
Die Träume allerdings änderten sich. Einmal träumte er, dass Simon müde und unaufmerksam mitten hinein in ein Strahlenfeld gefahren war. Er hatte zu spät das Rattern des Geigerzählers bemerkt. Er stieg vom Rad. Schon wurde ihm übel. Nach einiger Zeit bildeten sich Blasen auf der Haut, und unter der Haut sammelte sich Wasser, das den Körper Eugens bald unförmig werden ließ. Am Ende platzten alle diese Blasen gleichzeitig auf, und Simon sah, wie Eugen, der tapfere Eugen, dampfend auf den Asphalt floss und in den Rissen der alten Fahrbahn versickerte.
Er erwachte darauf und spürte eine schreckliche Atemnot, röchelte, stöhnte, weckte damit einige der Schlafenden, die ihn stützten, sodass er aufstehen und ein paar Schritte gehen konnte. Auf diese Weise wurde zwar sein Atem rasch wieder ruhiger, aber die ganze Nacht über und auch am folgenden Morgen verließ ihn eine quälende, nervöse Angst nicht mehr. Sie nistete sich in seinem Kopf fest, bedrohte ihn mit neuen Träumen, denen er ganz und gar hilflos ausgeliefert war.
Noch mindestens drei Tage. Drei volle Tage – und Nächte! –, in denen die Ungewissheit schlimmer war als jede schlechte Nachricht. Unbemerkt wuchs der Hass auf Jolanda in Simon. Als er ihn plötzlich bemerkte, war es zu spät. Er giftete innerlich gegen ihre Schönheit, die ihn und Eugen zu dieser verrückten Unternehmung verleitet hatte, und sagte immer wieder zu sich, dass Eugen tausendmal mehr wert war als diese geile Jolanda. Eugen, ein philosophischer Mensch, dazu mutig, o ja, über alle Maßen mutig. Ein wenig exzentrisch, nun, das schon, aber auch ein anregender Gesprächspartner. Dagegen dieses Mädchen. Sie hatte alle körperlichen Vorzüge der Menschen vor dem Krieg, aber sie hatte keinen Verstand und, was noch viel schlimmer war, sie hatte kein Gefühl für das Denken. Für so ein Wesen, für solch eine leere Hülle riskierte Eugen sein Leben. Welch ein Wahnsinn!
Frühestens in zwei Tagen werden sie ankommen, sagt sich Simon und sucht sich selbst zu beruhigen. Frühestens in zwei Tagen. Doch dann, Simon ist an diesem Nachmittag zufällig in der Höhle, piepst das Funkgerät. Simon kann die Nachricht zuerst kaum glauben, und die anderen wiederholen sie daraufhin: Sie sind gerade angekommen. Alles ist in Ordnung. Eugen und Jolanda sind wohlauf.
Dann ist Eugen selbst am Mikrofon: »Hallo, Simon!« Das vertraute Kreischen, es ist kein Zweifel mehr möglich. »Es war alles ganz leicht. Ich habe fast keine Strahlung abbekommen. Vielleicht war es Glück. Jedenfalls führten alle Straßen durch schwach kontaminiertes Gebiet. Nur unwesentlich mehr als zu Hause in der Höhle.«
»Du bist ganz gesund?«, dröhnt Simons Stimme gerührt.
»Soweit man bei mir noch davon sprechen kann«, kreischt Eugen ironisch zurück. »Ich bin natürlich müde. Aber sonst fühle ich mich nicht schlechter als vor der Reise.«
Eugen muss aufhören zu sprechen, die Batterien sind sonst zu schnell erschöpft. Am Abend will er noch einmal anrufen und eingehender berichten. Außerdem – er deutet es geheimnisvoll an – hat er noch ›einen Plan‹.
Der Plan ist verrückt, aber beim zweiten Hinsehen kann Simon nichts mehr entdecken, was der Verwirklichung im Wege stünde. Eugen hat vorgeschlagen, die ganze Gruppe, soweit sie noch Rad fahren könne, solle die restlichen Räder, die bei der Reparaturaktion übrig geblieben sind, instand setzen. Der Weg sei erkundet. Alle könnten innerhalb von zwei Tagen nach Nürnberg fahren. Beide Gruppen zusammen könnten dann die Hochzeit von Jolanda feiern.